Arkadiusz Szczepański: Herr von Lucke, wir wollen heute über zwei große Themenbereiche sprechen: Deutschland und Europa. Doch beginnen wir mit Berlin. Sie kamen 1989 als 22-jähriger nach Westberlin, just in jenem Umbruchsjahr, das in die Geschichte eingehen sollte – und leben seitdem in der Hauptstadt. Wie haben Sie den Mauerfall erlebt?
Albrecht von Lucke: Ich hatte Ende der 80er Jahre mein Jurastudium in Würzburg aufgenommen und erhielt nach den kleinen Scheinen, gewissermaßen der juristischen Zwischenprüfung, ein Erasmus-Stipendium – es sollte gen Westen nach Caen in die Normandie gehen. Ich entschied mich aber für den Osten und kam so zum Wintersemester 1989 nach Westberlin. Ich war schon damals durchaus politisch interessiert, wurde aber wie alle von den damaligen Ereignissen regelrecht überrollt. Am 9. November war ich im Hebbel-Theater, bei einer Theateraufführung zum Gedenken an die Pogromnacht vor 61 Jahren. Ich ging um 18 Uhr herein und als ich gegen 22 Uhr wieder herauskam, war die Mauer gefallen und die Welt eine völlig andere geworden. Die Berliner liefen auf die andere Seite – und zwar in beide Richtungen –, die Angst war plötzlich weg. Ich aber war noch sehr stark vom Kalten Krieg geprägt, hatte den Schießbefehl im Kopf und bin zwar noch auf die Mauer geklettert, aber in dieser Nacht nicht mehr in den Osten gesprungen – angesichts der Vopos, die am Brandenburger Tor bereits wieder ihre Position bezogen hatten.
30 Jahre später erleben wir in Berlins Zentrum wieder Massendemonstrationen – aber dazu kommen wir gleich. Vor der COVID-19-Pandemie schienen die regierenden Koalitionsparteien von einem Umfragetief zum anderen zu schreiten. Nun erleben wir, dass die CDU den Abwärtstrend gestoppt hat und ihre Werte wieder steigen. Die Zustimmung zum Kurs der Regierung wird von einer großen gesellschaftlichen Mehrheit getragen. Wie ist das zu erklären?
In den vergangenen Monaten erfolgte das, was klassischerweise als die Stunde der Exekutive bezeichnet wird. Wenn eine Regierung in einer Krisensituation die Kontrolle behält und Maßnahmen umsetzt, die erfolgreich zur Bewältigung einer Krise beitragen, so stellt sich die Gesellschaft in aller Regel hinter diese Regierung. Allerdings, und das sehen wir dieser Tage, muss das nicht unbedingt von Dauer sein.
Deutschland hat zu Beginn der Pandemie im Vergleich zu seinen westlichen und südlichen Nachbarn einen relativ guten Eindruck gemacht – obschon auch die deutsche Regierung zuvor jahrelang keine wirklich präventiven Maßnahmen in die Wege geleitet hatte, etwa hinsichtlich des Einkaufs von Atemschutzmasken oder der Schaffung von Quarantänebetten in Krankenhäusern. Insgesamt kommt Deutschland jedoch weit besser durch diese Krise als viele andere Staaten. Das ist eine Ressource, von der die Regierung bis heute zehrt – und durch die sie erheblich an Stärke gewonnen hat.
Denn machen wir uns noch einmal klar, wie das Jahr 2020 vor der Pandemie aussah: Die Regierungsparteien steckten in einem Umfragetief, die CDU-Parteivorsitzende Annegret Kramp-Karrenbauer musste sogar zurücktreten, weil sie durch den Eklat in Thüringen einen heftigen Schlag vor den Bug bekommen hat. Die Vorstellung, dass dort ein Politiker einer 5-Prozent-Partei, der FDP-Politiker Kemmerich, mit den Stimmen von CDU und der rechtsradikalen AfD zum Ministerpräsidenten gewählt wurde, obwohl die CDU-Parteivorsitzende sich klar dagegen aussprach, war ein in der deutschen Nachkriegspolitik nie dagewesener Tabubruch. Die Pandemie hat die Erinnerung daran quasi weggewischt. Auch die seit 2015 andauernde Kritik an der Flüchtlingspolitik der Kanzlerin steht nicht mehr derart stark im Vordergrund wie vor der Pandemie. In der gegenwärtigen Situation erleben wir eine Flucht der Bevölkerung zu den Regierenden. Klare Verlierer sind dabei die populistischen Kräfte, denn in Krisenzeiten wollen sich die Menschen keine Spielereien mit jenen erlauben, die noch nie selbst in politischer Verantwortung standen. Die Vorstellung, dass die Herren Höcke oder Gauland das Krisenmanagement der Republik mitgestalten könnten, scheint für die meisten doch sehr abschreckend zu sein.
Man könnte spitzzüngig behaupten, die deutsche Gesellschaft zeichnet sich durch Loyalität gegenüber ihren politischen Anführern, durch Selbstdisziplin aus…
Es ist doch ein interessantes Phänomen, dass wir im Falle der Mehrheit der Gesellschaft von so etwas wie „zivilem Gehorsam“ sprechen können, wie es der „Welt“-Journalist Jacques Schuster nennt. Das ist natürlich ein Paradoxon, denn Gehorsam ist bekanntlich eine autoritäre Haltung mit militärischer Konnotation, kann also nie zivil im engeren Sinne sein. Doch in diesem Fall kommt in gewisser Weise eine ganz andere deutsche Tradition zum Tragen, als es die Stereotype über Deutschland als dem klassischen Obrigkeitsstaat meinen. Die Reaktion der deutschen Bevölkerung auf die pandemiebedingten Maßnahmen hat nichts mit der Tradition der deutschen „Untertanenmentalität“ gemein. Im Gegenteil: Die Zustimmung zur Regierung basiert auf Einsicht in die Notwendigkeit – und damit auf Freiwilligkeit. Aus meiner Sicht verhielt sich die deutsche Gesellschaft durchaus in der Tradition der Aufklärung: Es war eine Reaktion reifer und mündiger Bürger, die begriffen haben, dass unsere Regierung im Augenblick der Krise vernünftig, angemessen und wirkungsvoll handelt. Hinzu kommt: Diese Regierung agiert alles andere als autoritär, sondern mit Appellen an die Bevölkerung. Das hat allen voran die Kanzlerin von Beginn an sehr gut kommuniziert: Wir können die Kontrolle über die Entwicklung der Pandemie behalten, aber ohne freiwillige Befolgung der Verordnungen zur Eindämmung der Pandemie werden wir scheitern.
