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Der gute Deutsche von Auschwitz

Otto Küsel war Häftling Nummer 2 im Konzentrationslager Auschwitz. Witold Pilecki schrieb über ihn, er sei ein Deutscher gewesen, der nie einen Polen geschlagen habe. Er gehörte zu einer Gruppe von dreißig deutschen Kriminellen, die 1940 in das damals gegründete Konzentrationslager in Oświęcim (Auschwitz) verlegt wurden. Als Funktionshäftlinge mussten sie den SS-Truppen Unterstützung leisten. Er unterstütze andere Häftlinge. Mit Piotr Cywiński, Direktor des Staatlichen Museums Auschwitz-Birkenau, sprach Aureliusz M. Pędziwol.

 

Aureliusz M. Pędziwol: Kanzlerin Angela Merkel verkündete 2019 zum zehnjährigen Bestehen der Stiftung Auschwitz-Birkenau, Deutschland werde sich mit einem bedeutenden Beitrag an ihrer Unterstützung beteiligen. Das bedeutete die Verdopplung des deutschen Beitrags auf 120 Millionen Euro. Was wird dadurch ermöglicht?

Piotr Cywiński: Dieser Beitrag ermöglicht es, die vor sieben Jahren begonnenen Arbeiten zu Ende zu führen – zum Beispiel an den Backsteinbaracken in Birkenau sowie an Objekten aus der Sammlung, an Schriftstücken aus dem Papierarchiv wie auch an anderen Überresten und Ruinen – sie werden dazu beitragen, das nötige Tempo wieder zu erreichen, um alles zu konservieren, bevor die Zeit uns die Vergänglichkeit des Materials vor Augen führt.

Für welche neuen Ideen reicht es nicht?

Das Stiftungskapital ist ausschließlich für die konservatorische Arbeit bestimmt. Es kann weder für Bildungsprojekte noch für irgendwelche anderen Unternehmen, etwa wissenschaftliche, verwendet werden. Die Stiftung war von Beginn an als internationales Instrument zur Sicherung der Lagerüberreste geplant.

Nach der Vertragsunterzeichnung mit Deutschlands Außenminister Heiko Maas schlugen Sie vor, Personen ausfindig zu machen, die gemeinsame polnisch-deutsche Helden des Zweiten Weltkriegs werden könnten. Als ersten schlugen Sie Otto Küsel vor, Häftling Nummer 2, der als ein Dieb nach Auschwitz kam und sich als ein Mensch mit großem Herzen erwies. Wie sucht man nach solchen Menschen? Oder muss man sie überhaupt nicht suchen? Im Grunde war Häftling Nummer 2 nicht gänzlich unbekannt.

Historikern war er bekannt. Er war denen bekannt, die sich tiefgehender mit der Lagergeschichte befassten. Dennoch kennt ihn die breitere Öffentlichkeit nicht. Ich habe nicht den Eindruck, dass irgendjemand schon einmal von Küsel gehört hätte. Das ist irgendeine Art Versehen. Sein Einfluss auf die Arbeit der Häftlinge war nämlich sehr groß und positiv – natürlich im Rahmen dessen, was im Lager möglich war. Es scheint mir, wir sollten die hellen Figuren dieser tragischen Geschichte zeigen, die brutal, mörderisch und sehr schwierig war. Menschen, die als Häftlinge selbst in schwierigen Lagersituationen waren, und sich dennoch bemühten zu helfen. Eben solch ein Mensch war Otto Küsel – ein Häftling, der so außergewöhnlich war, dass er ganz eindeutig polnische politische Gefangene im K.L. Auschwitz unterstützte.

Interview: Piotr Cywinski über Otto Küsel
Blick auf einen Wachturm in Auschwitz-Birkenau mit Baracken im Hintergrund © Wikimedia Commons

Und wurde der Häftling Nummer zwei genau deswegen die Nummer eins auf Ihrer Liste polnisch-deutscher Helden?

Küsel traf hier mit dem ersten Transport von dreißig Kriminellen ein, die Hauptfunktionshäftlinge im Lager werden sollten. Er selbst – ein Dieb aus Deutschland – wurde Chef des Arbeitsdienstes und hatte die Aufgabe, Häftlinge einem Kommando zuzuteilen.

In dieser ersten Phase, als es noch kein Judenvernichtungslager war, als es zum Großteil von polnischen Häftlingen besetzt war, knüpfte er sehr enge Kontakte, zum Teil vielleicht sogar Freundschaften. Am Anfang kümmerte er sich um einzelne Personen. Wenn er sah, dass jemand sehr geschwächt war, oder wenn er gebeten wurde, sich für jemanden einzusetzen, dann versuchte er, diesen Häftling für Aufgaben einzuteilen, die ihm die Chance gaben, sich gesundheitlich etwas zu erholen.

