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„Teile und herrsche“ als Machtstrategie auf der annektierten Krim

Nach der Krim-Annexion 2014 haben die westlichen Länder Russland mit wirtschaftlichen und politischen Sanktionen belegt, und internationale Institutionen, wie die UNO und die Europäische Union, fordern in zahlreichen Erklärungen von Moskau, die territoriale Integrität der Ukraine in ihren Grenzen von 1991 zu respektieren. Doch der im Donbass anhaltende bewaffnete Konflikt, in dem der Kreml die von ihm inspirierte Separatisten-Bewegung unterstützt und sie mit Waffen beliefert, hat natürlich die Aufmerksamkeit von Kiew und der Welt von der Besetzung der Halbinsel abgelenkt.

Unterdessen setzt Russland eine Reihe von Projekten um, die die Perspektive auf eine eventuelle unblutige Reintegration dieser Region in die Ukraine in weitere Ferne rücken lässt. Zu den wichtigsten Problemen gehören die anhaltende Militarisierung und die gesellschaftlich-wirtschaftliche Integration der Krim. Laut Angaben von ukrainischer Seite hat Russland dort über 35.000 Soldaten und über tausend bewaffnete Einheiten stationiert (Krym.Realii, 2.1.2020), darunter Kriegsschiffe, Panzer und Artillerie. Der Prozess wird begleitet von der aktiven Modernisierung der Schwarzmeerflotte, die schon vor der Annexion in Sewastopol stationiert war und zur Propaganda gegen die NATO eingesetzt wurde. Nach 2014 hat der Kreml die ukrainische Infrastruktur für die Förderung von Bodenschätzen auf den Festlandsockeln des Asowschen und des Schwarzen Meeres besetzt und greift seitdem straffrei ukrainische Passagierschiffe an, die unter der Krim-Brücke hindurch in die Hafen von Berdjansk und Mariupol einfahren, oder veranlasst sie umzukehren.

Der Aufbau einer russischen militärisch-wirtschaftlichen Hegemonie im Schwarzmeergewässer war eines von Moskaus strategischen politischen Zielen. Das zweite war, die Kontrolle über den Informationssektor zu übernehmen. Im ersten Jahr der Besatzung hat das russische Parlament ein Gesetz verabschiedet, das alle Massenmedien auf der Krim dazu verpflichtet, sich neu registrieren zu lassen. Von über dreitausend bis dahin funktionierenden Medien haben lediglich etwa zwanzig ihre Lizenz erneuert. Unter unklaren Vorwänden wurde dem krimtatarischen Fernsehsender ATR die Registrierung verweigert und die Redaktion musste nach Kiew umziehen. Die russischen Behörden begannen damit, ukrainische Internetseiten zu blockieren und unabhängige Journalisten zu unterdrücken, wie beispielsweise Mykola Semena. Heute ist der Medien- und Informationsbereich der Halbinsel Krim gänzlich unter Kontrolle des Kremls, hinzu kommt der erschwerte telefonische Kontakt (teures Roaming, das Signal ukrainischer Handyanbieter und Radiosender wird gestört). Gleichzeitig geht die Eliminierung von gesellschaftlichen und religiösen Aktivisten weiter: Innerhalb von sechs Jahren sind über 130 politische Häftlinge für angeblichen Extremismus mit langen Gefängnisstrafen in russischen Gefängnissen gelandet (Апостров, 27.8.2020).

Die Szene der Deportation der Krimtataren im Jahr 1944 aus dem Film „Haytarma“ von Akhtem Seitablaiev – Szene am Bahnhof

Sechs Jahre nach der Annexion hat Moskau zehntausende Bewohner verschiedener Landesteile auf die Krim umgesiedelt und einen Bevölkerungsrückgang der Krimtataren provoziert, und damit die Genfer Konvention verletzt. Der Bevölkerungsrückgang geht zweigleisig vonstatten: In der Angst vor Repressionen oder auf der Suche nach der Freiheit sind über 20.000 Tataren (8–10 Prozent der Bevölkerung) auf das ukrainische Festland ausgereist. Auf der Krim angesiedelt haben sich hingegen dank der Unterstützung von Regierungsprogrammen zwischen hunderttausend (Daten der UNO) und über zweihunderttausend (ukrainische Quellen) Neuankömmlinge aus Zentralrussland. Laut einem Verzeichnis von 2014 stellen die Krimtataren ein Zehntel der über zwei Millionen umfassenden Bevölkerung des sogenannten Föderationskreises Krim (die Republik Krim und Sewastopol), allerdings gibt es begründete Befürchtungen, dass die neuen Siedler in diese Daten absichtlich nicht einbezogen wurden. Sie geben auch nicht die Menge der existenziellen Bedrohungen wieder, die dem Volk der Krimtataren wegen der Besatzung der Halbinsel bevorstehen.

