Wer hat am meisten bei der Abstimmung zum Ratifizierungsgesetz verloren, das die Voraussetzung für die Auszahlung europäischer Gelder zum Wiederaufbau nach der Covid-Pandemie ist? Selbstverständlich die liberale Bürgerkoalition (KO). Wer hat gewonnen? Selbstverständlich „Recht und Gerechtigkeit“ (PiS), genauer gesagt Jarosław Kaczyński. Doch ist die Gewinn‑ und Verlustbilanz weit komplizierter, und der Streit um Polens Wiederaufbauplan [von der Regierung vorgelegtes Reformpaket, Anm. d. R.] könnte die polnische Politik in einer Weise durcheinanderbringen, die sich vorerst noch niemand vorzustellen vermag.
Zweifellos gestärkt geht aus der Auseinandersetzung der PiS-Vorsitzende hervor, der – zum wievielten Male in den letzten Jahren? – Gegner und Koalitionspartner gleichermaßen ausgespielt hat. Vor allem wohl die Koalitionspartner. Schon seit Monaten ging in der Politik die Behauptung um, Mateusz Morawieckis Stern sei im Sinken. So wurde bereits Daniel Obajtek, CEO des staatlichen Mineralölkonzerns PKN Orlen S.A., als sein Nachfolger im Amt des Ministerpräsidenten gehandelt. Doch Obajtek geriet wegen seines unfassbaren und mit seinen vor Jahren bekleideten Funktionen nicht erklärbaren Vermögens in die Kritik, und Morawiecki, seines Zeichens Historiker, konnte sich ganz beruhigt zurücklehnen und einmal mehr zitieren: „Zu Dir, Allergnädigster Herr, stehen wir und wollen wir stehen“[1]. Seine Stellung als Thronfolger im Lager der Vereinigten Rechten erscheint erneut gefestigt.
Mateusz Morawiecki verdankt seine Position der Kunstfertigkeit seines Chefs und Untergebenen, nämlich des Vorsitzenden der PiS-Partei, der zugleich stellvertretender Ministerpräsident für Sicherheit ist. Es ist Jarosław Kaczyński, der eine Wirkung auf die polnische Politik ausübt wie seinerzeit Kaiser Franz Joseph I. auf sein Reich, als der galizische Sejm seinerzeit seine alleruntertänigste Loyalitätsbekundung ablieferte; Kaczyński also, der sich zu quasi partnerschaftlichen Bedingungen mit dem stellvertretenden Ministerpräsidenten Jarosław Gowin verständigt hat, und nach der Rebellion des Koalitionspartners „Solidarisches Polen“ (SP) von Justizminister Zbigniew Ziobro zur Tagesordnung übergegangen ist, indem er sich damit einverstanden erklärte (!), dass ein Teil der Opposition gemeinsam mit PiS für die eingangs erwähnte Ratifizierung stimmte – die Einwände von SP gegen die Ratifizierung wirkten dabei wie der Wutausbruch eines Zweijährigen. Wohlgemerkt „toleriert“ Kaczyński im selben Stil, dass ein Kandidat von SP bei der Wahl zum Stadtpräsidenten von Rzeszów gegen die Kandidatin von PiS antritt.
Jarosław Kaczyński rettete die Koalition, die noch im April zumindest auf der Kippe gestanden hatte, und hauchte ihr neues Leben ein, fackelte nicht lange und begann nach Verabschiedung des Gesetzes im Sejm mit dem „Polnischen Deal“. Das PiS-Regierungsprogramm für die nächsten Jahre sollte anfänglich „Neuer Deal“ heißen. Es kursieren viele einander an Häme überbietende Theorien, wieso die Umbenennung in „Polnischer Deal“ erfolgte. Angeblich, weil darin nicht allzu viel Neues vorkommt. Selbst wenn der „Polnische Deal“ noch so wenig innovativ wäre, oder gar einen riskanten Staatsumbau zum Ziel hätte – Kaczyński könnte auch einfach gar nichts tun, und dieses Nichts würde er seinen Wählern (gegenwärtig immer noch mindestens 30 bis 35 Prozent) erfolgreicher verkaufen als es die Parteien, welche die sogenannte Opposition bilden, vermögen.
