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Die Schwächen der polnischen Demokratie und ihre Ursachen

Im Herbst wurde Polen von Massendemonstrationen gegen das Urteil des formal unabhängigen, faktisch aber der Regierung völlig botmäßigen Verfassungsgerichts erschüttert, nachdem dieses das ohnehin schon drakonische Gesetz gegen Abtreibungen nochmals verschärft hatte. Dieses, die unzähligen Konflikte innerhalb der in Polen regierenden Rechtskoalition sowie das ständige Chaos und der ineffektive Einsatz des Gesundheitsdienstes gegen die Covid-19-Pandemie sollten allesamt logischerweise einen Einbruch in den Umfragen für „Recht und Gerechtigkeit“ (PiS) bewirken. Die überwältigende Mehrheit der liberalen Beobachter der polnischen Politik war sich sicher, wir seien Zeugen des Anfangs vom Ende der PiS-Partei. Doch dazu ist es nicht gekommen, und die Umfragewerte von PiS haben sich nach kurzem Nachgeben auf unverändert hohem Niveau stabilisiert, so dass die Partei weiter vor allen anderen liegt. Es bleibt die Frage, wieso PiS trotz derart vieler Fehler und einer Unzahl von normalerweise völlig unnötigen Reibereien weiterhin die Führungsposition in Polen einnimmt und mit gewohnter Effizienz immer weitere Bestandteile der liberalen Demokratie zu demontieren imstande ist.

Schon mindestens ein Jahrzehnt lang begünstigt die polnische Politik nicht diejenige Partei, die weitsichtiger und klüger ist als die Konkurrenz, sondern diejenige, welche für den Augenblick weniger selbstgefällig, weniger unklug (oder einfacher gesagt, weniger dumm) und weniger einfallslos ist. PiS ist nicht deswegen bereits zweimal an die Regierung gelangt, weil die Partei den Polen eine mitreißende Vision eröffnet hätte, sondern weil die gegnerischen Parteien überhaupt nichts dergleichen anzubieten hatten. Mit der Glaubwürdigkeit von PiS steht es auch nicht besonders gut, einmal abgesehen von den eingehaltenen sozialpolitischen Versprechen. Nur dass die Opposition eben noch weniger glaubwürdig ist. Das alles führt dazu, dass man sich zum Verständnis der anhaltenden Popularität von PiS nicht diese Partei selbst genauer anschauen sollte, sondern eher den Zustand der Opposition oder, weiter gefasst, den Zustand der polnischen Demokratie und wie diese aufgebaut ist. Denn vielleicht weist dieser Aufbau an und für sich Mängel auf?

Polen hat seit 1989 einen ungeheuren zivilisatorischen Sprung vollzogen. Seine Wirtschaft entwickelt sich in einem Tempo, auf das die übrigen Länder der Europäischen Union nur neidisch sein können. Diese Entwicklung geht unzweifelhaft auf die Reformen von Anfang der 1990er Jahre zurück. Das Problem ist nur, dass es bei den damaligen Reformen praktisch ausschließlich um die Wirtschaft ging. Was die staatlichen Strukturen angeht, so ist natürlich an die Aufhebung des einst allmächtigen Amts des Ministerrats zu denken und an die Lokalverwaltungsreform. Doch wenn wir einen genaueren Blick auf die Institutionen des Staats werfen, die für eine stabile Demokratie den Ausschlag geben, dann wird ersichtlich, dass die politischen Eliten Polens in den vergangenen dreißig Jahren kaum etwas beigetragen haben, um den Staat gegen eine autoritäre, demagogische Rechte zu feien.