Kollaborateure und Verräter: Das Bild der Krimtataren in der russischen Propaganda

Die ethnischen Beziehungen auf der Krim waren immer angespannt, die Hauptachse des Konfliktes verlief zwischen der russischen Mehrheit (60 Prozent der Bevölkerung in der Autonomen Republik Krim) und der Minderheit der Krimtataren (13 Prozent). Die tatsächliche Macht in der Region übten prorussische Kräfte aus – und Kiew lies es zu. Das war ein Kompromiss, ausgearbeitet Ende der neunziger Jahre von Kiew und den regionalen Eliten, wobei die Stimme der Tataren vernachlässigt wurde.

Die Versuche, politischen Einfluss zu gewinnen, die die Aktivisten des Medschlis, der informellen Repräsentativkörperschaft der Krimtataren, unternahmen, wurden von lokalen Machthabern torpediert. Diese spielten dabei gern die Vorurteile gegen die muslimischen Tataren aus, die der lokalen slawischen Bevölkerung seit den stalinistischen Deportationen eingeimpft werden. Gemeint sind die Ereignisse im Jahr 1944, als die Krimtataren der Kollaboration mit den Nationalsozialisten im Zweiten Weltkrieg beschuldigt und sie kraft eines Dekretes von Stalin ins Landesinnere der UdSSR umgesiedelt wurden (in dienstlichen Notizen gaben Funktionäre des NKWD die Zahl von 20.000 tatarischen Kollaborateuren an).

Von den über 200.000 Krimtartaren wurde keiner verschont. Der Befehl wurde innerhalb weniger Tage ausgeführt und danach wurde die Autonome Sozialistische Sowjetrepublik der Krim aufgelöst, die quasi die tatarische Selbstregierung unter bolschewistischer Herrschaft war. Darüber hinaus änderten die Behörden Straßen- und Ortsnamen und rissen Dutzende Moscheen ab, womit sie das mehrere Jahrhunderte alte Erbe des Khanats der Krim zerstörten. Die bolschewistische Propaganda verbreitete die Information, dass die dem Islam angehörigen Tataren, Hitlers Verbündete, brutale Morde an tausenden sowjetischen Partisanen verübt hätten. In die verlassenen Dörfer und Städtchen wurden mehrere zehntausend Kolchosbauern aus Russland und der Ukraine umgesiedelt.

Die Rückkehr der Tataren zu der Geschichte ihrer Heimat wurde erst in der Perestrojka-Zeit möglich, als die Sowjetunion vor ihrem Untergang stand. Im Zuge des Tauwetters wurde ein Dekret verabschiedet, das die Deportationen als auf falschen Voraussetzungen basierend verurteilte, und nach der teilweisen Öffnung der sowjetischen Archive entstanden mehrere historische Arbeiten, die die bolschewistische Lüge von der Massenkollaboration der Tataren mit den Nazis dementierten.

Trotzdem funktioniert das Bild von den Tataren als „Kollaborateure“ und „Vaterlandsverräter“, angereichert mit fremdenfeindlicher Abneigung gegenüber den Andersgläubigen, den Muslimen, weiterhin im Bewusstsein vieler Russen. Es ist heute also nicht verwunderlich, dass die Öffentlichkeit auf der Krim auf die Verletzung von Menschenrechten und auf die Verfolgung religiöser praktizierender Tataren, zu denen es aufgrund dieser erdachten Vorwürfe kommt, nicht reagiert. Zieht man in Betracht, dass der Kreml Beobachtungsmissionen der OSZE und der EU nicht auf die Krim lässt, sind Posts in den sozialen Medien die Hauptwissensquellen über die Verfolgung der muslimischen Gemeinschaft auf der Halbinsel. Eine Seltenheit sind autorisierte Interviews mit Menschenrechtsschützern oder Aktivisten von Orten des Geschehens, für diese drohen nämlich Verhaftung, hohe Geldstrafen und sogar Gefängnis.

Einen empfänglichen Boden für die Erneuerung alter Vorurteile mit ethnischem und religiösem Hintergrund hat der „Krim-Frühling“ bereitet – eine russische Militäroperation, mit der die Krim 2014 besetzt wurde. Für ihre Loyalität gegenüber der Ukraine und die Demonstrationen gegen die russische Besatzung erhielten die Tataren das Brandmal „Verräter“. Nach der Annexion der Halbinsel wurden in lokalen sozialen Medien falsche Informationen über angebliche Deportationspläne der Krimtataren wegen ihrer antirussischen Haltung verbreitet. Es ist vorgekommen, dass ein Russe zu seinem tatarischen Nachbarn ging und vorab dessen Haus für sich reservierte für den Fall, dass die Gerüchte sich als wahr erweisen. In einem Dorf beklagten sich die Einwohner, dass auf ihren Straßen mit Knüppeln bewaffnete Männerbanden unterwegs seien, die Listen der Bewohner bei sich hätten und die Häuser der Tataren markieren würden (Радио АЗАТТЫК, 10.3.2014). Zu solchen Vorfällen kam es auf der ganzen Krim viele Male, aber die Behörden hatten es nicht eilig damit, die Falschinformation zu dementieren. Deshalb wuchsen in den ersten Monaten nach der Annexion unter den Krimtataren die Angst und die Unsicherheit im Hinblick auf die Zukunft, und sie wurden bald zu einem Gefühl der Ohnmacht.