Die Regierung hat also wirksam gehandelt und die Kontrolle behalten, im Gegenzug reagiert die Gesellschaft vernünftig. Hat die Regierung eine Lehre aus der Migrationskrise von 2015 gezogen, als es zum großen Kontrollverlust kam?
Die Bundeskanzlerin hat sich diesmal in der Tat ganz anders verhalten als während der Migrationskrise. In erster Linie ließ sie sich nicht von Emotionen leiten, sondern von der Ratio, von Vernunft, sprich: Sie appellierte an den Selbstschutz der Menschen. Anders als 2015 hat sie sehr früh offensiv Aufklärungsarbeit geleistet, hat sie sich mit ihrer ersten außerplanmäßigen Fernsehansprache direkt an die Bevölkerung gewandt. Zuvor wurde die Pandemie nicht überall mit nötigem Ernst wahrgenommen, denken wir nur an die vielen Partys, die in städtischen Parkanlagen trotz Restriktionen organisiert wurden. Doch als die Kanzlerin ihre Ansprache zur Lage der Nation hielt, änderte sich die Lage. Merkel sprach nicht vom Ausnahmezustand – das ist ganz wichtig –, sie verzichtete auf eine martialische Rhetorik, anders als etwa der französische Präsident, der wiederholt vom Krieg gegen das Virus sprach. Merkel bat die Bevölkerung, im aufgeklärten Eigeninteresse zu handeln, um sich und andere zu schützen. Alles Autoritäre ging ihr ab, im Gegenteil: Sie hat die Bevölkerung förmlich angefleht, vernünftig zu handeln. Vielen wurde erst dadurch richtig bewusst, vor welch ernster Herausforderung wir standen.
Und doch erleben wir zunehmenden Widerstand. Der erfolgte „Sturm auf den Reichstag“ war sicherlich der Höhepunkt bisheriger Demonstrationen gegen die staatlichen Maßnahmen zur Eindämmung der COVID-19-Pandemie. Es heißt, die Demonstranten seien eine bunte Mischung aus verschiedenen Milieus gewesen: von Reichsbürgern, Esoterikern, bis hin Anhängern obskurer Verschwörungstheorien. Wie würden Sie diese Mischung einordnen? Mit was für einem Phänomen haben wir es zu tun? Und: Ist der Widerstand nicht auch Ausdruck eines demokratischen Selbstverständnisses?
Selbstverständlich ist es ein gutes Bürgerrecht, gegen jede Vorgehensweise der Exekutive zu demonstrieren. Zumal die Maßnahmen zur Pandemieeindämmung die Gesellschaft unterschiedlich stark getroffen haben und so auch notgedrungen eine Spaltung nach sich zogen. Während einige den Lock-Down relativ gelassen überstanden haben, unter anderem deshalb, weil sie in einem festen Arbeitsverhältnis stehen, haben andere ihre Arbeit verloren. Speziell Selbständige in diversen Branchen mussten schmerzhafte Einbußen verzeichnen und kämpfen um ihre berufliche Existenz. Es war auch eine schwierige Zeit für Eltern, die zu Hause arbeiten und sich gleichzeitig um ihre Kinder kümmern mussten. All das hat sicherlich dazu beigetragen, dass sich ein starker Widerstand entwickeln konnte.
Doch im Falle der großen Kundgebung vor dem Reichstag, die dann zu besagtem „Sturm“ führte, der aber lediglich ein Erklimmen der Reichstagstreppen war, hatten wir es mit einer ganz anderen Personengruppe zu tun. Was wir sahen, waren Menschen aus einem Milieu, die der Bundesrepublik an sich ihre Legitimität absprechen, wie etwa die sog. Reichsbürger, Impfgegner, Esoteriker und Anhänger von kruden Theorien jeglicher Couleur. In den Anti-Corona-Maßnahmen der Regierung sehen sie ihre Grundthese plötzlich bestätigt: Die politische Elite verfolge einen Plan zur Abschaffung von Freiheit und Demokratie und sei ohnehin nur Marionette einer globalen Finanzelite, bis hin zu Bill Gates. Interessant ist, dass gerade im südwestdeutschen Raum esoterisch-anarchistische, mit Naturverbundenheit gepaarte Ideen starken Zulauf haben – das erinnert an eine etwas vergessene Episode der deutschen Geschichte, die in Gestalt der sogenannten Inflationsheiligen, esoterisch-religiösen Wanderpredigern, nach dem Ersten Weltkrieg gerade im Südwesten Deutschlands entstand.
All das könnte man mit einem Kopfschütteln abtun, derlei Strömungen hat es immer gegeben und wird es geben. Doch einige Aspekte dieses Widerstands sind neu. Einerseits haben wir es bei Covid-19 mit dem klassischen Präventionsparadoxon zu tun, d.h. die Anti-Corona-Maßnahmen werden gerade deshalb von Bürgern angezweifelt, weil sie medizinisch erfolgreich waren und der Bevölkerung insgesamt zugutegekommen sind. Das ruft Zweifel und letztlich auch Widerstand gerade bei jenen hervor, deren persönliche Lage sich vielleicht verschlechtert hat. Andererseits können wir beobachten, wie sich diese sehr heterogenen Gruppen, die zum Teil mit Politik nicht viel gemein hatten, nun in Windeseile politisieren oder genauer: radikalisieren. Kritik an der Exekutive gepaart mit einer antiautoritären Grundhaltung – übrigens ein Phänomen, was man auch aus der 68er-Bewegung kennt – wird so zu einem verbindenden Element.
Also verschiedene Strömungen, vereint in ihrem Protest gegen die Regierung, die sich nun politisieren. Wie reagiert die Politik darauf?