Die Ursünde der Dritten Polnischen Republik war eine gleichsam ungeschriebene Abmachung zwischen den liberalen Eliten und der katholischen Kirche, der man die Herrschaft über die Seelen überließ. Die polnischen Liberalen waren zwar nach wie vor Liberale, aber nur in wirtschaftlicher Hinsicht. Dagegen war für sie das praktisch vollständige Abtreibungsverbot ganz ohne Belang (das Verbot ist jetzt so umfassend, dass es Frauen dazu zwingt, Kinder zur Welt zu bringen, die gleich nach der Geburt an angeborenen Krankheiten sterben werden); dasselbe gilt für die Fehlstelle bei der Sexualerziehung etc. Auch waren das Übermaß an erfolgten Hafturteilen oder die Ineffizienz der Gerichte für die Liberalen kein Thema. Im Gegensatz zu Kirche und politischer Rechten haben die Liberalen es zudem dreißig Jahre lang versäumt, jüngeren Polen irgendeine Idee zu vermitteln, außer der Idee, nach Reichtum zu streben. Das funktionierte allerdings nur solange, bis der jungen Generation klar wurde, dass sie nicht zwingend wohlhabend würde.

Als sich herausstellte, dass den meisten Polen entgegen der liberalen Propaganda kein Weg vom Tellerwäscher zum Millionär offen stünde, machte sich die junge Generation auf die Suche nach der eigenen Identität. Da die Liberalen eher dazu neigen, den Patriotismus für etwas Verdächtiges zu halten – auch wenn sie ihn nicht mit dem Nationalismus gleichsetzen –, so lag die Alternative nicht fern, nämlich ein Patriotismus in seiner rechten und leider auch extrem konservativen Variante. Der damalige liberale Präsident Bronisław Komorowski verschaffte sich bei den rechtsgerichteten Polen einen unrühmlichen Ruf, als er während einer Parade zum Nationalfeiertag neben einem über meterhohen polnischen Schokoladenadler auftrat. Die Liberalen setzten sich derart über das Bedürfnis patriotische Gefühle zu bekunden hinweg, die sie teils geradezu verachteten, dass sie dem Wunsch vieler Polen danach scheinbar nicht anders imstande waren nachzukommen als eben in Form jenes Schokoladenwappens. Eine andere Idee hatten dagegen sehr wohl die Rechten und die Kirche, in denen der verwaiste Patriotismus seine Pflegeeltern fand.

Die jüngere Generation erwies sich bei der Begegnung mit einem solchen, von seiner Natur her autoritär unterfütterten Patriotismus als wenig vorbereitet, kritisch damit umzugehen. Denn die meisten jungen Polen waren im unterfinanzierten polnischen Schulsystem erzogen worden, das kein selbständiges Denken lehrt. Die polnischen Eliten interessierten sich in den letzten dreißig Jahren aus dem schlichten Grund nicht so sehr für das Bildungswesen, weil sie es sich leisten konnten, ihre Kinder auf Privatschulen zu schicken. Nur gehen eben anschließend viel mehr ehemalige Schüler öffentlicher Schulen zur Wahlurne.

All das ist jedoch nicht weiter überraschend. Schon viele Intellektuelle, die nichts mit der polnischen Rechten verbindet, waren von diesen Verhältnissen beunruhigt und haben darüber geschrieben. Nur dass niemand auf sie hörte; schlimmer noch, Gemäßigte, die von proeuropäischen und liberalen Positionen her die Unzulänglichkeiten des Landes kritisierten, wurden auf der Stelle als Sympathisanten der Rechten eingestuft. Die polnischen Liberalen verstanden es perfekt, Menschen aus der politischen Mitte nach rechts zu drängen, denn in einem unterscheiden sie sich nicht von der Rechten: Die Liberalen wie die Rechten kann man nach ihrer eigenen Überzeugung in Bausch und Bogen verdammen und sich so zum Feind machen, auf den niemand hört, oder man darf sie in stummer Begeisterung bewundern und wird dafür belohnt.