Küsel hatte entscheidenden Einfluss, auf viele verschiedene Weisen Leben zu retten. Eine Flucht aus dem Lager ist zum Beispiel schwer vorstellbar, wenn man nicht in einem Außenkommando arbeitet, das möglichst weit entfernt vom Lager operiert. Schwer vorstellbar wäre auch das Schmuggeln von Arzneien ins Lager, die von ortsansässigen Bewohnern im Feld vergraben und dann von Leuten eines Kommandos mit ins Lager gebracht und dem Krankenhaus übergeben wurden – das wäre schwierig, wenn sich die Zusammensetzung dieses Kommandos zu häufig geändert hätte. Es ist schwierig, sich eine ganze Reihe anderer Entscheidungen vorzustellen.

Die Menschen begannen, sich mit der Zeit im Lager zu organisieren. Es entstand eine polnische Widerstandsbewegung. Hätten sie sich zu schnell überarbeitet, hätten sie es nicht geschafft, diese Strukturen aufzubauen. Es mussten für sie also Arbeitsplätze in Gebäuden zugewiesen werden, sie mussten Zugang zu Informationen erhalten.

Was trieb Küsel an?

Wahrscheinlich reiner Anstand und der menschliche Drang, Gutes zu tun. Nach einiger Zeit musste ihm zweifelsfrei bewusst geworden sein, dass er etwas Organisiertes unterstützte. Darauf deuten verschiedene Berichte hin. Was noch schlimmer war, wahrscheinlich kam zu einem gewissen Zeitpunkt auch die Gestapo zu diesem Schluss, die seine Entscheidungen im Zusammenhang mit unterschiedlichen illegalen Aktionen untersuchte – seien es Fluchten oder andere organisiert anmutende Auffälligkeiten.

Aus diesem Grund floh Otto Küsel gemeinsam mit drei Polen[1] Ende 1942 aus dem Lager und versteckte sich in Warschau. Er wurde im September 1943 erwischt und wieder nach Auschwitz zurückgebracht. Ein Geständnis lehnte er ab, sagte, er würde vor der Gestapo nicht auf Deutsch aussagen…

Wahrscheinlich musste er sogar sagen, er beherrsche die Sprache nicht?

Ja, aber sie hatten natürlich sein ganzes Dossier. Er wurde geschlagen, in den Bunker gesteckt und saß da ziemlich lange. Von dort wurde er erst nach einem Wechsel der Lagerleitung entlassen. Im November 1944 wurde er ins K.L. Flossenbürg überführt. Dort erlebte er die Befreiung.

Polnische Häftlinge wollten sich bei ihm bedanken und ihn in gewisser Weise ehren, auszeichnen. Schon 1946, während der ersten Versammlung der polnischen KZ-Häftlinge, kam die Idee auf, ihm die Ehrenbürgerschaft Polens anzutragen. Übrigens hatte Küsel selbst gesagt, dass er sich nach dem Krieg in Polen niederlassen wolle. Manche solcher Aussagen wurden festgehalten.

Im Auschwitz-Prozess stritt er jedoch ab, er hätte sich in Polen niederlassen wollen.

Vielleicht, aber im Lager hatte er das gesagt, so ist es in den Archiven erhalten geblieben. Man muss auch daran erinnern, dass das Nachkriegs-Polen ein anderes Land war – kommunistisch, undemokratisch, es war nicht frei. Das könnte einen Einfluss auf seine Entscheidung gehabt haben.

In Auschwitz saß Küsel mit Cyrankiewicz [Józef Cyrankiewicz war nach dem Krieg zwei Mal Ministerpräsident der Volksrepublik Polen, von 1947-1952 und 1954-1970, Anm. d. Red.] in einer Zelle. Er hatte damit Kontakte auf höchster Ebene in Polen.

Das muss noch nichts beweisen.

Spielte wieder ein Gefühl des Anstands eine Rolle?

Das weiß ich nicht. Meine Quellen sind die Berichte der Häftlinge und sie betreffen den Aufenthalt im Lager. Seine Entscheidungen nach dem Krieg müssen Gegenstand anderer Studien sein.