Die etablierten Parteien waren zu Recht empört und entsetzt, dass im Jahr 2020 Menschenmassen mit Reichskriegsfahnen vor dem Reichstag posierten. Doch wenn die SPD-Co-Chefin Saskia Esken diese Menschen als „Covidioten“ diffamiert, so ist das nicht sehr klug. Denn das schweißt die Gegner nur weiter zusammen.
Wie schon erwähnt, konnten wir seit Ausbruch der Pandemie beobachten, wie sich die Mehrheit wieder um die Regierung geschart hat. Ganz klarer Verlierer der letzten Monate war hingegen die AfD, weil ihr Kernthema, die Flüchtlingspolitik, in den Hintergrund gerückt ist. Und nun können wir beobachten, wie die AfD diese protestierende Masse als neue Klientel für sich entdeckt. Es gibt nämlich in der Tat diverse Schnittmengen. Die AfD ist als liberale Anti-Euro-Partei entstanden – das war die Partei ihres wichtigsten Gründers, Bernd Lucke –, sie hat sich dann zunehmend zur radikalen Anti-System-Partei entwickelt. Sie suchte den Schulterschluss mit der PEGIDA, ist gegen die Aufnahme von Migranten und die Klimapolitik der Bundesregierung. Zu Beginn der Pandemie wusste die AfD noch nicht, wie sie sich positionieren sollte, sie bewegte sich im Schlingerkurs. Nun aber hat sie erkannt, dass es eine Bewegung gibt, an die sie politisch andocken könnte.
Dies birgt aber hohe Risiken für die Partei, die ohnehin gespalten ist. Einerseits ist die AfD versucht, die „Corona-Gegner“ als potentielle Wählerschaft zu gewinnen. Auf der anderen Seite erfährt die AfD einen hohen Zuspruch gerade unter älteren Menschen, die aber natürlich zur Risikogruppe gehören und sicherlich nicht gegen die Eindämmungsmaßnahmen sind. Welchen Kurs die Partei in dieser Frage also auch verfolgt, sie droht in jedem Fall einen Teil ihrer Wählerschaft zu verlieren.
Aufgeklärtes Verständnis der gesellschaftlichen Mehrheit für die verordneten Beschränkungen und Ungehorsam aufseiten von Nationalisten, die die Kaiserreichsflagge schwingen. Letztere sind aber nicht erst durch Corona in ihrer Masse entstanden – welche Entwicklung liegt der wachsenden, antistaatlichen Gesinnung zugrunde? Welche Symbolik entsteht, wenn wir Bilder des Reichstags sehen, vor dem die schwarz-weiß-roten Fahnen, gepaart mit der schwarz-rot-goldenen, US-amerikanischen, russischen und anderen wehen?
Das bunte Fahnenmeer ist ein Spiegelbild der diversen Strömungen, die sich um einen einzigen gemeinsamen Nenner versammeln. Und dieser ist gerade nicht, wie im Falle der AfD oder von Pegida die Sehnsucht nach dem starken Staat, sondern gerade ein anti-etatistischer, ja sogar ein antiautoritärer. Doch denken wir das einmal weiter. Bei den Protesten gegen die Pandemie-Maßnahmen vor dem Reichstag waren nationalistische Strömungen mit den besagten Reichs- und sogar Reichskriegsflaggen prominent zugegen. Ihre Vertreter, insbesondere die sogenannten Reichsbürger, beziehen sich gerne auf Artikel 20 Absatz 4 des Grundgesetzes und rufen zum Widerstand auf – weil sie die Bundesrepublik als solche ablehnen, ihre Existenz für illegitim erklären. Diese Gruppierungen existieren bereits seit Jahren. Nun aber erhalten sie durch die Proteste eine enorme mediale Aufmerksamkeit und ziehen andere Strömungen an, die sich ihrerseits sehr schnell radikalisieren.
Diese antirepublikanische Grundstimmung hat sich in jüngster Vergangenheit vor allem bei den Pegida-Demonstrationen und ihren bundesweiten Ablegern manifestiert. Fast befremdlicher, und zumal ärgerlicher als die schwarz-weiß-roten Fahnen finde ich jedoch die Tatsache, dass bei all diesen Manifestationen auch die schwarz-rot-goldene Flagge geschwungen wird. Denn mit diesen Farben ist auf Engste die freiheitlich-demokratische deutsche Tradition verbunden – von 1848 über 1919 und 1949 bis 1990. Und es ist schon ein trauriger Anblick, wenn diese Farben ausgerechnet von jenen vereinnahmt werden, die eigentlich einer ganz anderen Tradition folgen und die freiheitliche Demokratie radikal ablehnen. Dahinter steckt aber auch ein Versagen der demokratischen Kräfte, die es in den vergangenen 30 Jahren seit der Wiedervereinigung versäumt haben, einen gesunden, eben auch mit der bundesdeutschen Fahne verbundenen republikanischen Patriotismus zu fördern. Mehr noch: Gerade das linke politische Spektrum hat in jüngster Vergangenheit dazu beigetragen, eine fatale und falsche Assoziation herzustellen, nämlich die Bundesfahne als Ausdruck von Nationalismus zu begreifen.
Der Hauptgrund dafür, dass all jene antidemokratischen Gruppen gewachsen sind, allen voran die AfD, bleibt jedoch das Jahr 2015. Während der Flüchtlingskrise kam es zu gravierenden Fehlleistungen der Regierung. Vor allem schaukelten sich das viel zu lange Schweigen der Kanzlerin und der anhaltende Protest des damaligen CSU-Chefs immer weiter hoch. Indem Horst Seehofer sogar von einer „Herrschaft des Unrechts“ der eigenen Regierung sprach, spielte er der AfD direkt in die Hände. Zudem entstand zeitweilig der Eindruck der absoluten Einhelligkeit zwischen der Politik der Kanzlerin und den führenden Medien; dadurch und gegen die vermeintliche „Alternativlosigkeit“ formierte sich eine Gegenöffentlichkeit, die seitdem stark an Einfluss gewonnen hat. Diese wachsende alternative Gegenöffentlichkeit, insbesondere im digitalen Raum, muss nicht zwingend rechtsradikal sein; jedoch befeuert sie mit ihrer Fundamentalkritik an Regierung, Politik und Medien eben auch rechtsradikale Gruppen.
