Die Ukraine ist wichtig aufgrund ihrer Lage, Größe und geopolitischen Bedeutung. Doch die sowjetische Diktatur hat ihre deprimierenden Spuren in Gestalt aller erdenklichen Verwerfungen hinterlassen, von Konflikten um die nationale Identität bis hin zu schwachen öffentlichen Einrichtungen. Nach dem Fall der UdSSR und der Erkämpfung der Unabhängigkeit hat das Land es nicht geschafft, seine Transformation so erfolgreich wie andere Länder Ostmitteleuropas zu gestalten; stattdessen ist die Ukraine jahrzehntelang in der Kleptokratie steckengeblieben, in einer Symbiose von Oligarchen und korrupten Politikern.
Die Zeit der Veränderungen kam mit dem Euromajdan, der „Revolution der Würde“, als Ende 2013 in vielen Städten und in Kiew eine ganze Reihe von Protesten stattfand, an deren Ende die Ukraine sich endgültig dafür entschied, sich zu ihrer weiteren Entwicklung an den Westen anzulehnen. Wie wichtig und weitreichend diese Änderung für die gesamte Region ist, bezeugt das Verhalten der Führung der Russländischen Föderation, welche die Restauration der Machtverhältnisse des einstigen Sowjetimperiums anstrebt. In Reaktion auf die prowestliche Wende Kiews annektierte Moskau die Krim und entfesselte den Krieg im Donbas als Strafe für die Gehorsamsverweigerung und Warnung für die übrigen postsowjetischen Republiken, auf dass sie es ja nicht wagen, sich ebenfalls von der Moskauer Vormundschaft zu befreien. Krieg und Besatzung brachten die Ukrainer jedoch nicht von Reformen ab, die sie nunmehr ihrer Politik abverlangten. Die Dezentralisierung wurde zum Symbol der damals begonnenen Veränderungen, das heißt eine Reform der Territorialverwaltung, bei der Kompetenzen von der Zentralregierung auf die Lokalverwaltungen [in Ostmitteleuropa „lokale Selbstverwaltungen“ genannt; A.d.Ü.] übertragen werden.
Dezentralisierung als Fundament der Demokratisierung
Der 2014 eingeleiteten Selbstverwaltungsreform liegt eine ganz neue Philosophie der Wechselbeziehungen zwischen Zentrum und Peripherie zugrunde, welche die byzantinische Abhängigkeit der bislang unselbständigen Lokalbeamten von den Launen der Entscheidungsträger in Kiew abschafft. Anstelle der alten, korruptionsanfälligen Ordnung trat eine an den westlichen Demokratien orientierte neue Organisation der Machtverteilung, in der die Selbstverwaltungen eigene Entscheidungsfreiheit und finanzielle Unabhängigkeit besitzen.
Parallel dazu ist die Lokalverwaltung in höherem Maße den Bürgern gegenüber verantwortlich, was unter anderem bedeutet, dass Lokalpolitiker in Zukunft zurückhaltender mit Wahlversprechen sein werden, die sie nicht einhalten können. Wenn nämlich die Kompetenzen der Selbstverwaltungen bekannt sind, die infolge der Dezentralisierung einen gesetzlich garantierten Anteil an den Einnahmen lokaler Steuern und Abgaben erhalten, wenn sie Immobilien und landwirtschaftliche Flächen zu Eigentum übertragen bekommen haben, vor allem aber ihre eigenen Budgets planen können, dann werden die Bürger ihre lokalen Amtsträger eher an ihre Versprechen erinnern und bei Nichtgefallen mittels Wahlzettel auch einmal austauschen. Daher wird der Erfolg der Vorstehers der Gemeinde, die in der Ukraine hromada genannt wird, daran bemessen werden, wie geschickt er mit den Ressourcen von Dorf oder Stadt umgeht, nicht daran, welche Kontakte er in die Hauptstadt unterhält.
Obwohl die Initiatoren der Dezentralisierung bislang wegen fehlender Parlamentsstimmen nicht die notwendigen Korrekturen an der Verfassung haben durchsetzen können, wurde die Reform auf dem Gesetzeswege in einigen wichtigen Etappen vorangetrieben. Eine davon war die sogenannte Finanzdezentralisierung, also die Stärkung der materiellen Unabhängigkeit der Gemeinden, infolge derer die Einnamen der Selbstverwaltungen um mehr als dreißig Prozent gestiegen sind. Das Gesetz zur freiwilligen Zusammenschließung von Gemeinden, die meist kleine, mittellose, von Regierungszuwendungen abhängige Ortschaften sind und von denen es vor der Reform etwa 11.000 gab, in etwa 1500 größere und finanziell selbständige territoriale Einheiten schuf die Basis für die unterste Stufe der territorialen Selbstverwaltung der Ukraine.