Jedenfalls nahm Küsel an Anti-Nazi-Prozessen als Zeuge teil und wurde 75 Jahre alt. Er starb 1984. Er war ein Mensch, der vielleicht ausschließlich positiv in die Geschichte des K.L. Auschwitz eingegangen ist. Ich habe nicht einen Bericht über ihn gefunden, der negativ wäre. Es ist klar, dass er nicht alles tun konnte. Aber diejenigen, die sich an ihn erinnerten, taten dies sehr positiv. Dabei handelte und half er in Situationen, in denen es wirklich gefährlich war.

Könnten Sie uns solch einen Moment aus dem Lagerleben Küsels näher bringen, der Sie am meisten beeindruckt hat?

Von diesen Momenten gibt es viele. Vor allem die Versuche, Leute zu retten, die ihn darum baten, weil sie fühlten, dass sie es in einem Kommando nicht länger aushalten würden. Die Versuche, Ältere zu leichterer Arbeit zu versetzen. Das war sein Alltag.

Otto Küsel, Häftling Nummer 2 im K.L. Auschwitz © Archiv Auschwitz Museum

Funktionshäftlinge hatten eine unglaubliche Macht über die restlichen Häftlinge und fungierten ihnen gegenüber als Instrumente direkter Unterdrückung. Tatsache ist, dass einer von ihnen, ein Deutscher, sie nicht nur nicht quälte, sondern ihnen sogar freundlich gesinnt war, zu helfen versuchte und der für die übrigen Häftlinge ungewöhnlich wichtig war, auch unter einem psychologischen Aspekt. Sogar Rittmeister Witold Pilecki schrieb in einem seiner Berichte über ihn: „Ein Deutscher, der nie einen Polen geschlagen hat“. Heute mag das banal klingen, aber Funktionshäftlinge, die nicht schlugen, waren im Lager eine Seltenheit.

Gab es nur einen solchen Deutschen in Auschwitz?

Hinsichtlich anderer Deutscher haben wir manchmal sehr wohlwollende Berichte darüber, dass sie bei etwas halfen, etwas vor der Entdeckung versteckten oder jemandem zur Hand gingen. Andere aber sagten über dieselben Personen, sie würden prügeln, Nummern vermerken und sie der SS oder der Gestapo melden. Die Berichte waren folglich nicht so eindeutig. Ich stieß jedoch auf keinen einzigen Bericht, in dem Otto Küsel als Folterknecht dargestellt wurde.

Und was würden Sie in seinem Lebenslauf in den Vordergrund stellen, ich meine im Sinne dieser Idee von gemeinsamen Helden?

Dass er ein Deutscher war. Und noch dazu ein „grüner Winkel“, also eine gefährliche Kategorie von Funktionshäftlingen [Im Lagerjargon wurden so kriminelle Häftlinge bezeichnet, weil sie grüne Dreiecke als Aufnäher trugen, die mit der Spitze nach unten zeigten. Rote Dreiecke standen für politische Häftlinge, rosa für Homosexuelle, lila für Zeugen Jehovas, schwarz für Asoziale. Juden mussten zwei übereinander gelegte Dreiecke tragen, die einen Davidsstern bildeten, Anm. d. Red.].

Wie aus den Häftlingsberichten hervorgeht, wurde Küsel zu einem bestimmen Moment klar, dass die Menschen oftmals ohne Grund in das Lager gesperrt wurden – sie wurden beispielsweise während einer Straßenrazzia festgenommen. Das hat ihn wohl beeinflusst, weil er ziemlich schnell damit begann, sich mit den Menschen anzufreunden, die sich in Auschwitz ohne irgendeinen kriminellen Grund befanden. Und er half ihnen.

Offensichtlich machte er eine fundamentale Wandlung durch, vielleicht hin zu einem Verständnis, wo Gut und Böse liegen. Das ist auch sehr deutlich im Lichte der Häftlingsberichte zu erkennen. Im Lager lernte er schnell Polnisch und zu Heiligabend, der 1940 im Geheimen begangen wurde, sang er zusammen mit den Polen die polnische Hymne „Noch ist Polen nicht verloren“.

Während des Auschwitz-Prozesses sagte er auch aus, dass er nur mit Polen darüber gesprochen hätte, wer erschossen oder wer geschlagen wurde. Niemals mit Deutschen.

Er hatte natürlich Angst. Er fürchtete die deutschen Funktionshäftlinge, da sie eine völlig andere Position im Lager hatten, die sehr viel näher an den wirklichen Folterern dran waren, also an der SS. Sie waren durch Spezialgesetze und Privilegien geschützt. Wenn man sich vor ihnen allzu sehr geöffnet hätte, wäre das für ihn ausgesprochen riskant gewesen.

Ich wage anzunehmen, dass Sie weitere solcher Kandidaten wie Otto Küsel als polnisch-deutsche Helden haben. Stimmt das?

