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Wie vom September 1939 erzählen?

Diese Frage stellen wir uns jedes Jahr erneut. Obwohl der Ausbruch des Zweiten Weltkriegs schon Jahrzehnte zurückliegt und der 100. Jahrestag nicht mehr lange auf sich warten lässt, ist die Antwort immer noch offen. In den letzten Tagen bin ich verschiedentlich um eine Stellungnahme dazu gebeten worden. Der Anlass ist zum einen natürlich der 81. Jahrestag, zum andern aber auch die Diskussion um das sogenannte „Polendenkmal“, das im Zentrum von Berlin an die von Deutschen im Zweiten Weltkrieg an Polen begangenen Verbrechen erinnern soll. Die Schwierigkeiten, dieses Vorhaben umzusetzen, ließen in den letzten Jahren die Frage aufkommen, wie es mit dem Wissen über und dem Umgang mit dem September 1939 und dem Zweiten Weltkrieg in Deutschland bestellt ist. Obwohl man in Polen schnell bereit ist, unserem westlichen Nachbarn diesbezüglich Versäumnisse vorzuwerfen, sieht die Realität doch so aus: Wer sich für Geschichte interessiert, greift ohne weiteres auch zu seriösen Publikationen oder schaut sich gute Dokumentarfilme an. Es gibt jetzt einen neuen, sehenswerten Film zu diesem Thema.

Jahrestagsrituale

Manche Medien und Kommentatoren in Polen schwören uns darauf ein, uns über das historische Wissen der Deutschen und ihre Erinnerungspolitik im Hinblick auf Polen zu beklagen. Durch diesen Diskurs zieht sich als roter Faden die Behauptung, den Deutschen mangele es an Kenntnissen wie auch an der nötigen Sensibilität. Ist diese Auffassung jedoch gerechtfertigt und spiegelt sie die Realität in Deutschland wider?

Meinem Eindruck nach ist so manchem dieser polnischen Kommentatoren nur an deutschen Versäumnissen, Fehlern und Wissenslücken gelegen. Um zu einer ausgewogeneren Auffassung zu kommen und dem Lesepublikum einen weiteren Kontext des Themas zu vermitteln, müsste man aber erst einmal das heutige Deutschland besser kennenlernen und sich richtig in seine Probleme vertiefen, um über die üblichen, oberflächlichen Einsichten hinauszugelangen, die (leider zu oft) das Ergebnis von Internetrecherchen sind.

Ein Blick auf diese voreilig verfassten Texte – schnell dahingeschrieben hinsichtlich ihrer Materialgrundlage ebenso wie ihrer vorschnellen Meinungsäußerungen – lässt an die Auffassung zu Deutschland denken, wie sie damals in den 1950er Jahren in der Wochenzeitschrift „Po prostu“ (Einfach gesagt) zu finden waren. Die Journalisten Jerzy Ambroziewicz und Edmund Gonczarski fassten in dem Artikel „Polen – BRD“ das Geschreibsel ihrer deutschlandpolitischen Fachkollegen so zusammen: „Wollten wir es unternehmen, uns ein Bild von Westdeutschland zu machen, auf der Grundlage dessen, was in jüngster Zeit über dieses Land geschrieben wurde, dann sähe dies folgendermaßen aus: In den Kellern sitzen beim traditionellen Bier die Revanchisten mit dem Hakenkreuz auf der Armbinde. Ringsum Ruinen. Hinter den Ruinen die mächtigen Rüstungswerke von Krupp. Vor den Toren der Stadt marschieren Einheiten der Wehrmacht.“

Was stattdessen?

Natürlich haben sich die Zeiten geändert, auch das deutsch-polnische Verhältnis hat einen tiefen Umbruch durchgemacht. Der von einigen heute leider gar nicht wertgeschätzt wird. Denn ist etwa das Echo jener hartnäckigen Klischees heute nicht mehr in der Tagespublizistik zu finden? Mich überrascht das nicht. Welchen konstruktiven Gegenvorschlag machen wir aber, um an dem Unwissen der Deutschen etwas zu ändern, wo wir dieses schon einmal diagnostiziert haben und über das wir uns so aufregen? Noch mehr Trickfilme? Historisches Reenactment?

Noch Anfang der 1990er Jahre hat es vielversprechende Ansätze eines vertieften historischen Diskurses gegeben, doch das fehlt heute völlig, was sich alsbald rächen wird. Wir werden zu einem europäischen Freilichtmuseum, das die eigene Geschichte nicht kritisch zu hinterfragen in der Lage ist. Und die Leistungen sind zwar nicht zu widerlegen, aber sie müssen in einen breiteren Kontext eingebettet werden.

Beim Blick auf die gegenwärtigen Diskurse in Europa, in denen trotz allem der kritische Ansatz der Regelfall ist, könnte man den Eindruck gewinnen, in Polen befinde sich die öffentliche Debatte auf dem Rückzug.

