Das Jahr 2021 markiert die Hälfte der zweiten Amtszeit der Regierung von „Recht und Gerechtigkeit“ (PiS). Ganz wie ihre Vorgängerinnen, zeigt die Partei Jarosław Kaczyńskis bereits deutliche Zeichen von Amtsmüdigkeit. Doch im Unterschied zu den vorherigen Regierungen, die bis zum Ende ihrer Amtszeit keine sonderlichen Probleme hatten, ihre Mehrheit im Sejm zu halten, gibt es jenseits der eigenen Verlautbarungen faktisch keine Vereinigte Rechte mehr. Einschlägig Interessierte sehen die Gefahr, die Rechte könne den Weg der Wahlaktion Solidarność (AWS) gehen, doch sind die Konfliktpunkte derart zahlreich, dass diejenigen, die alt genug sind, um sich an AWS-Zeiten zu erinnern, dabei eher an den Konvent der Heiligen Katharina denken [an der Jahreswende 1994/95 in der Warschauer Katharinengemeinde geführte Sondierungsgespräche konservativer und rechtsgerichteter Parteien bei dem gescheiterten Versuch, ihre Wahlprogramme abzustimmen und einen gemeinsamen Präsidentschaftskandidaten zu nominieren; A.d.Ü.]. Jarosław Kaczyński kann von Glück reden, dass sich die Polen nicht zuletzt wegen der Covid-19-Pandemie mit derart vielen Problemen herumschlagen, dass sie für die Schwierigkeiten ihrer nationalen Führung kaum noch Aufmerksamkeit übrighaben.
Nüchtern betrachtet, müssten die Umfragewerte von Recht und Gerechtigkeit wenigstens seit dem Herbst 2020, spätestens seit vergangenem Winter in den Keller gegangen sein. Polen war auf die Pandemiewelle im Herbst völlig unvorbereitet, so dass ein starker Anstieg der Sterblichkeit nicht ausbleiben konnte – sowohl aufgrund von Covid-19 wie auch aufgrund der Covid-19-Pandemie. Denn offenkundig führte die Umstellung des Gesundheitswesens auf die Rettung von Covid-Patienten mit schweren Krankheitsverläufen dazu, dass anderen Notfällen der Zugang verwehrt oder zumindest sehr erschwert wurde. Das Ergebnis? Platz drei innerhalb der Europäischen Union bei den sogenannten vermeidbaren Todesfällen im Jahr 2020. Nur dass diese überschüssigen Todesfälle, wie drastisch das auch immer klingen mag, unter polnischen Bedingungen weder überschüssig noch vermeidbar waren. Wie konnten wir nur erwarten, dass eines der europaweit am stärksten unterfinanzierten und von Personalmangel geplagten Gesundheitssysteme erfolgreich den Kampf gegen die Pandemie hätte bestreiten können?
Im Frühjahr 2021 wiederholt sich das Ganze, da die Regierenden aus Fehlern nichts zu lernen scheinen. Nicht nur nichts aus fremden Fehlern – auch andere Länder haben sich bei der Bekämpfung der Pandemie schwere Fehlleistungen erlaubt, um nur einmal die Jarosław Kaczyński so nahestehenden „Brudernationen“ in unserem Süden, Tschechien und die Slowakei zu nennen; vor allem aber lernen sie nichts aus eigenen Fehlern, von denen der wohl schwerste ist, kritische und vielleicht auch unerwünschte Expertenmeinungen zu ignorieren. Sich im Besitz der alleinigen Wahrheit zu befinden, wie es Regierung oder Regierungslager für sich in Anspruch nehmen, obsiegte gegen die naheliegende Feststellung, Pluralismus sei eine Stärke, keine Schwäche, solange wir noch nach den richtigen Lösungen suchen.
