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Kern(europa)spaltung? Polens Energiewende und das Weimarer Dreieck

Am 11. März 2021 hat sich die Nuklearkatastrophe von Fukushima zum zehnten Mal gejährt. Dieser runde Jahrestag betrifft in diesem Zusammenhang, wenngleich nicht ganz genau auf den Tag, auch die Entscheidung der Bundesregierung zum offiziellen Atomausstieg Deutschlands, der bereits durch den „Atomkonsens“ vom Juni 2000 eingeläutet worden war. Das zwiespältige Verhältnis der Deutschen zur Kernkraft war schon 2011 zwar nichts Neues. Das Misstrauen zu dieser Energiequelle findet schon in der Zeit des Kalten Kriegs seinen Ursprung und nährte sich zunächst an der westdeutschen Vernichtungsangst vor den auf beiden Seiten des Eisernen Vorhangs stationierten atomaren Sprengköpfen, die im – wenn auch sehr unwahrscheinlichen – Falle einer Anwendung in der Tat in erster Linie auf deutschem Boden verheerende Folgen nach sich gezogen hätten. Die Angst vor dem nuklearen Feuer kolonisierte die westdeutsche Gefühlskultur in solchem Maße, dass das gesellschaftliche Verlangen nach Vorbeugungsmaßnahmen selbst demokratische Grundwerte der Bundesrepublik hintan zu stellen vermochte (Stichwort: „Lieber rot als tot!“). Die Geburt der Grünen als politische Kraft speiste sich auch an der Ausweitung der gesellschaftlichen Absage an die Kernkraft auf deren zivile Anwendungen, insbesondere nach der Katastrophe von Tschernobyl im April 1986. Zwar entstanden in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts in Deutschland insgesamt immerhin mehr als hundert Kern- oder Forschungsreaktoren. Aber der gesellschaftliche und politische Drang gegen Bau und Betrieb von Atomkraftwerken nahm immer mehr zu. Der atomare Betriebsschluss ist inzwischen beschlossene Sache und sollte spätestens Ende 2022 eintreten.

Etwa im selben Zeitraum, also in den vergangenen zehn bis fünfzehn Jahren, hat dagegen in Polen das energiepolitische Interesse an Alternativen zur Kohle nach und nach zugenommen, auch wenn das Land bis jetzt weiterhin auf diese Quelle angewiesen und (innen)politisch fixiert ist. Bergbau ist in Polen eine nationale Angelegenheit, und der polnische Staat tut sich seit Jahren schwer, um diesen nicht mehr konkurrenzfähigen wirtschaftlichen Sektor – je nach Lage auch aus wahlpolitischen Gründen – durch kostspielige Staatssubventionen halbwegs über Wasser zu halten. Immerhin hat die polnische Regierung im Februar 2021 recht unerwartet bekannt gegeben, dass Polen nun doch den Kohleausstieg anstrebe, allerdings nicht auf absehbare Zeit: Als Horizont wurde 2049 angepeilt. Damit stellt sich jedoch die Frage nach anderen Energiequellen noch akuter. Selbst wenn Wind- und Sonnenenergie auch in Polen immer breitere Anwendung finden, setzt man dort – insbesondere unter der PiS-Regierung – nicht unbedingt auf einen deutschen Kurs. Warschau plant vielmehr den Einstieg in die Kernkraft. Im Oktober 2020 wurde mit den Vereinigten Staaten ein entsprechendes Abkommen unterzeichnet, das den Bau eines ersten Atomkraftwerks in Polen vorsieht; bis 2043 sollten insgesamt sechs AKWs entstehen.