„Ganz normale Männer“?

Die Filmemacher Alexander Hogh und Jean-Christoph Caron haben jetzt einen interessanten neuen Dokumentarfilm über den September 1939 vorgestellt. In Kooperation mit den zwei großen Fernsehsendern Phoenix und Arte drehten sie „Polen 39. Wie deutsche Soldaten zu Mördern wurden“. Ersichtlich haben sie viel Energie in diesen Film investiert.

Der Film bedient sich einer den Zuschauer ansprechenden Kombination aus Auszügen aus alten Filmen, Illustrationen á la Comicroman des deutsch-iranischen Trickfilmmachers Ali Soozandeh, heutigen Ansichten von historischen Orten des Kriegsausbruchs und Interviews mit Zeitzeugen und Wissenschaftlern aus Polen und Deutschland.

Es war eine ausgezeichnete Idee, einen Sozialpsychologen einzubeziehen. Der Ansatz der Autoren ist sehr breit. Sie interessieren sich nicht nur für die Ereignisse, sondern suchen auch nach einer Antwort auf die Frage, wie „ganz normale Männer“ sich in kürzester Zeit in Kriegsverbrecher verwandeln konnten.

Der Film stellt die Biographien dreier dieser „ganz normalen Männer“ vor, die Briefe oder Erinnerungen aus der Zeit ihres Kriegseinsatzes in Polen hinterlassen haben. Dies sind Feldwebel Walter K., 27, aus Oberfranken; Feldwebel Wilhelm Hosenfeld, 44, aus der Nähe von Fulda; schließlich SS-Mann Erich Ehlers, 27, aus Kiel. Diese drei Biographien bilden die Folie, um herauszuarbeiten, wie die Männer den Krieg und den „Feind“ wahrnahmen, wie sie die Verbrechen deuteten, die bereits im Herbst 1939 geschahen. Der Film fragt auch danach, ob und wie sie während der Kampfhandlungen und der gleichzeitigen Verbrechen ihre Haltung zu NS-Deutschland änderten, das nun erstmals als kriegführende Macht in Erscheinung trat.

Die Filmemacher fragen auch danach, welche Möglichkeiten und Grenzen es gab, gegen die von Wehrmacht und Einsatzgruppen der SS verübten Verbrechen einzuschreiten. Der Film zeigt die wenigen Beispiele für Mitgefühl und Hilfe für die angegriffenen Polen, die beweisen, das andere Verhaltensweisen möglich waren. Besonders interessant finde ich den Aspekt der sexuellen Gewalt deutscher Soldaten gegen Polinnen, ein Thema, das im Zusammenhang mit dem Überfall auf Polen im September 1939 wohl noch nicht behandelt wurde.

Geteilte Erinnerung

Hogh und Carons Film dürfte bar jeder Diskussion auch für das polnische Publikum interessant sein. Er zeigt, wie sich mit großer Empathie über ein belastendes historisches Thema erzählen lässt. Indem der Film die Aufmerksamkeit der persönlichen Geschichte der „ganz normalen Männer“ zuwendet, hebt er besonders die Komplexität des Krieges und der Dilemmata hervor, mit denen die einfachen Soldaten konfrontiert waren. Der Film vermittelt dem Zuschauer die Einsicht, dass dies ein Krieg neuer Art war, ein Angriff auf den polnischen Staat wie auf seine Bevölkerung.

Die Verbrechen an der Zivilbevölkerung, die Zerstörung von Warschau und Dutzenden weiterer Städte zeigen eindrucksvoll den Schrecken und die Zerstörungen des Kriegs; diese erste Etappe des Zweiten Weltkriegs und seiner Verbrechen wurde, wie die Filmemacher sehr klar herausstellen, nach dem Krieg in Deutschland, in der Bundesrepublik wie der DDR, völlig dem Vergessen anheimgegeben.

Dennoch bleibt nach dem Film ein gewisses Ungenügen. Ich frage mich, ob das Absicht ist oder auf ein allgemeineres Problem zurückzuführen ist. Die Autoren vergessen nämlich völlig den zweiten Aggressor, die UdSSR. Der Film übergeht den Ribbentrop-Molotow-Pakt und seine Folgen, ohne die sich kaum wahrheitsgemäß der Weg in den Krieg und sein Verlauf im Herbst 1939 darstellen lassen. Die im Film zu sehenden Karten zeigen ausschließlich die deutschen Operationen.

Ich rechne es dem Film negativ an, sich mit diesem Aspekt nicht auseinandergesetzt zu haben. Meiner Meinung nach sollte dieser künftig auch in Deutschland wie in der deutsch-polnischen Debatte stärker thematisiert werden.

 

Aus dem Polnischen von Andreas R. Hofmann

Krzysztof Ruchniewicz

Krzysztof Ruchniewicz

Historiker, Professor an der Universität Wrocław und Direktor des dortigen Willy-Brandt-Zentrums für Deutschland- und Europastudien.

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