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Risse im Beton. Mit der Corona-Krise gerät das deutsche Selbstverständnis ins Wanken

Der Kabarettist Andreas Rebers wurde unlängst um eine Einschätzung der politischen Lage gebeten. Mit Blick auf das beherrschende Thema, die Bewältigung der Corona-Pandemie, sagte er: Die Politiker in Deutschland seien keine Pragmatiker, sondern Praktiker. „Sie gucken, was am praktischsten ist. Ganz einfach: Dinge zu verbieten.“ Wenige Tage nach Rebers’ bemerkenswertem Statement wurde in einigen Bundesländern für Regionen mit besonders hohen Infektionszahlen ein maximaler Bewegungsradius von 15 Kilometern verhängt. Der bayerische Ministerpräsident Markus Söder (CSU) kündigte die verpflichtende Benutzung relativ teurer FFP-2-Masken beim Aufenthalt in Geschäften und im Öffentlichen Personennahverkehr an. Zweimal also wurden Dinge verboten: die Bewegung über einen bestimmten Bereich hinaus, sofern die sogenannte 7-Tage-Inzidenz im Wohnort die Schwelle von 200 Fällen pro 100.000 Einwohnern übersteigt, und das Betreten von Läden ohne eine bestimmte Form des Mund-Nasen-Schutzes. Die Praktiker haben wieder zugeschlagen.

So zumindest sieht es der politisch eher links stehende Kabarettist aus München. Künstler sind vom Lockdown besonders betroffen, fehlt ihnen doch seit Monaten fast jede Möglichkeit, ihrem Beruf als Broterwerb nachzugehen. Insofern spricht aus Rebers und vielen seiner Kollegen auch die Wut unmittelbarer Betroffenheit. Zugleich ist das Verbot tatsächlich ein ebenso probates wie gefährliches politisches Mittel. Es hat den unschätzbaren Vorteil, Handlungsfähigkeit zu demonstrieren und Handlungsbereitschaft zu zeigen. Der Ernst der Lage ergibt sich unmittelbar, wenn Verbote ausgesprochen werden. Das vom nordrhein-westfälischen Ministerpräsidenten und neuen CDU-Vorsitzenden Armin Laschet eingeklagte „konkrete Handeln, um die Pandemie zu bewältigen“, verdichtet sich im Verbot.

Andererseits bringt jedes neue Verbot neue Probleme mit sich. Es gibt eine Gewöhnung ans Verbot. Seine Bindekraft schwindet, wenn gar zu viele in gar zu rascher Zeit erlassen werden. Niemand kann mehr frei atmen, wenn die Luft von Verboten durchzogen ist. Es gibt zweitens Grenzen der Plausibilität; Verbote, die der Mehrheit nicht einleuchten, können nur in Polizei- und Überwachungsstaaten durchgesetzt werden. Und es gibt drittens in liberalen Rechtsstaaten einen demokratischen Vorbehalt. Einziger Souverän ist das Volk, dessen Wille im Parlament gesetzgeberische Wirkung entfaltet. Die Krise mag die Stunde der Exekutive sein. Diese Stunde aber kann im Rechtsstaat nicht Tag um Tag auf dem Verordnungsweg verlängert werden. Aus der Stunde darf kein Jahr werden.

Insofern setzt die Corona-Krise nicht nur, aber auch in der Bundesrepublik Deutschland Selbstverständlichkeiten außer Kraft und das gemeinsame Selbstverständnis aufs Spiel. Ob es sich um eine Jahrhundertherausforderung handelt, kann 80 Jahre vor dem Ende des 21. Jahrhunderts niemand wissen. Eine Bewährungsprobe für den liberalen Rechtsstaat ist es gewiss – und eine fundamentale Anfrage an das Selbstbild der Bundesrepublik allemal. Auf seine Ingenieurskunst, seinen Mittelstand, seine Managementleistung konnte sich das Land bisher immer verlassen. Die Dinge geregelt bekommen: Das war der deutsche Markenkern.

In der Corona-Krise bekommt Deutschland vieles nicht geregelt – angefangen bei der Verteilung der Impfstoffe und nicht endend bei der Drosselung der Infektions- und Todeszahlen, den schwindenden Kapazitäten des Gesundheitssystems und den enormen Schwierigkeiten bei der Organisation eines digitalen Ersatzunterrichts für Millionen Schüler. Auch die Schadenersatzzahlungen an vom Lockdown wirtschaftlich gebeutelte Unternehmen und Betriebe geht schleppend voran. Zum kranken Mann Europas wird das Land deshalb nicht. Zum Vorbild aber taugt es nur noch begrenzt. Der Standardsatz vieler Politiker, das Ausland schaue bewundernd auf Deutschland, hat in diesen Tagen eine parodistische Note.