In der innerdeutschen Debatte um den Rechtsruck weiter gesellschaftlicher Teile taucht immer wieder der Vorwurf auf, die Leitmedien und das politische Establishment würden rechtsextremistische Straftaten übermäßig in den Fokus stellen, während man die linksextremistischen herunterspielt. Entspricht das den Tatsachen? Sind solche Vergleiche überhaupt berechtigt?
Wir müssen uns zunächst einmal bewusst machen, dass die Entstehung der Bundesrepublik auf das Engste mit dem Antikommunismus verknüpft ist. Das Ganze bundesrepublikanische Modell war von Adenauer an durch die Einbettung Westdeutschlands in den Kalten Krieg logischerweise antikommunistisch grundiert. Der ideologische und politische Kampf gegen den Kommunismus ging nach 1945 vom NS-Deutschland in die bundesrepublikanische Gesellschaft fast nahtlos über. Aus diesem Grund war es auch für viele ehemalige Anhänger des Nationalsozialismus einfach, in dem neuen System aufzugehen. Sie sind ja nicht über Nacht zu lupenreinen Demokraten geworden. Der Antikommunismus war somit für viele ein Anknüpfungspunkt, um sich an Seite der Amerikaner für die Bundesrepublik einzusetzen. Die Nazis wurden mitgenommen und in das demokratische System eingebunden. Von dieser ideologischen Quelle hatte anfangs die CDU sehr stark profitiert. Und das hielt lange an. Der später eingesetzte linksextremistische Terror der RAF hatte die Bonner Republik bis in die 1990er Jahre beschäftigt und den Antikommunismus gesellschaftlich untermauert. Rechten Extremismus hat es auch gegeben, nur wurde er in Zeiten des Kalten Krieges in der Öffentlichkeit marginal wahrgenommen.
Mit dem Ende des Kalten Krieges lebte der Antikommunismus weiter. Die CDU hatte nach der Wiedervereinigung über Jahre hinweg stets wiederholt – einige bis heute –, linker und rechter Terror müssen gleichermaßen bekämpft werden. Nur wurde nicht wahrgenommen, dass rechte Gewalt seit 1990 extremere Züge angenommen und hunderte von Menschenleben gekostet hat, während es keine Toten durch linke Gewalt gab. Das soll nicht bedeuten, dass wir keine linksextremen Straftaten in Deutschland haben. Die gibt es, dagegen muss der Rechtsstaat vorgehen und auch die Politik sollte sich stärker von der linken Szene – etwa in Leipzig – distanzieren. Nur sind die Proportionen, die Qualität der rechten und linken Straftaten sehr unterschiedlich, weshalb die Kritik, der Staat sei auf dem linken Auge blind, gegenstandslos ist.
Resümierend lässt sich also sagen, dass die Bundesrepublik im Inneren von zunehmend rechten Tendenzen bedroht wird und noch nach Wegen suchen muss, wie sie diese eindämmt. In Ihrem Artikel „Die verunglückte Demokratie“ äußerten sie die Sorge, dass die liberale Demokratie in Deutschland scheitern könnte, nicht nur aufgrund innerer Faktoren, sondern auch äußerer. Sehen Sie Ihre Thesen bestätigt? Wie verhält es sich mit den – abgesehen von der Pandemie – äußeren Faktoren?
Ich denke, es ist heute noch viel dramatischer, als ich es 2019 formuliert habe. Der Aufstieg der Bundesrepublik zu einer führenden Wirtschaftsmacht und zum integralen Bestandteil des Westens war durch eine geopolitische Konstellation bedingt, die diese Entwicklung garantierte – nämlich durch die ideologische Bipolarität und die Entstehung des „Westens“ nach 1945. Die Bundesrepublik wurde in diese Konstellation hineingestellt, aber war nicht selbst Gestalter oder Garant ihres Bestehens. Vielmehr stellten die USA als Weltmacht nach 1945 die Weichen für den kapitalistischen Westen; und nach dem Ende der bipolaren Weltordnung 1989 hat sich ihr Modell global durchgesetzt.
Deutschland profitierte ungemein von dieser Entwicklung und vor diesem Hintergrund muss man auch die erfolgreiche Etablierung der liberalen, repräsentativen Demokratie in unserer Gesellschaft betrachten – bekanntlich erst im zweiten Anlauf, nach dem Scheitern der Weimarer Republik. Doch zunehmend – und keineswegs erst seit Donald Trump – bricht die USA als ordnender Faktor des Weltgeschehens weg, wir erleben einen Rückzug der einstigen Hegemonial- und deutschen Schutzmacht aus der Weltpolitik und allein auf die eigenen Interessen. Unter Donald Trump konzentrierten sich die USA noch stärker auf sich selbst; zudem haben sie nicht erst seit Corona – aber dadurch noch einmal verstärkt – mit massiven innenpolitischen Problemen zu kämpfen. „America first“ bedeutet daher auch, dass der sogenannte Westen, der Verbund von demokratischen, liberalen und auf Rechtsstaatlichkeit fußenden Gesellschaften, für seinen Anführer und Beschützer – die USA – sekundär wird. Wer aber, so lautet die Frage, kann das Vakuum in der Außen- und Sicherheitspolitik füllen, wenn die USA sich weiter zurückziehen?
Ein weiterer äußerer Faktor, der für die Stabilität der Demokratie in Deutschland in den letzten Jahrzehnten entscheidend war, ist und bleibt natürlich die Europäische Union. Sie steckt jedoch derzeit in einer solchen Sackgasse, dass ausgesprochen fraglich ist, ob sie da so schnell wieder herauskommt. Wir erleben nicht nur durch den Brexit, den Austritt Großbritanniens, eine gravierende Schwächung der EU, sondern vor allem auch im Innern, weil es offenbar ganz gegensätzliche Vorstellungen von der Zukunft der Gemeinschaft gibt. Die EU zeichnete sich zwar nie durch absolute Einhelligkeit seiner Mitgliedsstaaten aus, aber derartige Differenzen bei der Auffassung der europäischen Integration, der Demokratie und Rechtsstaatlichkeit, wie wir sie derzeit erleben, sind ein Novum in der noch jungen Geschichte der EU.
