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Später Applaus für einen vergessenen Vordenker der europäischen Integration

Zum Buch von Hans-Wolfgang Platzer: „Bronisław Huberman und das Vaterland Europa. Ein Violinvirtuose als Vordenker der europäischen Einigungsbewegung in den 1920er und 1930er Jahren“

 

Europa wäre viel erspart geblieben, hätte die Vision Bronislaw Hubermans in den 1920er und 30er Jahren mehr Anhänger unter den Mächtigen gefunden. Hubermans „Vaterland Europa“ war ein Kontinent offener Grenzen und offener Märkte, es war bürgernah, demokratisch und sozial – ein krasser Gegensatz zur Realität der Zeit, die er erlebte.

Das musikalische Genie des Starviolinisten Huberman und vor allem sein Aufbau des Palestine Orchestra, das zur Rettung für jüdische Musiker aus Europa wurde, sind recht gut erforscht. Seine weitsichtigen Gedanken zur europäischen Einigung und sein leidenschaftliches Wirken für die Paneuropa-Bewegung hingegen wurden wissenschaftlich kaum aufgegriffen. Es ist bezeichnend, dass der Politikwissenschaftler Hans-Wolfgang Platzer, der intensiv zur Geschichte der Europäischen Integration geforscht hat, selbst bekennt, nur zufällig durch eine Fußnote auf das paneuropäische Wirken Hubermans gestoßen zu sein. Es stand ihm dazu wenig Sekundärliteratur zur Verfügung, er stützt sich also vor allem auf Schriften und Korrespondenzen Hubermanns. Die Publikation schließt eine erhebliche Lücke in der der Würdigung Hubermans und wirft zugleich einen lehrreichen Blick auf die Entwicklung der Idee eines geeinten Europa.

Bronisław Huberman, polnisch-jüdischer Abstammung, wurde 1882 in Częstochowa geboren. Auf der Geige galt er als Wunderkind. Er nahm Unterricht in Berlin und Paris und ging schon als Jugendlicher auf Konzerttourneen durch Europa und die USA, später um die ganze Welt.

Rezensio
Bronislaw Huberman (links) mit Paul Hindemith (rechts) 1933 © Wikimedia Commons

Der Geiger, dessen Spiel zeitgenössische Kritiker als „expressionistisch, extrem und kompromisslos“ feierten, war jedoch nicht nur Virtuose, sondern auch homo politicus. Die innere Verbindung zwischen Kunst und Politik sah er durch die soziale Funktion von beidem gegeben. Noch tief erschüttert vom Ersten Weltkrieg und dessen Auswirkungen auf Europa erlebte er 1920 die USA als Inspirationsquelle, als Beispiel eines prosperierenden, demokratischen Gemeinwesens. Eine Besichtigung der Ford-Werke in Detroit fand Huberman „nicht weniger atemberaubend (…) als eine Partitur von Stravinsky“.  Wäre eine solche Produktion, ein solch gigantischer Binnenmarkt und solch ein relativer Wohlstand breiterer Bevölkerungsschichten nicht auch in Europa möglich? Könnte Europa nicht auch so verfasst sein? Seine Gedanken vom „Vaterland Europa“ nahmen Gestalt an. Es geschah in den USA, schrieb Hubermann, dass er zum Paneuropäer wurde.

Mit dem Vorsatz, eine entsprechende Bewegung zu gründen, kehrte er aus den USA zurück und stellte fest, dass es diese Bewegung bereits gab. Begeistert schloss sich Huberman der Paneuropa-Union um den Grafen Coudenhove-Kalergi an und widmete ihr fortan viel Zeit. Seine Bekanntheit als Musiker nutzte er, um auch öffentlich für ein vereinigtes Europa einzutreten.

Platzer macht deutlich, vor welchem zeitgeschichtlichen Hintergrund Hubermans Engagement stand. Nach dem Schrecken des Ersten Weltkrieges gewann die Idee eines friedlich vereinten Europa an Strahlkraft. Verschiedene Gruppierungen warben v.a. seit den 1920er Jahren für europäische Zusammenarbeit, in der Publizistik war das Thema Europa sehr präsent. Es gelang nun auch, den europäischen Einigungsgedanken aus dem öffentlichen in den politischen Raum zu tragen.

Die Paneuropa-Union hatte unter all den proeuropäischen Gruppen, die keineswegs alle am gleichen Strang zogen, eine Vorreiterrolle inne. Mit Komitees in vielen europäischen Ländern hatte sie bereits länderübergreifende Strukturen errichtet. Huberman initiierte das Komitee in Polen. Die Paneuropa-Union publizierte, hatte einflussreiche Persönlichkeiten in den eigenen Reihen und hielt große Kongresse ab.