Ohnmacht als Machtwerkzeug

Die Krimtataren sind die einzige ethnische Gruppe auf der Halbinsel, die sich 2014 offen der Annexion widersetzte. Deshalb ist das strategische Ziel des Kremls eine langfristige Eliminierung dieser Gemeinschaft mittels bewährter Techniken. Eine von ihnen ist die Taktik Teile und herrsche, doch zunächst säte man bei den Tataren das Gefühl der Ratlosigkeit angesichts der Besatzung. Nach der Annexion wurde dem geistigen Leader des Volkes, dem international bekannten Dissidenten und ehemaligen Häftling russischer Zwangsarbeitslager, Mustafa Dschemiljew, die Einreise auf die Krim verboten. Dann bekam Refat Tschubarow, Vorsitzender des Krimtatarischen Medschlis, Einreiseverbot. Kurz darauf wurde auch der Medschlis verboten, wodurch die Krimtataren die Institutionen, von denen sie vertreten werden, verloren haben.

Anfangs versuchte der Kreml, auf der Krim eine alternative Struktur zu schaffen, doch er gab diese Pläne schnell auf zugunsten einer Versprenkelungsstrategie. Die Hauptidee dabei bestand darin, eine Reihe marginaler gesellschaftlicher Organisationen ins Leben zu rufen, die untereinander um die Gunst des Kremls rivalisieren und beim Großteil der Landsleute nicht auf Sympathie stoßen würden, so wie der Medschlis. Moskau setzt darauf, dass die Bindung der Krimtataren an ihre traditionellen Vertreterinstitutionen mit der Zeit nachlässt, und die beiden größten Anführer der nationalen Bewegung von den Landsleuten auf der Krim nicht mehr gehört werden. Dann würden sich die Tataren nach und nach mit der Annexion abfinden und ihre Kinder Jahre später mit russischen Diplomen und russischer Weltansicht nicht zu neuen Dissidenten nachwachsen.

Schon heute lassen sich die ersten Ergebnisse dieser neuen Strategie beobachten. In Internetforen engagieren sich viele Tataren in – oft von außen inspirierten – hitzigen Diskussionen zum Thema Mischehen, über die Emigration ihrer Landsleute aus der Krim und über Streitigkeiten zum Recht der „Diaspora“ auf „Belehrung“ derjenigen, die nicht ausgereist sind. Als das Ausmaß der Umzüge von Tataren in die kontinentale Ukraine offensichtlich wurde, initiierten örtliche Aktivisten und Künstler die Aktion „Bleib auf der Krim“ (krimtatarisch: Qırımda Yaşa), eine Serie kultureller Ereignisse mit patriotischer Aussage. Entgegen der edlen Absichten der Organisatoren, spaltete die Initiative die tatarische Gemeinschaft in zwei Lager: in Gegner und Anhänger der Emigration. Beispiele von tatarisch-ukrainischen Ehen, die immer häufiger geschlossen werden, je stärker sich die Krimtataren in Großstadtzentren der Ukraine ansiedeln, lassen die Debatten über die Zukunft des Volkes hochkochen. Doch die fortschreitende kulturelle und sprachliche Assimilation, die eine Folge dessen ist, dass tatarische Klassen geschlossen werden und in den Schulen eine postsowjetische, russlandzentrierte historische Narration verbreitet wird („ein russischen Volk“, die Glorifizierung der UdSSR), trägt dazu bei, dass die Zahl von Mischehen auch auf der von Russland kontrollierten Halbinsel steigt.

Die nicht enden wollenden Diskussionen in krimtatarischen Internetforen, hervorgerufen durch die Angst um die Erhaltung der kulturellen Identität, machen die gefährlichen Risse im Fundament der Einheit des Volkes deutlich. Mit der Zeit wird es immer schwieriger werden, sie zu einem Ganzen zusammenzuflicken.

 

Aaus dem Polnischen von Antje Ritter-Miller

Nedim Useinow

Nedim Useinow

Nedim Useinow ist Mitglied des Koordinationsrates des Weltkongresses der Krimtataren in Polen. Er studierte Politologie an der Universität Danzig. Seit 2003 arbeitet er im Nichtregierungssektor in Polen und der Ukraine.

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