Sie meinen sicherlich den langwährenden politischen und medialen Streit zwischen EU und seinen beiden „Abtrünnigen“, Polen und Ungarn. Ich habe das Gefühl, dass sich die EU verrannt hat. Versuche, die Ungarn und Polen bei ihrem Staatsumbau aufzuhalten, sind augenscheinlich gescheitert. Auch werden Drohungen, etwa der Entzug von EU-Geldern, von Polen und Ungarn nicht ernst genommen. Die EU entpuppt sich als zahnloser Tiger. Es wird immer viel von Werten gesprochen, und doch legt sie ein jeder selbst für sich aus. Worin liegt nun aber der Grundfehler in der EU-Matrix? Warum ist das Zusammenwachsen Europas nach 1989 aus heutiger Sicht nicht die Erfolgsgeschichte, die sie hätte sein sollen?
Als Victor Orbán vor einigen Jahren sagte, nach 1989 hätten die Mitteleuropäer geglaubt, dass Europa deren Zukunft sei, heute aber wüssten sie, dass sie selbst mit ihrem weit nationaleren Kurs die Zukunft Europas seien, sorgte diese Äußerung noch für Empörung. Doch er hat in fataler Weise Recht behalten. Heute spielt die Visegrád-Gruppe uns, d.h. dem alten Kern der EU, die Melodie vor. Als die ehemaligen sozialistischen Länder nach der Überwindung des Kommunismus den Weg in Richtung EU und NATO einschlugen, herrschte eine euphorische, aber vielleicht auch etwas naive Stimmung im Westen. Niemand kam auf den Gedanken, dass die ärmeren Brüder aus dem Osten eines Tages vielleicht auch eigene, ganz anders gelagerte Aspirationen entwickeln würden. Nachdem der Prozess der Anbindung an den Westen erfolgt war, haben sich die neuen Mitgliedsstaaten recht schnell emanzipiert. Das hängt eng mit der Wirtschaft zusammen. Lange Zeit war der alte EU-Kern davon überzeugt, Investitionen, Handel und EU-Gelder würden für die neuen Mitglieder einen derartigen Reiz ausüben, dass sie bei politischen Entscheidungen, wenn auch manchmal zähneknirschend, stets diesem Kern Folge leisten würden. Ein fataler Trugschluss, wie wir heute wissen. Heute blockieren insbesondere Ungarn und Polen mit Hilfe des Mehrheitsprinzips jede Auflage zur Einhaltung des Rechtsstaatsprinzips.
Außerdem haben unsere östlichen Nachbarn schnell gemerkt, dass der Kern Europas, allen voran Deutschland, eigentlich in wirtschaftliche Abhängigkeit von ihnen geraten ist. Jegliche Sanktionsandrohung aufgrund der Missachtung der Rechtstaatlichkeit in Ungarn und Polen wäre auch ein Schlag gegen die deutsche Exportwirtschaft. Und jenseits der EU-Debatten rund um die europäischen Werte dreht sich doch fast alles um die Wirtschaft: Orbáns autoritärer Staatsumbau wird schon weit länger und konsequenter als in Polen umgesetzt, dennoch kann er sich nicht über eine Flucht deutscher Investoren beklagen.
Ein weiterer entscheidender Aspekt ist die massive Dissonanz zwischen Ost und West bei der Bewertung des Umbruchsjahres 1989. Der Westen hat nicht verstanden, dass unsere östlichen Nachbarn nicht nur dem Ostblock entfliehen, sondern ihre nationale Souveränität wiedererlangen wollten. War es nicht doch etwas naiv zu glauben, dass die Ostmitteleuropäer sich ganz reibungslos erneut in eine supranationale Organisation eingliedern würden – obwohl sie gerade aus einem supranationalen Block, dem Warschauer Pakt, im Falle der baltischen Staaten sogar aus der UdSSR selbst ausgebrochen waren? Die große EU-Erweiterung wurde jedenfalls als Selbstläufer angesehen, als zwangsläufiger Weg, an dessen Ende sich die tragische europäische Spaltungs- und Bekämpfungs-Geschichte schließen würde. Übersehen wurde jedoch, dass sich die äußeren Parameter ändern könnten – sprich: die globale Lage, die nach 1989 von einem immensen wirtschaftlichen Wachstumsglauben geprägt war. Im Zuge der vielen Krisen – dem 11. September 2001, der Weltwirtschaftskrise 2008, der Migrationskrise 2015 und dem wachsende Bewusstsein um den globalen Klimawandel – wurde jedoch immer klarer, dass es bei der Bewältigung der Probleme höchst unterschiedliche, zum Teil sogar radikal gegensätzliche Vorstellungen in den Regierungen der EU-Mitgliedsländer gibt. Und auch die einzelnen Gesellschaften bewerten diese Krisen anders. Es gab und gibt hierüber keinen europäischen Konsens.
Das alles gilt auch übrigens für den Osten Deutschlands. In dessen Fall haben wir es mit einer doppelten Integration in den Westen zu tun – in die Bundesrepublik und in die westlichen Strukturen. Für alle Ostdeutschen bedeutete das einen ungeheuren Wandel der Lebenswelt. Es ist insofern geradezu symptomatisch, dass ausgerechnet dort die populistischen Kräfte von links und rechts derart stark sind. Die populistische Entwicklung in Ostdeutschland ähnelt stark der der ehemals kommunistischen Staaten, wo links- und rechtspopulistische Strömungen großen Zulauf haben und zum Teil sogar die Regierungsmehrheit stellen – und zwar immer im Protest gegen „Brüssel“, sprich: die EU. Alles ganz nach dem Motto: Wir haben uns eben erst von einem Zwangsregime befreit und werden uns nun doch nicht einem neuen unterwerfen.