Ein weiterer Grund für das Scheitern des liberalen Projekts in Polen war die unerhörte Verachtung, welche die mehr oder minder vermögenden polnischen Eliten der ärmeren Bevölkerung gegenüber bekundeten. Als PiS das Programm 500+ einführte, über das Familien pro Kind etwa 120 Euro im Monat an staatlichen Beihilfen erhalten, war von sehr vielen, praktisch ausschließlich der liberalen Ideologie verpflichteten polnischen Prominenten zu hören, die PiS-Partei würde mit dem Programm den Pöbel sowie Alkoholiker bezuschussen. Dass ähnliche Programme in den meisten EU-Ländern bestehen und insbesondere kinderreiche polnische Familien tatsächlich finanzielle Unterstützung bedurften, spielte dabei keine Rolle. Die Mehrheit der polnischen Eliten ist, was dabei besonders amüsant ist, bis heute überzeugt, PiS habe die Wahlen von 2015 dank des Programms 500+ gewonnen. Dem widersprechen allerdings soziologische Untersuchungen aus denen hervorgeht, dass das Programm 500+ bei den Wahlen vor fünf Jahren aus dem einfachen Grund keine Rolle spielte, weil die Polen grundsätzlich nicht an irgendwelche Wahlversprechen glaubten; doch die polnischen Liberalen nehmen das schlicht nicht zur Kenntnis. Im Unterschied zu kritischem Denken verlangt Verachtung keinen selbstkritischen Blick. Mit ihrer Verachtung für die Armen haben die polnischen Eliten nichts erreicht, sondern nur die ärmeren Gesellschaftsschichten erfolgreich an die politische Rechte gebunden. Und die ärmeren Polen werden selbst dann, wenn sie wie üblich längst vergessen haben werden, wem sie ihre Sozialleistungen verdanken, doch auf keinen Fall vergessen, wer für sie nur Verachtung übrighatte.

Das allein war es aber nicht, was die Einstellung zur Armut ausmachte. Als der Warschauer Skandal um die Reprivatisierung ruchbar wurde, bei der kriminelle Gruppen mit gefälschten Vorkriegsdokumenten bislang in städtischem Besitz befindliche Mietshäuser übernahmen und ihre Mieter auf die Straße setzten, interessierten sich die polnischen Liberalen zu Anfang überhaupt nicht dafür und ignorierten die Sache schließlich. Das Ausmaß dieses pathologischen Zustandes wurde besonders dann deutlich, als die „Erbschaft“ des Ehemanns der vormaligen Warschauer Stadtpräsidentin von der Bürgerplattform (PO) keinerlei Reaktion auslöste; dabei ging es um Anteile an einem Mietshaus, die angeblich seinem Onkel gehört hatten, der in Wahrheit gleich nach dem Krieg das Haus gekauft hatte, wobei dieses im Besitz von Holocaustopfern gewesen war, die darum von einem schließlich dafür verurteilten Betrüger gebracht worden waren. Der Onkel hatte seinen Erwerb von Rechts wegen eingebüßt, doch fehlte ein entsprechender Eintrag im Grundbuch. Die vormalige Stadtpräsidentin behauptete, sie habe sich für die Herkunft der Erbschaft im Wert von mehr als einer Million Euro nicht interessiert; ihr Mann teilte mit, er habe nicht gewusst, etwas zu erben, auf das er keinen Anspruch hatte. Selbst wenn man das alles glauben wollte, ließe es sich weder moralisch noch politisch rechtfertigen, dass sich weder die vormalige Stadtpräsidentin noch ihr Ehemann verpflichtet fühlten, den Besitz zurückzugeben, nachdem sie bereits wussten, dass dieser Holocaustopfern gestohlen worden war. Als ich als Journalist des größten polnischen Onlineportals die Frage stellte, wie sie die Sache einschätze, erhielt ich von der liberalen PO-Kandidatin für das Staatspräsidentenamt Małgorzata Kidawa-Błońska nur eine ausweichende Antwort. Es wird den Leser gewiss nicht überraschen, dass die polnischen Liberalen die bloße Erwähnung dieser Affäre mit einer Unterstützung von PiS gleichsetzen.

