Zum Inhalt springen

Macht und Werte

Kann die EU ohne durchsetzbare Grundwerte zu einem Global Player werden?

Die neueste EU-Krise um die stärkere Verankerung der Rechtsstaatlichkeit bei den Finanzmitteln zeigt: Die Debatte um die Durchsetzung der Grundwerte, auf denen die Union aufbaut, ist eine der entscheidenden europäischen Debatten unserer Zeit. Das polnisch-ungarische Veto gegen Haushalt und Wiederaufbaufonds trifft aber nicht nur den inneren Zusammenhalt der Union, sondern auch ihre Handlungsfähigkeit nach außen. Mag sein, dass die deutsche Ratspräsidentschaft Orbán und Kaczyński/Morawiecki noch einen gesichtswahrenden Ausweg einräumt. Mag sein, dass letztere auch bereit sind, diese Chance zu ergreifen. Aber so oder so steckt die EU jetzt in der nächsten Krise – nicht nur wirtschaftlich, sondern auch politisch. Meine These hier ist, dass sie auch ihre postulierte Rolle als Global Player vergessen kann, wenn sie an der Wahrung ihrer Grundwerte nicht festhält.

Blicken wir kurz auf das vergangene Jahrzehnt aus globaler wie auch EU-Perspektive zurück: Populisten auf dem Vormarsch, die liberale Demokratie auf dem Rückzug, ein immer aggressiveres Russland, das alle Schwächen einer offenen Gesellschaft ausnutzt, und ein immer mächtigeres China, das seit einigen Jahren in dieser Hinsicht viel von Russland lernt – und das für viele EU-Mitgliedsländer ein so lukrativer Handelspartner geworden ist, dass Abkopplung praktisch unmöglich scheint. Das bisher schlimmste Jahr in dieser Hinsicht war 2016, mit dem doppelten Schock durch Brexit und den Sieg Donald Trumps bei der US-Präsidentenwahl. In den letzten drei Jahren gab es allerdings auch mehr und mehr Tendenzen, die dem Eindruck vom unaufhaltsamen Aufstieg der Nationalpopulisten und Autoritären entgegen standen: Vom Wahlsieg Emmanuel Macrons in Frankreich 2017 über den abschreckenden Effekt des Brexit-Desasters bis zur Verhinderung einer Salvini-geführten Regierung in Italien 2019. Der letztendlich doch recht deutliche Wahlsieg Bidens in den USA bedeutet eine weitere entscheidende Schwächung der „autoritären Internationalen“.

Die Antwort auf die neue Illiberalität

Parallel dazu entwickelte sich auch in der EU eine stärker werdende Defensive gegen die illiberalen Tendenzen in einigen Mitgliedstaaten, vor allem in Ungarn seit 2010 und Polen seit 2015. Aber so stark die EU traditionell bei der Durchsetzung von relativ hohen Standards bei der Rechtsstaatlichkeit ist, wenn es um Länder vor dem Beitritt geht, so schwach ist sie, das sogenannte Backsliding zu verhindern, sobald das betreffende Land Mitglied geworden ist. Die Artikel 7-Prozedur des Europäischen Rates, die – nach vielen Zwischenschritten – zum Entzug der Stimmrechte führen kann, ist schon dann ausmanövriert, wenn sich zwei Regierungen gegenseitig decken. Der Gang zum Europäischen Gerichtshof (EuGH), der natürlich der EU-Kommission und den Mitgliedstaaten immer offen steht, führt zu langwierigen Verfahren, deren Wirkung dann oft zu spät kommt, so wie im Oktober 2020 in Sachen Central European University (die von Milliardär George Soros gegründete Universität musste 2018 Ungarn auf Druck der Regierung verlassen, Anm. d. Red.). Und Proteste der Kommission, so wie die gegen die ungarische Verfassungsreform 2011, werden von schlauen Autokraten mit winzigen Kompromissen beantwortet, die sie dann immer noch mit 90 % ihrer illiberalen Reformsubstanz davonziehen lassen.

Aus all diesen Gründen wuchs unter den Mitgliedstaaten und in Kommission und Parlament die Einsicht, dass neue Mechanismen geschaffen werden müssen, die eine systematische Schwächung der liberalen Demokratie wenigstens mit Kosten belegen, damit die EU ihre eigenen Grundsätze auch lebt, anstatt sie nur auf dem Papier zu deklarieren. Daher die Idee einer Kopplung der Mechanismen wirtschaftlicher Solidarität an die Einhaltung von Rechtsstaatlichkeit, Gewaltenteilung, Meinungspluralismus, Freiheit der Wissenschaft und einer ungehinderten Zivilgesellschaft.