Wenn wir die Entfremdung zwischen den Staaten in der EU betrachten, so würde ich sagen, steht Deutschland oftmals im Zentrum des Geschehens und dient vielen Ländern Europas als Projektionsfläche für diverse Schuldzuweisungen. Deutschland werden im EU-Ausland Alleingänge in wichtigen, die EU betreffenden Fragen vorgeworfen. Ich nenne einmal die wichtigsten: den Pipelinebau mit Russland durch die Ostsee – ein Schlag gegen die östlichen Nachbarn –, die Forcierung der Austeritätspolitik in der Eurokrise, die den Süden der EU am härtesten traf, und schließlich die Migrationspolitik von 2015 und die Idee der Umverteilung, die gescheitert ist. Sind es nicht gerade diese Konfliktpunkte, die maßgeblich zur Spaltung Europas beigetragen haben?
Der Versuch einer Umverteilung von Migranten, wie es der deutschen Regierung vorschwebte, war in der Tat ein Desaster. Man kann anderen Ländern nicht diktieren, wie sie zu entscheiden haben – ansonsten wird man nationalpopulistischen Widerstand hervorrufen. Doch dieser Eindruck von der deutschen Vorgehensweise ist geblieben, übrigens auch im Fall der Austeritätspolitik gegenüber Griechenland. Im Falle Ungarns und Polens hat die Bundeskanzlerin mit ihrer Migrationspolitik – und dem Versuch, die Nachbarn bei der Aufnahme von Flüchtlingen in die Pflicht zu nehmen – indirekt dazu beigetragen, dass gerade die nationalistischen, antideutschen Kräfte an Zustimmung gewonnen haben. Allerdings darf man sich bei dieser Debatte nicht nur auf Polen und Ungarn fokussieren, denn auch in Österreich, Dänemark, Italien und anderswo haben populistische Politiker mit ihrer Anti-Merkel-Rhetorik viele Stimmen gewonnen – von Großbritannien und dem Brexit ganz zu schweigen.
Was die deutschen Alleingänge betrifft, so ist der damit verbundene Vorwurf stets derselbe – dass Deutschland sich über die Köpfe der anderen hinwegsetzt und nur auf seine Vorteile bedacht ist. Das trifft aber im Falle der Migrationskrise gerade nicht zu. 2015 handelte die Bundesregierung aus einem moralischen Impuls, es waren keine deutschen Interessen im Spiel. Deutschland hat damals unter menschenrechtlichen Vorzeichen eine großartige Leistung vollbracht. Merkels Satz „Wir schaffen das“ zeugte davon, dass sie der deutschen Gesellschaft zutraute, eine Herausforderung zu bewältigen, die dieser einiges abverlangen würde. Sie hat sich aber nicht nur hinsichtlich der nationalen Geschlossenheit, sondern auch hinsichtlich der europäischen Solidarität verschätzt. Und das Tragische ist, dass diese moralische Entscheidung von 2015 nolens volens die reaktionären Kräfte in Europa, aber auch und vor allem in Deutschland selbst, enorm gestärkt hat.
Im Endeffekt hat dies zur Spaltung der deutschen Gesellschaft und der EU geführt, das muss man schon so deutlich sagen. Insofern war dieser Alleingang unter politischen Vorzeichen eine Fehlkalkulation, da hätte es mehr Abstimmung bedurft – im Inneren wie im Äußeren, insbesondere in der Europäischen Union. Viel spricht dafür, dass Helmut Kohl in einer solchen Lage taktisch klüger vorgegangen wäre und das Gespräch vor allem mit den kleineren EU-Staaten früher gesucht hätte. Aber eines gilt es auch zu bedenken, dass es nämlich kaum Zeit für Gespräche gab, die Menschen saßen 2015, von Orbán im Stich gelassen, in Budapest fest und machten sich über die Autobahn auf den Weg nach Deutschland, das ließ sich schwer auf die Schnelle gesamteuropäisch koordinieren.
Eine bessere Absprache wäre möglich gewesen, denn vor 2015 haben insbesondere Griechenland und Italien immer wieder darauf gedrängt, neue Lösungen für die Migrationskrise zu erarbeiten. Die Bundesregierung beharrte aber immer wieder auf die geltenden Regelungen (Dublin II) und hat den Dialog nicht gesucht. Aber kommen wir zu den anderen angesprochenen Punkten. Die Frage nach den Gaspipelines in der Ostsee. Gegen den Protest der östlichen Nachbarn verfolgt Deutschland dieses Projekt und hatte bis vor kurzem immer wieder deklariert, es handle sich um ein rein wirtschaftliches Interesse. Untergräbt das nicht den Solidaritätsgedanken der EU?
Es steht außer Frage, dass diese deutsch-russische Kooperation auch eine geopolitische Dimension hat und ganz klar die Interessen der Polen, Balten und Ukrainer berührt, ja sogar ein Stück weit missachtet. Es ist natürlich nicht nur ein wirtschaftliches Projekt, sondern auch ein hoch politisches, das wird jetzt – interessanterweise erst nach dem Mordanschlag auf Alexey Nawalny – auch von deutscher Seite nicht mehr dementiert. Gerade in Polen hat das Pipeline-Projekt antideutsche Ressentiments geschürt, was das Lager um Jarosław Kaczyński auch immer wieder gekonnt genutzt hat, um Wähler für sich zu gewinnen. Das war und ist ein Fehler der deutschen Regierung. Hier wären Absprachen mit Polen und der Ukraine wünschenswert gewesen und hätten auch der deutschen Außenpolitik gutgetan. Nicht zuletzt wird die Debatte um Nord Stream II zunehmend auch vor dem Hintergrund des Umweltschutzes ausgetragen. Und natürlich hat vor allem die Causa Nawalny die Stimmung im Lande kippen lassen, gegen die deutsch-russische Wirtschaftskooperation, und so das ganze Projekt noch einmal infrage stellt.