Es lassen sich verschiedene Gründe anführen, wieso es sich um eine „sogenannte“ Opposition handelt. Bei der Linken sind die Gründe offenkundig. Die Gespräche mit PiS über die Bedingungen für eine Unterstützung des Wiederaufbauplans waren ein Feigenblatt, oder, wem es besser gefällt, ein Vorspiel dessen, was uns wahrscheinlich in den nächsten Monaten erwartet. Es ist nämlich damit zu rechnen, dass die Linke Hand in Hand mit PiS abstimmen wird (ob mit voller oder reduzierter Stärker der Vereinigten Rechten), sofern es um alle gesellschaftsnahen Bestimmungen des Polnischen Deals geht. Vor allem bei den Änderungen, die, um es in der Sprache von PiS zu sagen, dem Steuersystem eine stärker progressive Ausrichtung geben. Die Linke wird für die Einführung eines linearen Gesundheitsbeitrags für die Unternehmer stimmen, die Einführung von Sozialabgaben für zivilrechtliche Abkommen (etwa bei Werkverträgen, Anm. d. R.) unterstützen, alles namens einer gerechteren Lastenverteilung bei öffentlichen Abgaben.
Eröffnet das eine Option zur Bildung eines gemeinsamen Lagers aus PiS und Linker? Pragmatisch betrachtet haben beide Lager viele Gemeinsamkeiten. Die Linke wusste stets die soziale Orientierung von „Recht und Gerechtigkeit“ zu schätzen und machte der Partei eher Vorwürfe dafür, dass die das große Kapitel nicht ausreichend hart anfasst oder, umfassender, alle, denen es wirtschaftlich besser geht. Selbst wenn dies nicht so sehr auf Kapitalbesetz im Sinne von Karl Marx als vielmehr auf eigene Fähigkeiten und Kompetenzen zurückzuführen sein sollte. Übrigens erhielt dafür die Linke den Segen des Vorsitzenden: Einige Äußerungen des linken Politikers Adrian Zandbergs über soziale Fragen seien diskutierenswert, sagte Jarosław Kaczyński bei einem seiner langen Interviews nach Vorstellung des Polnischen Deals. „So wie ein ganz erheblicher Teil dessen, was die Linke sagt. Ich denke dabei an ihre Überlegungen zur sozialen Lage, zu sozialen Fragen, nicht an absurde Fragen von der Art, ob Frauen als ,Personen mit Gebärmüttern‘ zu bezeichnen sind. […] Einige dieser Überlegungen, wie Adam Leszczyńskis Befund, manche Unternehmen erinnerten an Herrengüter zur Zeit der Leibeigenschaft, treffen zu. Im 17. Jahrhundert gab es tatsächlich das Wissen und die Lehrbücher, wie der Acker am ertragreichsten zu bestellen sei, aber es gab keine Nachfrage danach. Nachfrage gab es nach dem leibeigenen Bauern. Bestimmte Ähnlichkeiten bestehen bis heute“, sagte Kaczyński in Bezug auf Leszczyńskis bekanntes Buch „Volksgeschichte Polens“ [Ludowa historia Polski. Historia wyzysku i oporu. Mitologia panowania (Volksgeschichte Polens. Eine Geschichte von Ausbeutung und Widerstand. Die Mythologie des Herrschens), 2020].