Als Bundesgesundheitsminister Jens Spahn vor einigen Monaten die Frage stellte, in welchem Land denn die besonders scharfen Kritiker der staatlichen Anti-Corona-Maßnahmen lieber leben wollten, war es eine rhetorische Frage. Am 1. Oktober im Bundestag hatte Spahn die Evidenz auf seiner Seite, als er erklärte: „Weil wir Maßnahmen ergriffen haben, ist bis jetzt so wenig passiert und sind wir in Deutschland so gut durch die Krise gekommen.“ Gut drei Monate später wären, was die reinen Inzidenz-Zahlen anbelangt, momentan etwa die Türkei, Italien, Frankreich, Polen vorzuziehen, während sich die Lage in Schweden, Großbritannien und vor allem Tschechien deutlich schlechter entwickelt hat. In Dänemark wurden bisher relativ gesehen fast dreimal so viele Impfungen durchgeführt wie in Deutschland, obwohl auch die Dänen auf die Lieferungen der Europäischen Union angewiesen sind. Die deutsche Regierung hat im Sommer und Herbst nicht nur die richtigen Maßnahmen ergriffen.

Insbesondere für die Situation in Krankenhäusern und auf Intensivstationen ist der Staat verantwortlich. Die Bürger dürfen nicht in Mithaftung genommen werden. In den Spitälern zeigt sich, wie ernst der Staat die Daseinsvorsorge nimmt, die ihm übertragen worden ist. Die Kritik Andreas Gassens, des Präsidenten der Kassenärztlichen Vereinigung, bei bild.de ist nicht von der Hand zu weisen: „Der Lockdown, der jetzt seit Anfang November anhält, hat quasi nichts gebracht. Die Todeszahlen sind unverändert erschreckend hoch. Der Schutz der Risikogruppen ist immer noch beschämend schlecht.“

Dennoch ist die überwältigende Mehrheit der Politiker entschlossen, den einmal eingeschlagenen Weg fortzusetzen. Die Bundeskanzlerin stellt „harte Maßnahmen“ bis Ostern – das wäre der 4. April – in Aussicht, der sächsische Ministerpräsident Michael Kretschmer kann sich Lockerungen im Februar und im März angesichts der neuen Mutation des Virus schwer vorstellen. „Klar“ aber sei, so Kretschmer beim Kurznachrichtendienst Twitter, „ohne Lockdown würde Auftreten der Mutation in Katastrophe enden.“ Womit erneut die Gretchenfrage gestellt wäre: In welcher Einheit misst man Katastrophen? Die denkbar schlimmste Wendung kann eine Geschichte auf vielerlei Weise nehmen. Ein Kollaps des Gesundheitssystems wäre das ultimative Staatsversagen. Schlangen vor den Krankenhäusern, überbelegte Betten, Leichenwagen im Dauereinsatz: Ein solches Debakel müsste sich der Staat auf die Fahnen schreiben.

Katastrophen kann man freilich auch in anderen Zahlen messen. Etwa in der Summe der Insolvenzen, die ein Lockdown bis Ostern kostete. Oder in der Menge an Krankheitsfällen, die durch den Fokus auf die Seuchenbekämpfung ungenügend behandelt werden. „Viele Menschen, die kein Covid-19 haben, werden deutlich schlechter versorgt“, sagt die Virologin Sandra Ciesek. „Aus Angst vor einer Ansteckung trauen sich viele gar nicht mehr ins Krankenhaus“, ergänzt Eugen Brysch, Vorstand der Deutschen Stiftung Patientenschutz. Der Ökonom Gabriel Felbermayr vermisst in der Pandemie ein Handeln „auf Faktenbasis“. Fakten der hässlichen Art schaffen jene Betriebe und Unternehmen, die kapitulieren müssen, weil ihnen der Geschäftszweck im staatlich verordneten Lockdown wegbricht, etwa das Beherbergen von Gästen oder das Organisieren von Reisen und Veranstaltungen. Die letzte Rechnung ist noch nicht geschrieben.

So zeigen sich Risse im Beton der Bundesrepublik an vielen Stellen. Es ist nicht die Zeit für Apokalypsen gekommen, aber auch nicht der Moment der Selbstzufriedenheit. Zu beidem haben die Deutschen ein natürliches Talent, das ihnen nun in der Krise wenig nutzt. Jeden Tag in immer schwärzeren Farben zu malen, wie es sowohl der bayerische Ministerpräsident als auch dessen Konterpart, die Armada der Maßnahmen-Kritiker und Corona-Relativierer tut, verschärft die Krise ebenso wie das trotzige Beharren, nichts falsch gemacht zu haben. Appelle, mutig nach vorne zu schauen, kommen jenen am leichtesten über die Lippen, die den Rückblick zu fürchten haben.