Aber ich will ein anderes Beispiel nennen, das zeigt, dass derartige Interessenkonflikte zwischen Ost- und West-Europa nicht nur auf deutsche Alleingänge zurückgeführt werden können. Verlassen wir diese Einbahnstraße und erinnern wir uns an den Irakkrieg von 2003. Es war schon damals offensichtlich, dass Amerikaner und Briten damals absurde Gründe anführten, um einen Krieg loszutreten – ohne UN-Mandat und gegen die Mehrheit im UN-Sicherheitsrat. Und ich erinnere mich nicht daran, dass etwa Polen oder Ungarn seither nennenswerter Kritik ausgesetzt wären, weil sie sich damals der „Koalition der Willigen“ bereitwillig anschlossen. Die dem Irak-Krieg folgende Zerstörung des Nahen Ostens geschah unter Oberbefehl der Amerikaner, aber eben auch unter Beteiligung sämtlicher osteuropäischer Staaten – mit all den verheerenden Kriegsfolgen, von Irak bis Syrien, mit Millionen von Flüchtlingen. Wo bleiben hier die kritischen Stimmen? Können wir Selbstkritik auf polnischer Seite verzeichnen, wenn wir nur an die CIA-Foltergefängnisse in Polen denken? Wir wissen mittlerweile viel darüber, aber Polen ist hierbei meines Erachtens sehr glimpflich davongekommen, was die öffentliche, EU-weite Kritik betrifft. Von der Verantwortung für die immensen Flüchtlingsströme ganz zu schweigen.
In dem Verhältnis zur US-amerikanischen Außenpolitik sehe ich daher ein viel größeres Spaltungspotential für die Europäer. Denn mit der Kategorisierung in sogenannte neue und alte Europäer, die 2003 ihren Ausgang nahm, haben die USA Europa nachhaltig gespalten.
Nichtsdestotrotz steht in allen wichtigen europäischen Fragen Deutschland im Fokus, ob es das will oder nicht. Deutschland wird in vielen EU-Staaten einerseits gerne zum Sündenbock für alle möglichen Übel stilisiert, andererseits blicken aber viele zu Deutschland auf, adaptieren hier erprobte Lösungen. Wie steht es um die deutsche Eigenwahrnehmung? Muss Deutschland mehr Verantwortung in der EU übernehmen, kann und will es das?
Deutschlands altes Problem seit der Reichseinigung im Januar 1871 liegt bekanntlich darin, dass es stärker als jeder seiner Nachbarn ist, aber schwächer als diese in der Summe. Oder anders ausgedrückt: Zu schwach, um Europas Hegemonialmacht zu sein, aber doch zu stark, um sich einfach unterzuordnen und nicht doch zu dominieren. Das ist heute nicht viel anders als früher, doch nach 1945 war neu, dass diese nun west-deutsche Stärke Teil eines gemeinschaftlichen Gefüges, der EU, ist. Die Devise lautete: Deutschland nutzt seine Position nicht aus, um seine Nachbarn zu schwächen.
In gewisser Hinsicht befinden wir uns derzeit in einer Situation, in der sich das Kräfteverhältnis in der EU nach 1989/90 und der Ost- und den sonstigen Erweiterungen massiv verschoben hat. Das deutsch-französische Tandem, der vielgerühmte Motor Europas, funktionierte lange Zeit ganz gut und hat die Integration vorangebracht. Dieses Modell war erfolgreich, weil beide Länder über ähnliches wirtschaftliches und politisches Potential verfügten. Nach 1989 hat sich das Kräfteverhältnis jedoch stärker zugunsten Deutschlands verschoben. Nicht nur in demographischer Hinsicht war Deutschland gewachsen, vor allem aber auch in wirtschaftlicher.
Diese Machtverschiebung hat natürlich erhebliche, und keineswegs nur positive Auswirkungen auf die EU. Eines der traurigsten Kapitel der EU-Geschichte ist in diesem Zusammenhang das offenkundige Scheitern der Idee des Weimarer Dreiecks. Die trilaterale Zusammenarbeit zwischen Deutschland, Frankreich und Polen sollte nach 1989 zum neuen Motor der sich damals anbahnenden EU-Erweiterung entwickeln. Mit Polen als stärksten Partner im Osten der EU sollte die Integrationsidee durch dieses Dreiergespann neuen Esprit erhalten. Diese Zusammenarbeit hat die deklarative Ebene aber nie wirklich verlassen. Als die EU schließlich von mehreren Krisen heimgesucht wurde, geriet das Weimarer Dreieck in Vergessenheit, weil einerseits zur Lösung der Probleme vorhandene Institutionen zum Zuge kommen mussten, andererseits aber auch schlicht der politische Wille an einer Aktivierung des trilateralen Formats fehlte.
In gewisser Weise ist Deutschland in der EU in eine Führungsrolle geraten, die es nie angestrebt hat. Deutschland hat daher Frankreich noch immer gerne an seiner Seite, wenn es um politische Entscheidungen für die EU geht, ist aber doch in fast allen Fällen die entscheidende Kraft – von der Griechenland- bis zur Flüchtlingskraft und dem Deal mit der Türkei.
Diese Führungsrolle trat insbesondere während der Eurokrise zutage. Deutschland traf damals harte Entscheidungen, die aus Sicht der damaligen deutschen Regierung notwendig waren, aber auch erheblichen Schaden in der Wahrnehmung Deutschlands in der EU verursachten. Die Einführung des Euro hatte Deutschland einen unglaublichen wirtschaftlichen Aufschwung beschert, mit einem günstigen Euro, der die eigenen Waren faktisch billiger machte, konnte der Exportweltmeister enorme Erlöse erzielen – während die anderen, ökonomisch schwächeren Staaten ihre Waren nicht länger durch Abwertung der eigenen Währung billiger und damit attraktiver machen konnten. Diese Abhängigkeit der Staaten, die eine gemeinsame Währung nun einmal mit sich bringt, wollte man in Deutschland nicht ganz wahrnehmen. Andernfalls hätte man für einen ausgeglichenen Haushalt sorgen und weit mehr ausländische, europäische Waren oder Dienstleistungen importieren müssen.