Die im Dezember getroffene Entscheidung, praktisch ohne Kontrolle zu Weihnachten Einreisen von Polen aus Großbritannien zuzulassen, und besonders die vom Januar/ Februar, die Schulen für die unteren Klassen zu öffnen, die Restriktionen ohne Eindämmung der besonders infektiösen britischen Mutation zu lockern, führten an der Wende von Februar zu März zum Ausbruch einer dritten Pandemiewelle, die einen noch viel schmerzlicheren Anstieg der Sterblichkeit nach sich ziehen wird.
Als im April 2021 die Tageszeitung „Rzeczpospolita“ eine Umfrage durchführte, wie die Regierungspolitik in Sachen Pandemie zu beurteilen sei, antworteten nur 14,5 Prozent der Befragten mit „gut“ oder „sehr gut“. 27 Prozent entschieden sich für „durchschnittlich“, 18 Prozent für „schlecht“ und 34 Prozent für „sehr schlecht“. Nur sechs Prozent hatten dazu keine Meinung. Trotzdem führt PiS weiterhin in den Wahlumfragen. Nichts weist darauf hin, dass die Partei ihren ersten Platz verlieren könnte, auch wenn Szymon Hołownias Partei „Polen 2050“ in einigen Umfragen um Haaresbreite vor Kaczyńskis Lager liegt. Die Bürgerkoalition (KO), die sich selbst als stärkste Oppositionskraft sieht, landet dagegen in den Umfragen immer häufiger nur auf Platz 3.
Weder die schlechte Bewertung im Umgang mit der Pandemie noch selbst Affären wie die des Daniel Obajtek [Vorstandsvorsitzender des größten polnischen Staatskonzerns ORLEN, der sich Betrugs- und Korruptionsvorwürfen stellen muss, Anm. d. R.], der gewiss nicht Ministerpräsident wird, wozu ihm selbst seine gottgegebene Aura nicht mehr verhilft, über die sich der Vorsitzende Kaczyński ausgelassen hat, noch auch die brutale PiS-Politik gegen die Frauenproteste – an PiS bleibt nichts hängen. So wie einstmals an Donald Tusk, der nicht umsonst „Teflon“ genannt wurde.
Wieso ist das so? Es wäre voreilig, auf einen einzigen Grund zu verweisen. Denn es gibt sicher mehrere Gründe und die teflonartige Fähigkeit von Recht und Gerechtigkeit, alles von sich abprallen zu lassen, resultiert aus dem Zusammenwirken dieser Gründe.
Zum einen hat PiS einen beständigen, harten Kern an Wählern, die der Partei ihre Stimme geben, komme, was da wolle. Das ist keine kleine Wählerbasis; sie umfasst wenigstens 20 bis 25 Prozent. Sie ist entschlossen und diszipliniert.
Zum andern veranlassen Ungewissheit und mangelnde Stabilität, also in Zeiten der Pandemiekrise nachvollziehbare Stimmungen, einen Teil der Wähler, die sonst möglicherweise ihre Stimme einer anderen Partei geben würden, für den Teufel zu stimmen, den man kennt, selbst wenn er die schlimmere Wahl sein sollte. Denn in der Politik fallen Wahlentscheidungen gegen alle Bedenken. Wenn die Welt in eine unbekannte Richtung treibt, wenn in ein-zwei Monaten vielleicht eine noch gefährlichere Virusmutante auftaucht oder ein ganz neuer Virus, ist es dann an der Zeit zu überlegen, wem sonst die Regierungsgeschäfte anzuvertrauen sind? (So denken viele Polen.) Soll die Regierung doch weitermachen, vielleicht lernt sie es ja noch? Vielleicht räumt sie endlich mal ihre eigene Unordnung auf? Zumal kaum auszumachen ist, wer eine überzeugende Alternative darstellt und das in Krisenzeiten so nötige Sicherheitsgefühl bieten könnte.
Verfassungsbruch, Einschränkung der Bürgerrechte, Angriff auf die Frauenrechte und die Unabhängigkeit der Medien, Loslösung von den EU-Institutionen, das alles war Zündstoff gegen die PiS-Regierung, der aber großteils schon verpufft ist. Wenn wir in unserer Gegenwart nach Bezügen zur Vergangenheit suchen, zu der verdientermaßen untergegangenen gesellschaftspolitischen Ordnung (die aber ständig in Erinnerung gehalten wird, nicht zuletzt dank des Engagements der öffentlichen Medien und der unschätzbaren Rolle des Fernsehsenders TVP), leben wir in Zeiten eines radikalen Rückzugs aus dem öffentlichen Leben ins Private.