Damit besteht ein nicht zu unterschätzendes Konfliktpotenzial in den deutsch-polnischen Beziehungen, das auch auf europäischer Ebene ausgetragen werden könnte. Deutschland ist dem polnischen Vorhaben nämlich nicht sonderlich positiv gesinnt, zumal die Bundesregierung es sich zum Anliegen gemacht hat, für einen allgemeinen Atomausstieg in der EU zu werben. Zwar scheint es angesichts der französischen Position zurzeit eher unwahrscheinlich, dass sich diese deutsche energiepolitische Linie durchsetzt, doch immerhin könnte Deutschland versuchen, ein Bauverbot für neue AKWs in der EU zu erreichen. Dadurch würden die polnischen Pläne in Schwierigkeit geraten, worüber man sich in Warschau bewusst ist. Nun wäre man dem polnischerseits aber nicht ganz wehrlos ausgesetzt: Deutschland schafft es allein mit Wind und Sonne nicht, seinen Energiebedarf als vierte Wirtschaftsmacht der Welt zu decken. Kohle wurde noch nicht abgeschafft, Erdgas und Öl sind weiterhin unentbehrlich, was auch gerade das kontroverse Projekt Nord Stream 2 (NS2) veranschaulicht, selbst wenn es sich dabei aus deutscher Sicht mehr um ein politisches als um ein rein wirtschaftliches Vorhaben handelt. Wie negativ Polen und andere ostmitteleuropäische EU-Mitgliedstaaten sowie die Ukraine, aber auch einige westeuropäische Partner und selbst die Vereinigten Staaten zu dem deutsch-russischen Projekt stehen, ist bekannt. Polen könnte versuchen, wenn nicht den Bau, so zumindest die Inbetriebnahme der Pipeline zu erschweren, indem z.B. auf polnische Initiative im EU-Parlament eine Kommission zunächst zu überprüfen hätte, ob NS2 nicht gegen das vertraglich abgestimmte EU-Solidaritätsprinzip verstoße. Es sind auch bereits erste sichtbare Spannungen in der Ostsee zu vermerken: Polen hat der Hamburger Firma Krebs, deren Schiffe vor Mecklenburg-Vorpommern am Bau von NS2 teilnehmen und im Hafen von Gdańsk registriert sind, im März 2021 wegen „Bedrohung für die Sicherheit Polens“ den Flaggenstatus entzogen. Die polnische Kriegsmarine kreuzt auch in unmittelbarer Nähe der Baustelle.

Die Kernkraft könnte also aufgrund eines solchen Junktims zu einem Teilaspekt der europäischen Energieproblematik werden, die aus EU-Perspektive angesichts der geopolitischen Bedeutung von Gaslieferungen für den Kreml immer stärker im Zusammenhang mit sicherheitspolitischen Fragen stehen würde. Für Deutschland bestünde auch die Gefahr, mit seiner Absage an die Kernkraft sich immer mehr in Gegensatz zu Frankreich zu bringen. Bis auf Weiteres behält die Kernkraft ihre unangefochten dominierende Position im französischen Energiepaket bei, und das in Südfrankreich mit breiter internationaler Teilnahme laufende ITER-Projekt zum Bau eines Kernfusionsreaktors zeigt, dass man in Paris grundsätzlich auf eine Weiterentwicklung der Atomtechnologie setzt. Kernkraft ist für Frankreich allerdings nicht nur zur unentbehrlichen Energiequelle für den eigenen Gebrauch geworden, sondern stellt ebenso ein wichtiges Exportgut dar. So versucht denn die französische Atomindustrie seit Jahren mit Unterstützung der Regierung auch in Polen neue Märkte zu erschließen.

Der Bau eines französischen AKWs in Polen ist seit Jahren ein wiederkehrendes Thema. Bis jetzt ist es Paris nicht gelungen, Warschau zu überzeugen, wobei wiederum der Erfolg der US-amerikanischen Konkurrenz – wie auch bei der Anschaffung von neuer militärischer Ausrüstung, etwa von Kampfjets oder Kampfhubschraubern – weniger technologisch als politisch begründet ist. Die französisch-polnische Zusammenarbeit auf dem Gebiet hat jedoch seit 2008 mit der Unterzeichnung eines bilateralen strategischen Partnerschaftsabkommens mehr Unterstützung aus Warschau erhalten, und Frankreich hat es seinerseits nicht aufgegeben, den polnischen Partner weiterhin für französische Technologie und Knowhow zu interessieren, wobei in den vergangenen Jahren auch das Profil der vom Quai d’Orsay nach Warschau entsandten französischen Botschafter in dieser Hinsicht sehr klare Akzente vorwies. Es sind in diesem Atomlobbying durchaus Erfolge zu verbuchen, so wie z.B. letztlich im Februar 2021 mit dem Abschluss eines Abkommens zwischen dem französischen Großunternehmen Framatome und der Technischen Universität in Wrocław zur Fortbildung zukünftiger polnischer Spezialisten im Bereich der Kernenergie.