Weitere wichtige Schritte waren die Gesetze über die Kooperation der zusammengelegten Gemeinden und die Grundsätze der Regionalpolitik, ferner ein Paket von Rechtsakten zur Erweiterung der Kompetenzen der Selbstverwaltungsorgane, welche die Zuständigkeit für bestimmte öffentliche Dienstleistungen auf die untere Ebene verlagerten. Die größere Autonomie soll dafür sorgen, dass sich Gemeinden schneller entwickeln und Wohlstand akkumulieren können, was nach Auffassung der Reformanhänger nicht nur die massenhafte Emigration stoppen, sondern auch bürgerschaftliche Partizipation stärken und zur Entwicklung der ukrainischen Demokratie beitragen wird. Wie der in Kiew arbeitende Politologe Andreas Umland darlegt, wird die Dezentralisierung darüber hinaus ein großer Schritt in Richtung auf die europäische Integration sein, indem sie die Ukraine in Sachen Rechtsstaatlichkeit an westliche Standards annähert und sie von dem traditionellen sowjetischen Zentralismus Abstand gewinnen lässt, wie er heute noch in Russland kultiviert wird.
Skeptiker meinen, die Dezentralisierung könne in bestimmten Regionen den Separatismus bestärken, so im Donbas und in der Karpatoukraine. Ihrer Auffassung nach werden unter dem Mantel größerer Autonomie der Selbstverwaltungen die Aktivisten der magyarischen Minderheit, die verdeckt von Budapest unterstützt werden, auf eine schleichende Föderalisierung der Ukraine hinarbeiten. Eine solche Entwicklung strebt auch ganz offen der Kreml an, der die Föderalisierung als Bedingung für die Beendung des Kriegs in der Ostukraine durchsetzen will. Kiew reagiert jedoch gelassen auf die Argumente der Reformgegner und verweist auf die in die Reform eingebauten Kontrollmechanismen in Gestalt örtlicher Organe der Staatsverwaltung auf der Ebene von Kreisen und Oblasts, deren Aufgaben in der öffentlichen Sicherheit und der Überwachung der Verfassungsmäßigkeit der Politik der lokalen Selbstverwaltung bestehen.
Aber auch Fachleute wie der führende Ideologe der Dezentralisierung, Anatolij Tkatschuk, suchen überhitzte Emotionen abzukühlen. Demnach werde eine sachgemäß durchgeführte Reform den Staat nicht schwächen, sondern stärken. Im vorherigen, ineffizienten System wahrte der Leiter der staatlichen Regionalverwaltung, der eine Personalunion des polnischen Wojewoden und des Vorsitzenden des Wojewodschaftstags entsprach, nicht die staatlichen Interessen, sondern ließ sich auf Machenschaften mit den regionalen Eliten ein und schloss brüchige, mit der Situation wechselnde persönliche Bündnisse. Das endete meist nicht gut, und das krasseste Beispiel für diesen dysfunktionalen Mechanismus von checks and balances vor 2014 war die Krim. Dagegen sind in einem vernünftig dezentralisierten Staat die Kompetenzen zwischen Selbst‑ und Zentralverwaltung aufgeteilt, daher bewegt sich die ukrainische Reform in die richtige Richtung.
Die Wahlen als Lackmustest der Dezentralisierung?
Nicht unbedingt kurzfristig – Erfolgsmesser der Reform ist nämlich die Befähigung von lokalen Gemeinschaften, ihr Potential zur Entwicklung ihrer engeren Heimat auch wirklich zu nutzen. Offenbar ist die größte Herausforderung für die Ukrainer, sich ihrer eigenen bürgerschaftlichen Handlungsfähigkeit bewusst zuwerden, die aus ihrem geringen Vertrauen in die Politik stammende Apathie zu überwinden und ihr Wissen darüber zu erweitern, wie eine Selbstverwaltung funktionieren soll. Auf eine solche Änderung des kollektiven Bewusstseins, mit der die Dezentralisierung vor unser aller Augen beginnt, wird noch zu warten sein.
