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Polen zwischen Revolution, Reaktion und kollektiver Apostasie

Die Erklärung des polnischen Verfassungsgerichts vom 22.10.2020, in dem die Abtreibung von unheilbar kranken Föten als verfassungswidrig bestimmt wurde, hat zur Massenmobilisierung der polnischen Gesellschaft gegen die Regierung geführt. In großen und kleinen Städten gehen Tausende auf die Straßen. Die anhaltenden Proteste haben das Potential, sich zu einer Revolution zu entwickeln, denn die Wut der Bevölkerung ist groß. Polens mächtigster Mann Jarosław Kaczyński ergreift das Wort und ruft zur Verteidigung des Polentums auf. Es ist nicht nur eine Kampfansage an die Protestierenden, sondern eine bewusste Verschärfung der explosiven Stimmung im Land.

Die Bilder von den Massenprotesten gegen die verschärfte Auslegung des in Polen geltenden Abtreibungsgesetzes zeugen von einem enormen Ausnahmezustand in Polen. Es scheint, als sei mit der Entscheidung des polnischen Verfassungsgerichts unter Vorsitz von Julia Przyłębska, der engen Vertrauten von Jarosław Kaczyński, das Fass zum Überlaufen gebracht worden. Über das Abtreibungsverbot wird seit der Entstehung der Dritten Republik heftig gestritten, doch das 1993 verabschiedete Gesetz galt als tragbarer, wenn auch von vielen als restriktiv empfundener, Kompromiss. Weder linke noch liberale Regierungen haben in diesem Bereich grundlegende Veränderungen forciert. Dass jedoch die Vereinigte Rechte dieses heiße Eisen anfassen und gemäß seiner Weltanschauung schmieden wollte, war nie ein Geheimnis. In der Vergangenheit gab es einige Versuche, zuletzt 2016. Der damals von Frauen initiierte „schwarze Protest“ führte dazu, dass die Regierung von ihrem Vorhaben, das Abtreibungsgesetz zu verschärfen, abwich – aus Sorge, die kurz zuvor gewonnene Macht im Parlament aufs Spiel zu setzen.

Nun, inmitten der explodierenden Infektionszahlen, wirtschaftlicher Unsicherheit und gesellschaftlicher Kontaktbeschränkungen, schien ein geeigneter Moment gekommen zu sein, das Thema wieder aufzugreifen. Vielleicht bestand aufseiten der Vereinigten Rechten die Hoffnung, dass Proteste wie 2016 aus Angst vor COVID-19-Ansteckungen ausbleiben würden. Vielleicht sollte aber auch genau umgekehrt gezielt provoziert werden, damit die Menschen massenweise auf die Straße gehen und so die Infektionszahlen noch weiter nach oben treiben. Letzteres nämlich könnte von der Plan- und Hilflosigkeit der Regierung bei der Eindämmung der Pandemie ablenken und man könnte den Protestierenden die Verantwortung für die Ausbreitung des Virus zuschieben. Diese Argumentation setzt sich bereits jetzt schon in den Reihen der Vereinigten Rechten und ihnen nahestehenden Medien durch.

Denn mit seinem Videoauftritt vom 27.10. hat sich Jarosław Kaczyński entschieden zu Wort gemeldet. Entscheidend waren dabei drei Botschaften. Seine Ansprache war zuallererst eine Kampfansage an all jene, die er für die Feinde Polens hält – die nihilistischen Kräfte, die koordiniert auftreten und womöglich von außen inspiriert würden, die den Untergang Polens herbeiführen wollen. Somit ist das Feindbild klar definiert. Die eigenen Anhänger wissen nun, dass es sich um eine ernste Bedrohung, einen Angriff auf das Land handelt. Darüber hinaus machte er deutlich, dass die Entscheidung des Verfassungsgerichts auf legalem Wege nicht rückgängig gemacht werden könne, sprich: Es soll in den eigenen Reihen bloß keiner auf die Idee kommen, zurückzurudern. Die Protestierenden werden zugleich delegitimiert, denn ihre Postulate sind mit legalen Mitteln nicht mehr umsetzbar. Die dritte Botschaft sollte die eigenen Anhänger mobilisieren. Es gelte, so Kaczyński, die Kirchen „um jeden Preis“ zu verteidigen. Um jeden Preis bedeutet auch, dass Gewaltanwendung und Blutvergießen nicht ausgeschlossen werden.

Der mächtigste Mann der Vereinigten Rechten hat also seine Autorität dazu eingesetzt, um die explosive Stimmung im Land zur weiteren Eskalation zu treiben. Nun rächt sich, was seit Jahren hingenommen wurde, nämlich die Geschicke des Landes einem autoritären Führungsstil eines Mannes aus dem Hinterzimmer zu überlassen. Gleichzeitig ist nun sein politisch-mediales Lager sowie die Kirche in Geiselhaft genommen worden: Es gilt nur noch „wir gegen sie“, tertium non datur.