Dazu trägt selbstverständlich die Pandemie außerordentlich bei. In unseren Häusern eingeschlossen, erfahren wir nur aus unseren Medien‑ und Internetblasen, was sich draußen abspielt. Selbst wenn wir einmal rausgehen, sorgen wir für möglichst wenig sozialen Kontakt. Die wichtigsten Fragen drehen sich um den Arbeitsplatz und ein gesichertes Einkommen. Dass Kaczyński möglicherweise unsere EU-Mitgliedschaft beendet, ist wichtig, ist es aber etwa weniger wichtig, dass sich bei der externen Prüfung das Internet aufhängt? Die veröffentlichten Sterblichkeitsraten sind bedrückend, aber ist es nicht ganz unsarkastisch gesprochen wichtiger, dass wegen der Verschiebung einer Operation nicht etwa an Covid-19, sondern an einem ganz gewöhnlichen Tumor ein nahestehender Mensch verstorben ist? Zorn und Bitterkeit richten sich nicht unbedingt gegen die Regierung, schließlich hat Doktor X nach hinausgeschobener Diagnose die schlechten Nachrichten überbracht, und Doktor Y vor einigen Monaten keine Sprechstunden abgehalten…
Dies ist eines der größten Rätsel der jüngsten Zeit. Es ist mit bloßem Auge und wahrlich ohne jedes Expertenwissen zu erkennen, dass sich die Lage im Gesundheitswesen im Laufe der sechs Jahre der PiS-Regierung keineswegs verbessert hat, ganz im Gegenteil. Es ist schlimmer, als es war – doch den Leuten wird mit Erfolgspropaganda großzügig Sand in die Augen gestreut. Von der Pandemie lässt sich natürlich nicht absehen, aber sie ist ein unabhängig von der PiS-Regierung wirkender Faktor. Also einmal abgesehen von der Pandemie, hat sich die Finanzausstattung nicht verbessert; die Gehälter im Gesundheitswesen sind zwar gestiegen, fallen aber im Verhältnis zum Landesdurchschnittseinkommen; die Wartelisten sind länger geworden. Und das schon vor der Pandemie – denn nach einem guten Jahr des Arbeitens unter Covid-Bedingungen schießt die sogenannte Gesundheitsschuld in den Himmel. Und das, obwohl für die polnische Öffentlichkeit schon lange das Gesundheitswesen eine absolut vorrangige Regierungsaufgabe darstellt. Mit unveränderter Beharrlichkeit behaupten die Entscheidungsträger, sie behandelten Gesundheit selbstverständlich prioritär – ohne dass das den geringsten Einfluss auf ihre Entscheidungen hätte. Und mit ebensolcher Beharrlichkeit ziehen die Wähler daraus keinerlei Schlüsse.
Das Teflon lässt alles abperlen. Solange, wie sich keine Risse zeigen. Daran gibt es im Lager der Vereinigten Rechten keinen Mangel, aber bis zum kritischen Punkt ist es offenbar noch weit. Vorgezogene Neuwahlen? Dazu wird sich Recht und Gerechtigkeit eher nicht entschließen, auch wenn die Partei immer noch an der Regierung bleiben könnte. Der Grund? Vor allem die Angst, es könnte sich das Jahr 2007 wiederholen. Damals schien es auch so, als würde Jarosław Kaczyńskis Regierungsmandat durch die Wahlen nochmals bestätigt. Das passierte nicht, und PiS verlor für lange acht Jahre die Macht.