So lassen sich also angesichts auseinandergehender energiepolitischer Agenden innerhalb der EU und gerade im ohnehin schon angeschlagenen Weimarer Dreieck, das Ende August 2021 sein dreißigjähriges Bestehen feiern (?) wird, potenziell starke zentrifugale Tendenzen beobachten. Zum einen liegen diese an den auseinanderklaffenden energiepolitischen Perspektiven der drei Akteure, zum anderen an dem nicht von der Hand zu weisenden Risiko einer Rückkehr zu vergangenen bilateralen Verhaltensmustern innerhalb des Dreiecks: Vor dem Hintergrund einer immer noch schwach definierten EU-Nachbarschaftspolitik in Richtung Osteuropa kann Deutschlands recht unsensible Russlandpolitik durchaus dazu führen, alte Ängste wachzurufen – nicht nur in Polen, sondern auch in Frankreich, wenngleich in abgedämpfter Form. Paris ist trotz Emmanuel Macrons versuchter Charmeoffensive vom Sommer 2019 während seines Treffens mit Wladimir Putin in der Sommerresidenz von Brégançon misstrauisch gegenüber Moskau, wovon auch Frankreichs negative Haltung bezüglich NS2 zeugt.

Sollte die Haltung der Bundesregierung in den kommenden Monaten an der Seine als Alleingang wahrgenommen und für die französische Außenpolitik als gefährlich eingestuft werden, wäre auch die Versuchung groß, zumindest taktisch und vorläufig auf das Muster „Zwei gegen einen“ zurückzugreifen, also die deutsche Außenpolitik sowohl innerhalb der EU als auch nach Osten hin durch eine französisch-polnische Annäherung (das Wort „Allianz“ würde hier anachronisch wirken) auszubremsen. Deutschland und Frankreich sind zwar gut eingespielte Partner in der EU, ihre gemeinsamen Interessen schließen in gewissen Bereichen allerdings den Wettbewerb nicht aus, wie seit mehreren Jahren auch das konkurrierende Buhlen der deutschen und französischen Rüstungsindustrie um Warschaus Gunst bezüglich der Anschaffung von U-Booten für die polnische Armee zeigt.

Es wäre jedoch ein Missverständnis, sollte die polnische Regierung meinen, aus dem eventuellen Versuch, seine beiden Hauptpartner in der EU gegeneinander auszuspielen, einen Gewinn ziehen zu können. Zwar mag es wohl – selbst trotz der gegenwärtigen russischen Westpolitik und der Unsicherheit hinsichtlich der künftigen US-Europapolitik – Alternativen zum Weimarer Dreieck geben, beispielsweise makroregionale Zusammenschlüsse wie die Drei-Meere-Initiative; bis auf Weiteres scheint jedoch keine bessere Konstellation zu bestehen, um Polen eine transeuropäisch stärker vernehmbare Stimme in der EU zu sichern. Es bleibt zu hoffen, dass auch Deutschland und Frankreich weiterhin den europapolitischen Mehrwert dieses seit schon zu geraumer Zeit ungeliebten Trilateralismus wahrnehmen.

Pierre-Frédéric Weber

Pierre-Frédéric Weber

Dr. habil. Pierre-Frédéric Weber ist Historiker und Politikwissenschaftler und lehrt als Dozent an der Universität zu Szczecin (Polen). In seinem jüngsten Buch befasst er sich mit dem Phänomen der Angst vor Deutschland in Europa seit 1945 ("Timor Teutonorum", Schöningh, Paderborn 2015).

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