Huberman war, wie Platzer aufzeigt, unter den vielen Visionären ein visionärer Realist. Er wollte keine bloßen Utopien entwickeln. Er schaffte unaufhörlich, legte sogar lange Konzertpausen ein, um sich politisch und ökonomisch weiterzubilden und um statistische Daten zur Untermauerung seiner Thesen zu erheben. Er sprach auf Kongressen, gab Interviews und veröffentlichte Artikel. Für Huberman war die Ökonomie der Schlüssel. Eine politisch eingebettete europäische Zollunion hielt er für den entscheidenden ersten Schritt, aus dem sich dann „organisch“ weitere Schritte der Integration ergeben würden. Er sah die Chance, Europa zu einem gigantischen Binnenmarkt zu vereinen, in dem der Wohlstand breiter Schichten und somit die Zufriedenheit der Menschen wüchse, in dem nicht nur Eliten, sondern die Masse der Bevölkerung sich mit Europa identifizierte und Kriege unmöglich würden.

Natürlich hatte der Musiker auch die kulturelle Dimension im Blick. Die verbindende Kraft der Musik hatte er schon während des Ersten Weltkriegs erlebt: „(…) ich, der Pole, führte trotz meines offiziellen Standes als feindlicher Staatsangehöriger in Berlin im Jahre 1917 das Meisterstück des Russen Taneieff (…) auf, und in Paris im ersten Jahre nach dem Waffenstillstand spielte ich die Sonate des Deutschen Richard Strauss.“ Sehr zur Begeisterung des Publikums. Ebenso hielt Hubermann 1925 fest: „Es hat keine Zeit gegeben, auch nicht während der schlimmsten deutsch-polnischen Verhetzungen, in der man nicht deutsche Künstler in Polen und polnische Künstler in Deutschland mit Begeisterung aufgenommen hätte.“ Das heute geläufige Schlagwort „Einheit in Vielfalt“ klingt schon deutlich an, wenn Hubermann die kulturelle Vielfalt Europas als Bereicherung und verbindendes Element darlegt.

Mit der Machtübernahme der Nationalsozialisten in Deutschland endeten zunächst die Aktivitäten der Paneuropa-Union und die Hoffnung auf ein friedliches und vereintes Europa rückte in die Ferne. Hubermann wurde immer intensiver von seinem humanitären Engagement rund um das Palestine Orchestra in Beschlag genommen. Noch 1932 hatte er bei seinen letzten Konzerten in Deutschland Hitler kritisiert; ab 1933 weigerte er sich dann, in Deutschland aufzutreten. In einem offenen, international publizierten Brief rechnete er 1936 voller Enttäuschung und Bitterkeit und teilweise namentlich mit dem Schweigen vieler deutscher Intellektueller ab. Vergebens warte er seit den Nürnberger Gesetzen auf ihre Empörung, auf eine Tat der Befreiung.

Platzers Studie zeigt abschließend, an wie vielen Punkten Hubermans Ideen nach 1945 Realität wurden; sei es die politisch eingebettete Zollunion oder auch der Verweis auf die utilitaristische Triebfeder der beginnenden europäischen Einigung. Manche Desiderate Hubermans sind auch heute noch nicht erfüllt: die europäische Armee, eine starke, länderübergreifende europäische Partei oder das Europa der Bürger. Sie liegen aber auch nicht im Bereich des Utopischen.

Wenn man sich auch zu bestimmten Aspekten wie etwa Hubermans innerer Verbindung zwischen Kunst und Politik oder seiner Positionierung innerhalb der Paneuropa-Union bisweilen etwas mehr Vertiefung wünschen mag und auch wenn man dem Menschen Huberman durch die Lektüre wenig näher kommt, bietet Hans-Wolfgang Platzer doch einen intensiven und spannend erzählten Einblick in Hubermans Gedankenwelt, klar eingebettet in ihren bewegten zeitgeschichtlichen Hintergrund. Es ist erhellend, vor Augen geführt zu bekommen, wie viel von den Errungenschaften des Europas, in dem wir heute leben, schon lange vor seiner Verwirklichung gedacht und ersehnt wurde. So schließt Platzer seine Studie denn auch mit einem deutlichen Plädoyer gegen die grassierende Geschichtsvergessenheit und, ganz im Sinne Hubermans, gegen eine Rückkehr zu einem Europa voller Rivalität und Nationalismus.


Rezension Katharina AbelsHans-Wolfgang Platzer: „Bronislaw Huberman und das Vaterland Europa. Ein Violinvirtuose als Vordenker der europäischen Einigungsbewegung in den 1920er und 1930er Jahre“

ibidem-Verlag, 2019

ISBN-13: 9783838213545

 

 

 

Katharina Abels

Katharina Abels

Katharina Abels ist Kulturwissenschaftlerin, sie studierte in Marburg, Frankfurt (Oder) und Warschau. Sie arbeitet als Wissenschaftliche Mitarbeiterin im Deutschen Bundestag. Ihr besonderes Interesse gilt den deutsch-polnischen Beziehungen und Israel.

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