Nikolaj Gogol schrieb einmal, „wir alle tadeln die Diebe, solange wir nicht das Privileg besitzen, sie persönlich zu kennen“. Einige polnische Liberale lassen sich offenbar so sehr in diesen Dunstkreis hineinziehen, dass es ihnen das rationale Denken vernebelt. Dieses würde ihnen bei einem solchen Skandal in den eigenen Reihen nahelegen, zu jemandem auf Distanz zu gehen, der zu politischem Ballast geworden ist. Doch in Polen entschied man hier ganz anders und bereitete so der extremen Rechten den Weg zur Macht. Im Namen eines zweifelhaften Privilegs, im Namen der Loyalität zu Personen von zweifelhaftem Ruf fiel der Beschluss, die Zukunft des Landes zu verspielen.

Ein Beispiel für systemische Gewalt gegenüber den Armen war das Justizwesen. An polnischen Gerichten war es die Regel, dass Verhandlungstermine erst in ein oder zwei Jahren gesetzt wurden und sich Verfahren über mehrere Jahre, gar über mehr als ein Jahrzehnt hinzogen. Selbstverständlich privilegiert ein solches System die Reichen und Mächtigen. Nur das jetzt jemand anderes die Macht besitzt. PiS führt nämlich keine Grundsanierung durch, sondern bemüht sich, die Gerichte unter eigene Kontrolle zu bringen, aber wenn die Partei bei diesem Unterfangen die öffentliche Meinung für sich gewinnt, dann wird das schon seine Gründe haben.

Einer der Gründe für den Wahlsieg von PiS 2019 und für Andrzej Dudas Sieg bei den Präsidentschaftswahlen von 2020 war die vollkommene Kontrolle der Partei über die öffentlichen Medien. Viele wundern sich, wie es möglich war, dass PiS das öffentliche Fernsehen unter eigene Kontrolle bringen konnte, ohne auf nennenswerten Widerstand zu stoßen. Um das nachzuvollziehen muss man verstehen, wie der polnische Medienmarkt funktioniert. Dieser zeichnet sich nämlich dadurch aus, dass selbst Journalisten des öffentlich-rechtlichen Fernsehens sowie führende Publizisten der landesweit erscheinenden Zeitungen, Wochenzeitschriften und Internetportale weniger verdienen als jeder beliebige Gebrauchtwagenhändler. Die meisten Herausgeber und Fernsehproduzenten verdienen weniger als Sekretärinnen in einem Privatunternehmen. Ich war selbst Zeuge, wie einem bekannten Journalisten das Rückgrat gebrochen wurde, als man ihn mit einer einzigen kurzen Frage dazu zwang, einen unaufrichtigen Text zu veröffentlichen, nämlich wie viele Jahre er wohl noch seinen Wohnungskredit abzuzahlen müsse. Ich sprach auch mit einem Star des öffentlich-rechtlichen Fernsehens mit einer Sendung zur besten Sendezeit; sie fürchtete, aus politischen Gründen die Arbeit verlieren und dann auch einen Kredit nicht mehr abzahlen zu können. Keineswegs für ein Ferienhaus in Spanien, sondern für eine ganz normale Wohnung in Warschau. Diese polnische Realität kam über Jahre hinweg verschiedenen Parteien sehr gelegen, so dass sie die Medien mehr oder minder erfolgreich zahnlos machen konnten. Der einzige Unterschied besteht heute darin, dass jemand anders von dieser Realität profitiert, und dass diese Partei, nämlich PiS, sehr viel brutaler als ihre Vorgängerinnen das erzwingt, was ihr der eigenen Meinung nach zusteht. Aber nicht erst PiS hat diesen Zustand an sich geschaffen.

Einen ganz ähnlichen Vorgang gab es in der Beamtenschaft. Anders als in Deutschland, verdienen die Departementsleiter in polnischen Ministerien [vergleichbar etwa mit den verbeamteten Staatssekretären in Deutschland; A.d.Ü.] nicht im zweistelligen Prozentbereich mehr als ihre Mitarbeiter. Vielmehr beträgt der Unterschied bis zu 300 Prozent, und dieser Unterschied entscheidet über die Möglichkeit, entweder anständig zu leben oder in die Armut abzusinken. Solche drastischen Unterschiede wie in gutsherrschaftlichen Zeiten kamen ebenfalls der Politik aller Parteien sehr entgegen, weil sie dadurch imstande waren, den Beamten ihren Willen aufzuzwingen und selbst noch ihre dümmsten Entscheidungen durchzusetzen. Jetzt ist PiS damit an der Reihe. Aber nicht erst PiS hat dieses System geschaffen.