Die Rettung des Euro war insofern nicht zuletzt auch die Rettung der deutschen Wirtschaft, insbesondere seiner Banken, die Griechenland bereitwillig mit Krediten versorgt hatten. Die von Berlin verordnete Sparpolitik, die für den Süden der EU, insbesondere für Griechenland, enorm schmerzhaft war, hat das Bild Deutschlands nachhaltig beschädigt. Alte Stereotype kamen wieder auf, etwa dass Deutschland als Zuchtmeister Europas nun allen seinen preußisch-asketischen Lebensstil aufdrücken wolle.
Doch so sehr Deutschland in der EU – zumal nach dem Austritt Großbritanniens – wirtschaftlich eine Macht ist, ist es doch bei weitem kein Hegemon. Für eine dominante Führungsrolle wäre neben der Wirtschaft eine aktivere Außen- und Sicherheitspolitik notwendig, doch davon kann keine Rede sein. Für jene Länder im östlichen Teil der EU, die sich beispielsweise durch den russischen Neoimperialismus bedroht fühlen, ist Deutschland sicherlich keine militärische Schutzoption. Deshalb blicken die Balten und Polen in dieser Frage lieber weiter nach Amerika.
Wenn man auf den aktuellen Zustand der EU blickt, befinden wir uns angesichts der parallel verlaufenden Krisen in einer Sackgasse. Haben wir nicht einen Punkt erreicht, wo es einer neuen Vision bedarf? Wie könnte diese aussehen, damit das europäische Projekt nicht nur überlebt, sondern stärker aus den Krisen hervorgeht? War der Vorstoß von Emmanuel Macron und Angela Merkel vom Mai hinsichtlich des Wiederaufbaufonds ein Schritt in diese Richtung?
Derzeit lässt sich meines Erachtens nur wenig Optimistisches für die Zukunft der EU prognostizieren. Der Macron-Merkel-Vorstoß zur gemeinsamen Schuldenaufnahme, bisher speziell für Deutschland ein absolutes Tabu, erfolgte ja keinesfalls freiwillig, sondern aus einer existenziellen Krisensituation heraus, aus Angst vor den ökonomischen Folgen der Pandemie. Nicht zuletzt um den Bankrott Italiens zu verhindern – immerhin die drittgrößte Volkswirtschaft der Eurozone –, wurde das Milliardenpaket geschnürt. Deutschland und Frankreich sind nun die Protagonisten einer neuen Verschuldungspolitik in Europa. Aber das ist nicht nur ein mutiger Schritt, weil es die lang ersehnte Idee einer engeren Verzahnung der Finanzpolitik bedeutet – der Vorschlag ist zugleich ein Akt der Schwäche, da nur reagiert und nicht vorausschauend agiert wird. Damit die Integration der EU wirklich voranschreitet, wäre es weit wünschenswerter, wenn solche mutigen Vorschläge nicht immer nur aus Zwangssituationen heraus entstünden. Denn andernfalls droht das Ur-Movens der EU – an Krisen immer weiter zu wachsen und letztlich immer stärker zu werden – irgendwann endgültig zum Erliegen zu kommen.
Dafür spricht, dass die EU – abgesehen von den äußeren Faktoren – heute auch im Inneren massiv auf die Probe gestellt wird, und zwar nicht nur materiell, sondern auch ideell. Wir haben eine „Gemeinschaft“, die sich ganz offensichtlich nicht mehr an den gleichen Wertvorstellungen orientiert. Das ist der Kern der Spaltung, der zwingend überwunden werden sollte. Wenn Staaten wie Polen oder Ungarn sich von der Idee der Rechtsstaatlichkeit verabschieden, dann hat die EU ein gravierendes Glaubwürdigkeitsproblem. Das ist die Tragik der heutigen Situation. Die wirtschaftliche Abhängigkeit innerhalb der EU ist derart vorangeschritten, dass wir gegen die Verletzung unserer Werte quasi machtlos sind. Die anderen europäischen Staaten können gegenüber der polnischen oder ungarischen Regierung keine Strafen androhen, ohne sich selbst zu schaden. Und das wird zynisch ausgenutzt, indem die Zustimmung zu den Corona-Hilfspaketen davon abhängig gemacht wird, dass die Anforderungen an die Rechtsstaatlichkeit fallen gelassen werden.
Diese Situation ist letztlich eine Pervertierung der Grundidee der europäischen Integration, die durch die enge Verflechtung der Wirtschaft Konflikte zwischen den Nationen unterbinden und die gemeinsame europäische Verfasstheit – auf Basis von Demokratie und Rechtsstaatlichkeit – immer weiter vertiefen sollte. Heute kann davon keine Rede sein.
Viel spricht dafür, dass der Weg der kontinuierlichen Vertiefung, der ever closer union, an ein Ende gekommen ist – und dass wir uns an größere Unterschiede der demokratischen Kulturen werden gewöhnen müssen. Damit befindet sich die Union an einem Scheideweg. Eines allerdings könnte sie in Zukunft doch wieder stärker zusammenschweißen, nämlich die wachsenden äußeren Herausforderungen. Im Bereich der Flüchtlings- und Migrationspolitik ist diese bereits zu erkennen: Dort wirken alte und neue Europäer längst arbeitsteilig zusammen, Deutschland vor allem humanitär, auch durch Aufnahme von Flüchtlingen, Polen und Ungarn vor allem repressiv, durch die Unterstützung von Frontex beim Ausbau der Festung Europa. Die eigentliche Bewährungsprobe wird sich für Europa jedoch erst in der kommenden Auseinandersetzung zwischen China und den USA stellen. Dann muss sich zeigen, ob die Europäer tatsächlich als Schicksalsgemeinschaft begreifen oder ob sie sich von den beiden Supermächten spalten und auseinanderdividieren lassen – immer auf der Suche nach dem je eigenen nationalen Vorteil. Getreu der Devise: „My country first.“
Albrecht von Lucke, Jurist und Politologe, Redakteur der größten politisch-wissenschaftlichen Monatszeitschrift im deutschen Sprachraum, der „Blätter für deutsche und internationale Politik“ (www.blaetter.de).
Arkadiusz Szczepański studierte Slawistik, Geschichte und Kulturwissenschaft in Leipzig und Berlin. Redakteur beim DIALOG FORUM, Übersetzer und Redaktionsmitglied des Deutsch-Polnischen Magazins DIALOG.