Das belegt zum Beispiel die rekordverdächtig niedrige Wahlbeteiligung bei den Wahlen vom letzten Sonntag, die nach Exit-Poll bei nichtmals 37 Prozent lag – mehr als zehn Prozent weniger als vor fünf Jahren. Andererseits sind die Erfahrungen der polnischen Selbstverwaltungsreform der 1990er Jahre ein optimistischer Wegweiser für die sich verändernde Ukraine.
Trotz der enttäuschenden Wahlbeteiligung sandte das Plebiszit vom Sonntag doch eine Menge positiver Signale. Zum Beispiel stimmten die Ukrainer nach der neuen Wahlordnung im Verhältniswahlrecht für offene Listen, was den Prozess transparenter macht. Auch hat der Gesetzgeber per Quotierung auf gleichen Zugang von Frauen und Männern zum passiven Wahlrecht geachtet.
Erstmals seit 2014 wurden auch Umsiedler aus dem besetzten Donbas und der Krim in vollem Umgang zu den Wahlen zugelassen, und die ewige Plage ukrainischer Wahlen, der Stimmenkauf durch unehrliche Kandidaten, fand diesmal nicht in so großem Umfang statt, großteils dank der verschärften Strafandrohungen im Strafgesetzbuch. Nicht zuletzt spielte das große öffentliche Interesse an den Wahlen eine Rolle, zumal diese aufgrund der Dezentralisierung stark an Bedeutung gewonnen haben.
Für ein von Krieg, Pandemie und Wirtschaftskrise gebeuteltes Land hat die Ukraine diese ersten demokratischen Wahlen zu den neuen Gemeinden überzeugend bewältigt; sie krönen mehr als fünf Jahre Selbstverwaltungsreformen. Der Aufbau eines Systems, in dem die Gewaltenteilung real ist und kein Wunschdenken, ist immer noch eine Zukunftsaufgabe für die junge ukrainische Demokratie. Das schwächste Glied in der Kette bleibt die korrupte, dysfunktionale Justiz. Aber die Tatsache, dass trotz zweifelhafter Praktiken im Wahlkampf, von denen das Civil Network OPORA berichtete, Präsident Selenskyj und seine Partei „Diener der Nation“ es nicht geschafft haben, ihren spektakulären Sieg bei den vorjährigen landesweiten Wahlen zu wiederholen, belegt eine fortschreitende Veränderung der politischen Kultur und die Geburtsstunde starker öffentlicher Institutionen.
Fazit
Die Ukraine wird immer noch dafür kritisiert, ihre seit dem Euromajdan begonnenen, mit Blut und Leiden vieler erkauften Reformen seien nicht weitreichend genug. Skeptiker werfen Politik und Gesellschaft gewichtige Versäumnisse vor, so den immer noch bestehenden Einfluss der Oligarchen, die nach dem Geldbeutel berichtenden Medien und die korrupten Gerichte. Zwar lässt sich nicht verneinen, dass das Land in den letzten fünf Jahren eine tiefgreifende Metamorphose durchlaufen und viele Erfolge erzielt hat; dazu zählen eine Reihe wichtiger institutioneller Reformen, visafreies Reisen in die Europäische Union und der Wiederaufbau einer starken Armee; doch hat die Ukraine immer noch nicht den Ruf ablegen können, eines der ärmsten Länder Europas zu sein. Die fortdauernde Pandemie und die Folgen der bevorstehenden Wirtschaftskrise werden Aussichten auf baldigen Wohlstand noch verringern und viele unlautere Politiker mit Argumenten gegen weitere Reformen ausstatten. Mit Aussicht auf schwere Zeiten ist es schwerer zu beurteilen, wie der Kampf um den ukrainischen Donbas und die besetzte Krim weiter verlaufen wird, doch ist Zukunftsunsicherheit gegenwärtig etwas, das so gut wie alle Gesellschaften der Welt in Atem hält.
Mit dem großartigen Erfolg der polnischen Selbstverwaltungsreform im Sinn, sind die Fortschritte der ukrainische Dezentralisierung umso aufmerksamer zu verfolgen. Es besteht die Chance, dass gerade diese Reform sich in Zukunft als Beispiel für einen besonders gelungenen und lang erwarteten Umbruch erweisen wird.
Aus dem Polnischen von Andreas R. Hofmann