Morawiecki ist bei seinen öffentlichen Auftritten bereits sichtlich nervös, denn um das Polentum und die Kirchen „um jeden Preis“ zu verteidigen, kann der Einsatz von Polizei und Militär nicht ausgeschlossen werden. Kaczyńskis Ansprache hat die Stimmung im Land derart verschärft, dass die Eskalationsleiter womöglich nicht mehr kontrolliert werden kann. Morawiecki weiß nun, dass der Deal, auf den er sich eingelassen hat, nämlich Premierminister von Kaczyńskis Gnaden zu sein, die Nummer eins der Regierung nach außen hin nur zu simulieren, nun auch mit der Verantwortung für die vielleicht folgenschwerste Fehlleistung seines Mentors einhergeht.

Kaczyński ist eben kein Opportunist, sondern seiner radikalen Vision eines katholisch-patriotischen Polens treu. Das haben der Opportunist Morawiecki und einige andere in den Reihen von PiS deutlicher denn je erfahren. Dies mag die letzte Chance für jene in Partei, Kirche und Mediengefolgschaft sein, um aus dem in volle Fahrt kommenden Zug zu springen. Wer dieses sich nun geöffnete Zeitfenster nicht nutzt, wird unweigerlich an Bord bleiben und muss hoffen, dass die Lage nicht weiter eskaliert.

Größter Verlierer des gesellschaftlichen Konflikts ist jetzt schon die Kirche. Dass die Kirche in den vergangenen Jahren so eindeutig die politische Anbindung an PiS gesucht und erreicht hat, erweist sich als folgenschwer. Die stark zunehmende Laizisierung der polnischen Gesellschaft, insbesondere unter Jugendlichen und jungen Erwachsenen – das Gros der heutigen Demonstrierenden – , ist seit Jahren bekannt. Die öffentlich gewordenen Kindesmissbrauchsfälle werden, euphemistisch ausgedrückt, halbherzig aufgearbeitet. Die Glaubwürdigkeit der Kirche hat einen Tiefpunkt erreicht. Statt sich in dieser Situation zu entpolitisieren, macht sie das Gegenteil und sekundiert eifrig der Entscheidung des Verfassungsgerichts. Aufrufe zur kollektiven Apostasie werden immer lauter. Was den Kommunisten über 40 Jahre lang nicht gelungen ist, schafft die Kirche im freien Polen von allein; sie schafft sich von selbst ab.

Ist eine Deeskalation in dieser Lage noch möglich? Führende Oppositionspolitiker fordern die Regierung auf, das Urteil des Verfassungsgerichts nicht im Gesetzblatt zu veröffentlichen. Mit dieser Notlösung würde es nicht Teil der Rechtsordnung werden. Doch angesichts der voranschreitenden Eskalation scheint selbst diese Forderung immer unwahrscheinlicher.

Die Protestierenden fühlen sich zurecht vonseiten der Regierung provoziert. Die Initiatorinnen des Allgemeinpolnischen Frauenstreiks haben ihre Forderungen veröffentlicht. Unter anderem wird ein voller Zugang zur Abtreibung auf Wunsch sowie der Rücktritt der Regierung gefordert. Eine Pattsituation zeichnet sich ab. Radikalität der einen trifft auf die Radikalität der Gegenseite. Oppositionsparteien, die in den vergangenen Wahlen mangels konkreter, mehrheitsfähiger Programme gegen PiS kläglich gescheitert sind, sollten nicht versuchen, die Proteste politisch für sich zu vereinnahmen. In erster Linie ist es der Protest von Frauen. Die Protestanführerinnen hingegen sollten wissen, dass die Mobilisierung derartiger Massen, die sich an den Märschen durch die Städte Polens beteiligen, ohne Bürger der Mitte nicht die Größe erreicht, die notwendig ist, um die Regierung zu einer Lösung des Konflikts zu zwingen, etwa zur Nichtveröffentlichung der Entscheidung des Verfassungsgerichts. Dies sollte bedacht werden, um Konflikte im protestierenden Lager, die sich schon abzeichnen, zu vermeiden. Wenn die Proteste hingegen ein radikal linkes Profil nach außen vermitteln, sich durch Vandalismus, Angriffe auf Kirchen und Forderungen bemerkbar machen, die die Mehrheit der Gesellschaft nicht unbedingt teilt, so nähmen sie freiwillig jenes Etikett an, die ihnen Jarosław Kaczyński zugeschrieben hat. Die gerechtfertigte Auflehnung der Gesellschaft, die im Kern ein Widerstand gegen den ausufernden Unrechtsstaat der Vereinigten Rechten ist, muss ein friedlicher, demokratischer und anschlussfähiger bleiben.

Arkadiusz Szczepański

Arkadiusz Szczepański

Slawist und Kulturwissenschaftler, Übersetzer, leitender Redakteur von DIALOG FORUM

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