Ein zweiter Grund ist aber auch die Hoffnung. Wenn jemand in Polen noch hoffnungsvoll ist, dann ist es die Führungsriege von PiS. Die Hoffnung, dass sich dank der EU-Gelder aus dem Wiederaufbauprogramm nicht nur die Pandemiekrise wird bewältigen lassen, sondern auch ein zivilisatorischer Sprung erfolgen kann. Ein Sprung zum ganz großen Geld natürlich auch, wie die der Regierung nicht wohlgesonnenen Publizisten kommentieren, aber das gewissermaßen nur im Nebenbei. Die PiS-Partei hat in den sechs Jahren ihrer Regierung vollauf begriffen: Die Gesellschaft wird es der Regierung solange gestatten, sich an den staatseigenen Betrieben zu bereichern, an den Fonds, Agenturen, Aufsichtsräten und Verwaltungen, sie wird das solange nicht negativ bewerten, wie frisches Geld in die eigenen Taschen fließt. Ist das nicht auch eine „Rückkehr in die Vergangenheit“, ein „das hatten wir doch schon mal“, ein „wie zu Giereks Zeiten“ [als in den 1970er Jahren die Staatsführung die schlechte Wirtschaftslage durch mit westlichen Krediten finanzierten Konsum verschleierte; A.d.Ü.]? Siehe oben.
Heißt das, PiS wird ewig regieren und ist zum Erfolg verdammt, ungeachtet aller Skandale und Fehler? Nicht unbedingt. Ein Wahlsieg garantiert noch keine für die Regierungsbildung nötige Mehrheit. Alles kommt darauf an, welche Parteien in den nächsten Sejm einziehen und wie die auf die Oppositionsparteien abgegebenen Stimmen sich verteilen. Ein annähernd so gutes Ergebnis für die größte Anti-PiS-Partei, ein zweistelliges Ergebnis für die drittplatzierte Partei (in diesem Moment lässt sich die Reihenfolge Hołownias Polen 2050 und Bürgerkoalition vorhersagen) sowie der Einzug der Polnischen Volkspartei (des PSL) und der Linken (was gewiss ist) in den Sejm – das zusammen ergäbe die Aussicht, Jarosław Kaczyński das Regierungsruder aus der Hand nehmen zu können.
Die Opposition sollte jedoch den Mund nicht zu voll nehmen und meinen, sie hätte den Sieg schon in der Tasche. Noch wissen wir nicht, in welcher Konstellation PiS in die Wahlen geht, auf sich gestellt oder im Wahlbündnis als Vereinigte Rechte (was nach heutiger Lage ein Witz wäre). Wenn als Vereinigte Rechte, dann ganz vereinigt, oder etwa ohne Jarosław Gowin oder vielleicht auch ohne Zbigniew Ziobro? Auch die „Konfederacja“ (Konföderation) kann mit Sicherheit in den Sejm einziehen, die von der Anti-Corona-Stimmung eines Teils der jungen Wähler getragen wird. Der andere Teil wird ziemlich sicher seine Stimme für die Linke geben, die damit Chancen hat, ihr Ergebnis von 2019 zu verbessern.
Dann gibt es da allerdings noch den „New Deal“ der Regierung. Stark vereinfacht, besteht dessen Agenda darin, eine großen Menge Bargeldes aus den Taschen der „Vermögenden“ zu nehmen (wobei die Anführung hier mehr als berechtigt ist, weil die Vermögensgrenze sich gerade einmal auf das Anderthalbfache des Landesschnitts belaufen soll), um es teilweise in die Taschen der Menschen mit den geringsten Einkommen umzuleiten. Die Linke, so lässt sich denken, scharrt bereits vor Ungeduld mit den Hufen, um solche Veränderungen zu befürworten, zumal die Regierung verspricht, einen Teil des Geldes in die öffentlichen Dienstleistungen zu stecken, so insbesondere in das Gesundheitswesen. Der „New Deal“ wird also wahrscheinlich die einheitliche Anti-PiS-Front der demokratischen Opposition zerschlagen. Diese vor den nächsten Wahlen wieder zusammenzuflicken, in die jede Partei natürlich einzeln hineingeht, kann einige Zeit dauern.
Aus dem Polnischen von Andreas R. Hofmann