Der Zweite Weltkrieg begrenzte sich nicht auf Auschwitz. Ich habe den ersten vorgeschlagen. Nun muss man an einer breiten Front weitere Menschen suchen, denen es in der damaligen Zeit nicht nur gelang, sich anständig zu verhalten, sondern auch solidarisch mit den Opfern zusammenzuarbeiten.

Und wie stellen Sie sich solch eine Suche vor?

Erstmal habe ich die Idee in den Raum gestellt. Nun schauen wir, ob sie aufgegriffen wird. Nach dem Krieg blieben gigantische Archive erhalten. Dokumente, Berichte, die sich wirklich nicht nur auf Auschwitz begrenzen. Das ist nicht nur das Werk eines einzelnen Ortes, einer einzelnen Person.

Schauen wir, ob die Idee aufgegriffen wird. Ich denke, wir sollten heute wirklich die Persönlichkeiten finden und uns an sie erinnern, die sich auf irgendeine Weise positiv verhalten haben – human, solidarisch, menschlich in Zeiten, als es gefährlich war, sich zu diesen Werten zu bekennen. Jene, die dieses Risiko eingegangen sind, sollten wir der Jugend und der zukünftigen Generation als Beispiele zeigen, die sie zum Nachdenken anregen. Es gibt sicherlich keinen Mangel an diesen Personen, mir scheint, wir müssen sie nur suchen.

Außenminister Maas hat Ihren Vorschlag wohlwollend aufgenommen. Es besteht also Hoffnung, dass die Idee nicht verworfen wird. Aber haben Sie keine Angst vor negativen Reaktionen? Ich vermute, es fehlt nicht an Leuten, denen Ihr Vorschlag von Grund auf missfällt. Oder haben Sie solche Stimmen sogar schon erreicht?

Ja, es gibt diese Stimmen schon im Internet. Diese Leute haben eine wahnsinnige Abneigung dagegen, weil es ihre schwarz-weiße Sicht auf die Vergangenheit zerstört. Die entspringt vor allem aus einer tiefen Unkenntnis der Realität und der Lagergeschichte. Das wahre Bild ist niemals schwarz-weiß.

Ich stütze mich auf Häftlingsberichte. Und eben im Fall Otto Küsels sind diese absolut unmissverständlich. Einschließlich der von mir zitierten Worte Witold Pileckis, aber auch anderer verdienter Häftlinge wie z.B. von Kazimierz Piechowski, der ein Mitorganisator der berühmten Flucht aus Auschwitz mit einem Auto der Kommandantur war. Sie alle sprachen in sehr, sehr guter Weise von Küsel und unterstrichen, dass vieles ohne seine Hilfe nicht gelungen wäre.

Ich möchte noch betonen, dass mein Vorschlag in keiner Weise propagandistischer Natur ist. Er ist moralischer Natur. Mir geht es um das Entdecken der stillen Helden, die sehr viel geleistet haben, aber möglicherweise vergessen wurden.

 

[1] Das waren Jan Baraś (eigentlich Komski), Mieczysław Januszewski und Bolesław Kuczbara. Sie flohen am 29. Dezember 1942.

 

Aus dem Polnischen von Ricarda Fait


Direktor Museum Auschwitz-Birkenau
Piotr Cywiński © Wikimedia

Piotr Cywiński ist Mediävist und seit 2006 Direktor des Staatlichen Museums Auschwitz-Birkenau. Seit 2009 ist er außerdem Vorsitzender der von ihm mitgegründeten Stiftung Auschwitz-Birkenau.


Aureliusz M. Pędziwol Autor bei DIALOG FORUM

Aureliusz M. Pędziwol, Journalist, arbeitet mit der polnischen Redaktion der Deutschen Welle zusammen. Er war 20 Jahre lang Korrespondent des Wiener WirtschaftsBlattes und für zahlreiche andere Medien tätig, darunter für die polnischen Redaktionen des BBC und RFI.

Gespräch

Gespräch

2 Gedanken zu „Der gute Deutsche von Auschwitz“

  1. Ich habe heute erst den Artikel gelesen. Vielen Dank, dass sie so nett von meinem geliebten Opa schreiben.
    Er war ein ganz besonderer Mensch, was mir viele Berichte über ihn bestätigen.

  2. Eine wunderbare Idee, stille unbekannte Helden vor dem Vergessen zu bewahren. Dass es auch in finsteren Zeiten möglich ist, Menschlichkeit zu zeigen, ist ermutigend.
    Schöner Artikel

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