Die EU als Global Player

Parallel dazu setzte sich immer stärker die Einsicht durch, dass die EU sich viel intensiver engagieren muss, um Freiheit, Stabilität und Prosperität in die eigene Nachbarschaft zu exportieren und sich gegen Einflussversuche und Drohungen Russlands unter Putin und Chinas unter der Kommunistischen Partei zu wehren. Die Unberechenbarkeit der US-Politik und oft offene Feindschaft Donald Trumps gegenüber Verbündeten hat auch zu dieser Einsicht beigetragen. Und so spricht Ursula von der Leyen nun von einer „geopolitischen Kommission“, deren Präsidentin sie ist, der Außenbeauftragte Josip Borrelll sagt, die EU müsse „die Sprache der Macht lernen“ und Ratspräsident Charles Michel spricht von strategischer Autonomie als „Generationenaufgabe“. Das sind nicht nur leere Worte, sondern eine auch in den Mitgliedstaaten geteilte Idee: Europa muss sein Schicksal stärker in die eigene Hand nehmen – und dazu muss es eigene Machtmittel entwickeln, auch um global mitreden zu können. Manche nennen das strategische Autonomie oder europäische Souveränität: Auf jeden Fall sind sich alle einig, dass Europa mehr tun muss, allein schon um als Verbündeter der USA einen Mehrwert einzubringen, der die Allianz mit Europa auch für zukünftige US-Regierungen nach Joe Biden attraktiv macht.

Diese zusätzlichen Fähigkeiten zur globalen Mitsprache und Machtprojektion in der unmittelbaren Nachbarschaft, sind eng geknüpft an Glaubwürdigkeit als demokratische Union, die ihre Grundrechte und Rechtsstaatlichkeit selbst ernst nimmt. Die EU versucht besonders gegenüber den Staaten der östlichen Partnerschaft gutes Regieren, starke und unabhängige Institutionen und Korruptionsbekämpfung als Prinzipien hochzuhalten, weil nur sie dauerhaft Stabilität, Wohlstand und Freiheit, und damit auch den Frieden, sichern. Sie versucht das auch immer wieder in allen Abkommen zur Zusammenarbeit festzuschreiben. Jedes illiberale Backsliding innerhalb der EU bedeutet einen Rückschlag für diese Bemühungen, weil die Autokraten in der Nachbarschaft nur auf solche Fälle zu zeigen brauchen, um die EU als Partner bloßzustellen. Auch hier zeigt sich: Die übliche Annahme, Werte stünden tendenziell im Gegensatz zu Interessen, ist zu kurzsichtig.

Werte und Interessen

Das klassische Amerika seit Ende des Zweiten Weltkrieges war die ideale Verbindung von Soft und Hard Power: Wohlstand, Meinungsfreiheit, Bürgerrechte und Checks & Balances nach innen, starkes Militär und global agierende Diplomatie und Ökonomie nach außen. Unter Trump haben die USA an beiden Fronten an Ansehen verloren – und daher auch an realem Einfluss eingebüßt. Aber auch in Europa selbst kann man an der Geschichte ablesen, wie sich Macht und Werte gegenseitig bedingen: Man stelle sich das britische Empire ohne die erste noch ungeschriebene demokratische Verfassung vor, oder Frankreich ohne republikanisch-laizistische Tradition. Das muss auch für Europa als Ganzes gelten.

Die EU wird auch ihre gegenwärtige Krise um die Rechtsstaatlichkeit lösen. Denn Werte sind langfristige Interessen. Nachhaltige Soft Power und nachhaltige Hard Power bedingen sich gegenseitig. Und nur die innere Durchsetzung deklarierter Werte erlaubt es der EU, Freiheit, Prosperität und Sicherheit in ihrer Nachbarschaft und global zu stärken. In einem idealen Szenario wäre das ein Programm, das Polen und Deutschland innerhalb der EU zu einem gemeinsamen Projekt machen könnten. Die heutige Realität scheint davon Lichtjahre entfernt. Aber wenn uns das vergangene Jahrzehnt eines gelehrt hat, dann Bescheidenheit bei Voraussagen. Und so wie die Wahl von Joe Biden und Kamala Harris in den USA den Atlantikern in Berlin bei ihren Forderungen nach der Übernahme von mehr deutscher Verantwortung hilft, würde auch ein Regierungswechsel in Polen es seinen Freunden in Berlin ermöglichen, in Fragen wie Nord Stream 2 auf Polen zuzugehen. Das deutsche Beharren auf Rechtsstaatlichkeit innerhalb der EU, und internationaler Normenprojektion, könnte sich eines nicht zu fernen Tages mit der polnischen traditionellen Betonung von Hard Power nach außen und dem unerschütterlichen Glauben an die transatlantische Partnerschaft treffen. Und Europa wäre einen entscheidenden Schritt weiter.

Roland Freudenstein

Roland Freudenstein

Politischer Direktor des Wilfried Martens Centre for European Studies

2 Gedanken zu „Macht und Werte“

  1. Wie ein Blinder von Farben, so spricht man in der EU von “Werten”. Welche Werte wurden in der EU denn nicht verändert und aktuellen Problemen angepasst, nach Gutdünken von nichtgewählten Körperschaften?

    1. Zum Beispiel Gewaltenteilung, Pressefreiheit, Rechtsstaatlichkeit – wie Sie in jedem juristischen Kommentar zum EU-Vertrag und zu den Kopenhagener Kriterien fuer die Aufnahme von Beitrittsverhandlungen nachlesen koennen. Und der Vertrag und die Schlussfolgerungen von Kopenhagen wurden von demokratisch gewaehlten Regierungschefs unterschrieben.

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert

Symbol News-Alert

Bleiben Sie informiert!

Mit dem kostenlosen Bestellen unseres Newsletters willigen Sie in unsere Datenschutzerklärung ein. Sie können sich jederzeit austragen.