Die Arbeiten am offenen Herzen des nationalen Selbstverständnisses ereignen sich im grellen Licht des Wahlkampfs. Im Jahr 2021 werden der Bundestag und sechs Länderparlamente neu gewählt. Corona wird den bitteren Refrain liefern, an den sich regional unterschiedliche Verse anschließen werden. Erregung und Empörung, Angst und Attacke werden auf Dauer gestellt in Winter, Frühling, Sommer und Herbst. Keine Partei wird sich die Chance entgehen lassen, Vertrautes als Anti-Coronarezept neu aufzuwärmen. SPD und Linkspartei fordern höhere Steuern – wie immer; die FDP verlangt mehr Digitalisierung und weniger Staat – wie immer; die AfD kritisiert die Europäische Union – wie immer. Die Grünen sehen die Gelegenheit gekommen, nach dem Muster der Virusbekämpfung auch in der Klimapolitik hart durchzugreifen.

Die fortgesetzte Leidenschaft für das radikale Rezept überrascht bei den Grünen, sind sie doch der demoskopisch wahrscheinlichste Regierungspartner von CDU/CSU nach der Bundestagswahl Ende September. Sie gelten als im Bürgertum angekommene politische Kraft, als Revoluzzer von ehedem. Ihr Programm gibt das nicht her. Da reden die Grünen auch unter ihren Vorsitzenden Robert Habeck und Annalena Baerbock einem „sozial-ökologischen Umbau“ der gesamten Gesellschaft das Wort, in dessen Zuge es zur Umwertung von Werten käme, auf die die Bundesrepublik bisher gebaut war.

Die Verpflichtung, „die Umwelt zu schützen und zu erhalten“, wird im neuen grünen Grundsatzprogramm der Menschenwürde und der Freiheit vorgelagert. Um „deutlich weniger Autos und weniger unnötigen Verkehr“ zu erreichen, muss in die Bewegungsfreiheit ebenso eingegriffen werden wie in die bestehende Architektur der Städte und Kommunen. Wenn es Aufgabe der Politik ist, „bessere Regeln zu schaffen“, wird es ein Mehr an Regeln geben. Der „Schutz auch für schwächere Verbraucher*innen“ verlangt tiefe Eingriffe des Staates in den Markt. Das Leistungsprinzip der sozialen Marktwirtschaft wird nivelliert, wenn „im Wettbewerb erfolgreich sein soll, wer übergeordnete gesellschaftliche Ziele nicht konterkariert, sondern befördert.“ Und wer definiert jenen „gesamtgesellschaftlichen Wohlstand“, an dem sich alle wirtschaftliche Aktivität „ausrichten muss“?

Mit „Veränderung schafft Halt“ ist das grüne Grundsatzprogramm überschrieben. Im Disruptionsprogramm namens Corona-Krise erleben die Deutschen das Gegenteil: wie Veränderungen den Zusammenhalt gefährden. Deutschland erfindet sich unter Schmerzen neu, ohne sich gefunden zu haben.

 

Alexander Kissler

Alexander Kissler

Alexander Kissler studierte Literaturwissenschaften und Geschichte. Er arbeitet im Berliner Büro der NZZ und schrieb zahlreiche Sachbücher, zuletzt "Die infantile Gesellschaft. Wege aus der selbstverschuldeten Unreife".

Ein Gedanke zu „Risse im Beton. Mit der Corona-Krise gerät das deutsche Selbstverständnis ins Wanken“

  1. Der Autor hat in vielen Punkten recht. Ich selbst habe immer davor gewarnt, dass wir Deutsche mit vielen Dingen übertreiben. Wir haben uns immer als großartige Macher usw. gefühlt, man denke nur an den ständigen Verweis auf das Wirtschaftswunder nach dem 2.WK. Aber die Zeit davor, die vielen Irrtümer und v.a. die vielen Grausamkeiten, die wir an unseren Mitmenschen im Innern zwischen 1933 und 1945 (politische Gegner, Judenverfolgung, Holocaust, Rassenwahn, totale Überheblichkeit gegenüber anderen Völkern v.a. im Osten)begangen hatten, wurden großzügig zunächst einmal verdrängt, und dabei lagen wir völlig erledigt am Boden. Also wir schwankten eigentlich immer zwischen Selbstüberschätzung und Selbstzerstörung.

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