Selbstverständlich zurecht wird viel davon gesprochen, wie „Recht und Gerechtigkeit“ Inhaftierungen missbraucht. Nur ist es so, dass Polen bereits seit mindestens zwanzig Jahren von allen Ländern der Europäischen Union die meisten Verfahren vor internationalen Gerichtshöfen verliert, bei denen es genau um die langfristige Beugehaft geht, durch die der Inhaftierte psychisch gebrochen werden soll. Als Journalist befasste ich mich beispielsweise mit dem Fall eines Fußballfans, der aufgrund der Aussage eines wenig glaubhaften Zeugen angeklagt wurde, bei einem Drogenhandel als Übersetzer fungiert zu haben. Dieser Mensch verbrachte vierzig Monate in Beugehaft, währenddessen nicht nur kein Gerichtstermin für ihn anberaumt wurde, sondern überhaupt monatelang nichts in seiner Angelegenheit geschah. „Recht und Gerechtigkeit“ hat diese Missstände im Justizwesen zwar noch weiter ausarten lassen und keineswegs zu ihrer Behebung beigetragen, doch gehen sie bis auf die kommunistischen Zeiten und nicht auf die liberale Demokratie zurück und waren bereits lange bevor PiS an die Macht kam etabliert. Vielleicht war Polen also niemals eine liberale Demokratie?

Seit dreißig Jahren hat Polen, statt eine teure Demokratie (denn Demokratie kostet nun einmal) und einen billigen Staat aufzubauen (denn der Staat sollte nicht teuer sein), eine billige Demokratie und einen teuren Staat aufgebaut. Die Demokratie in Polen ist billig, weil die politischen Eliten weder Phantasie, Willen noch Interesse haben, ein solides System aufzubauen. Das Ergebnis ist, dass in einer umfassend verstandenen Öffentlichkeit es nur wenige anständig bezahlte Stellen gibt. Infolgedessen ist der Kampf darum ausgesprochen brutal. Wer eine Stelle bekommt, darüber entscheiden oft nicht Kompetenz, sondern gute Beziehungen. Vetternwirtschaft und Klüngeleien sind endemische Krankheiten der polnischen Demokratie. Die paradoxe Folge davon ist, dass sehr viele Menschen treu und manchmal allzu beflissen den gegenwärtigen Machthabern zu Diensten stehen, obwohl sie ideologisch weit von ihnen entfernt sind, und, weil sie keine guten Verbindungen zu liberalen Kreisen haben, erst jetzt die Chance erhalten, auf eine Führungsposition zu gelangen. Es ist vollkommen naiv anzunehmen, talentierte Menschen, deren Karriere ohne ihr eigenes Verschulden unterbrochen wurde, würden ihr Leben lang in der zweiten Reihe bleiben – zuvor, weil die anderen so kleinmütig waren, gegenwärtig aus purem Idealismus.

Der polnische Staat mit seiner ewigen negativen Selektion des Personals für seinen Beamtenapparat ist ein unweigerlich dysfunktionaler Staat. Ein Lackmustext für einen funktionierenden polnischen Staat waren die Ereignisse nach der Flugkatastrophe von Smolensk, bei der Präsident Lech Kaczyński 2010 ums Leben kam. Damals leitete ich die polnische diplomatische Niederlassung in Belarus. Ich erinnere mich, dass von oben die Forderung an mich gelangte, Diplomaten aus Belarus zu delegieren, um die Familien der Opfer bei der Identifizierung der sterblichen Überreste zu begleiten. Ich sollte also Leute hinschicken, die noch nie einen Leichenschauraum von innen gesehen hatten. Ein Land mit vierzig Millionen Einwohnern war demnach nicht in der Lage, ein Dutzend Pathologen zu finden, um sie für einige Tage auf Dienstreise ins Ausland zu schicken. Die dafür Verantwortlichen haben bis heute nicht begriffen, wieso sie die Wahlen verloren haben.

Ein weiterer Grund für die Anfälligkeit Polens für den Autoritarismus ist die Schwäche des Nichtregierungssektors. Die allgemeine „Subventionitis“, also der enorme Aufwand um Regierungszuschüsse zu erlangen, ist schon lange tödlich für die polnischen NGOs. Auch das mangelnde Interesse polnischer Unternehmen bildet hier ein gewichtiges Problem, denn diese sind im Allgemeinen überhaupt nicht öffentlich engagiert und unterstützen daher auch keine Nichtregierungsorganisationen. Die Kritiker der jetzigen Regierung stellen ganz richtig fest, dass „Recht und Gerechtigkeit“ rechtsgerichtete Organisationen großzügig bezuschusst. Kein wirkliches Problem wäre das nur dann, wenn dies nur eine von vielen Finanzierungsquellen wäre. So verhält es sich jedoch nicht, und die polnischen Liberalen sind nicht bereit, auch nur ein paar tausend Euro im Jahr für ein bestimmtes Ziel aufzutreiben, um die Demokratie zu stärken.

In diesem Text habe ich sehr häufig die Wörter „Liberale“ und „Eliten“ gebraucht, und zwar nicht unbedingt in einem positiven Sinne. In diesem Text geht es nämlich nicht um die polnischen Erfolge, sondern um die Niederlagen. Die polnischen Liberalen sind eine Gruppierung, die zurecht stolz auf die großen Errungenschaften der vergangenen dreißig Jahre sein kann. Für viele dieser Erfolge verdienen sie Wertschätzung. In der Politik zählt aber letztlich die Abschlussbilanz, nicht vergangene Verdienste. Die Abschlussbilanz aber fällt so aus, dass Polen zu einem immer autoritäreren, einem immer mehr die Luft abschnürenden Staat wird, in dem Obskurantismus, Nationalismus und Homophobie gedeihen. Für die von der Rechten verursachten Missentwicklungen sind nicht die Liberalen schuld, doch sie tragen eine Schuld dafür, dass sie dreißig Jahre lang sehr wenig getan haben, um dieser Entwicklung entgegenzuwirken. Die polnischen Eliten nahmen womöglich im Anschluss an Francis Fukuyama an, das Ende der Geschichte sei eingetreten. Doch erweist sich die Geschichte als polnische Gegenwart.

PiS wird natürlich früher oder später wieder Wahlen verlieren, denn die Partei besitzt alle Untugenden der Liberalen und ihre eigenen noch dazu. PiS ist genauso von sich selbst besessen, arrogant, an Diskussion desinteressiert und zur Reflexion unfähig. Eine Niederlage von PiS wird jedoch nur bedeuten, dass die Partei ausgewechselt wird, die von der Systempathologie profitiert, doch nicht das Ende des pathologischen Systems. Es wird auch nicht bedeuten, dass eine dem Herdentrieb folgende Gesellschaft weniger anfällig für das Virus der Demagogie sein wird. PiS verliert vielleicht die Wahl in drei Jahren und kommt in sieben Jahren wieder an die Macht. Wobei die Partei in sieben Jahren eine Turboversion ihrer selbst sein wird. PiS ist nämlich noch in einem mehr den Liberalen von der PO ähnlich. Zu beiden passt hervorragend, was Talleyrand über die Bourbonen schrieb – nämlich, sie hätten nichts vergessen und nichts dazugelernt.

 

Aus dem Polnischen von Andreas R. Hofmann

Witold Jurasz

Witold Jurasz

Journalist bei der Onlineplattform Onet.pl und der Tageszeitung Dziennik Gazeta Prawna, Vorsitzender des Zentrums für Strategische Analysen, ehemaliger Mitarbeiter der Investitionsabteilung der NATO, Diplomat in Moskau und Chargé d’affaires der Republik Polen in Belarus.

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