In der Politik ist Pragmatismus allerdings nicht immer alles. Auch Emotionen spielen eine Rolle. Und weltanschauliche Fragen. Die Linke hat anscheinend vergessen, dass PiS-Vorsitzender Jarosław Kaczyński vor noch nicht so langer Zeit, nämlich im November 2020, an die Abgeordneten des Sejm in Masken mit dem Logo des Frauenstreiks, die Aufklärung über die brutalen Polizeiaktionen bei den Demonstrationen nach der Veröffentlichung des von Julia Przyłębska formulierten Urteils des Verfassungsgerichts verlangten, folgende aggressiven Worte richtete: „Zuerst einmal nehmt gefälligst diese SS-Runen vom Gesicht, das zum ersten. Zum zweiten, alle diese Demonstrationen, die ihr unterstützt habt, haben schon vielen Menschen das Leben gekostet. Ihr habt Blut an den Händen,“ donnerte er und machte der Opposition den Vorwurf, darunter den Abgeordneten der Linken, gegen das Strafrecht verstoßen zu haben, weil sie das Leben vieler gefährdet hatten: „Ihr solltet nicht in dieser Kammer sein. Ihr habt ein Verbrechen begangen.“
Die Linke mag das vergessen haben, kann aber sicher sein, dass sich Kaczyński daran erinnern wird. Auch daran, dass man ihm antwortete: „Du wirst ins Gefängnis wandern.“
Ein halbes Jahr zuvor hatten die Abgeordneten der Linken, der Bürgerkoalition (KO) und ein Teil der Fraktion der Polnischen Volkspartei (des PSL) Kaczyński einvernehmlich gedroht. Heute kann von einer geeinten Opposition keine Rede mehr sein, ganz zu schweigen von einer Führungsrolle der Bürgerkoalition in der Opposition. Aufgebaut auf der Basis der Bürgerplattform (PO), der ersten Partei, die zwei Legislaturperioden lang regierte, erschien sie als natürliche Siegerin, gegen die PiS schließlich werde verlieren müssen. Heute ist nicht mehr sicher, ob PiS erstens überhaupt verliert und zweitens, ob die Partei dann gegen die Bürgerkoalition verliert. Eigentlich deutet immer mehr darauf hin, dass, wenn PiS schon einmal verlieren sollte, dann sicher nicht gegen die Bürgerkoalition.
Vor Unzeiten gab es in einer weit entfernten Galaxie eine Partei, die mit Donald Tusk einen charismatischen Vorsitzenden hatte und mit Grzegorz Schetyna einen gewandten Organisator. Heute hat dieselbe Partei Borys Budka und eine ganze Reihe von Figuren aus der n-ten Reihe (denn von zweiter oder dritter Reihe kann hier keine Rede sein), für die sich Politik auf Stand-up-Comedy, sei es in den Fluren des Sejm, sei es vor den Ministerien und Ämtern, reduziert. Dies sind Gestalten, auf die das gewichtige Wort „Politiker“ anzuwenden schwerfällt und bei denen niemand sagen kann, was irritierender ist, ihre Farblosigkeit oder ihre Inkompetenz. Zwar gibt es einzelne Ausnahmen, aber diese bestätigen bekanntlich nur die Regel. Die KO erinnert an die Titanic, von der übereilt die Rettungsbote gelassen werden, die in die Ferne treiben, meist in Richtung der Partei „Polen 2050“ des Szymon Hołownia.
Politische Rochaden sind das eine, die Verwaisung der liberalen Wählerschaft etwas ganz anderes. Wem soll ein Wähler seine Stimme geben, der bisher für die PO, die „Nowoczesna“ (Moderne) oder die KO gestimmt hat? Ein Wähler, dem an der Bewahrung der Verfassung liegt, an liberalen Werten und Menschenrechten. Der nicht unbedingt Abtreibung auf Wunsch möchte, doch wenigstens zum Teil die Wut der Frauen nachvollziehen kann und erkennt, dass PiS zu weit gegangen ist? Der eine Trennung von Staat und Kirche möchte, ohne Feindseligkeit, aber mehr noch ohne Unterordnung? Der die Notwendigkeit progressiver Besteuerung und Transfers auf Kosten der Besserverdienenden einsieht, aber möchte, dass diese Transfers dem Gemeinwohl dienen, also zum Beispiel dem Aufbau eines funktionierenden Gesundheitswesens und einer guten Bildung. Der nicht zuletzt voll und ganz zur europäischen Integration steht und nicht versteht, wieso die Europäische Kommission derartig hilflos dem offenkundigen Bruch europäischer Standards durch die polnische Regierung zusieht.
Dieser Wähler stellt seit Monaten, um nicht zu sagen seit Jahren Fragen, ohne je Antworten zu erhalten. Auch wird ihm keinerlei politisches Programm angeboten, mit dem er sich identifizieren könnte. Die polnische Politik ist vollständig von der Ideologie der PiS-Partei monopolisiert worden, die man entweder befürworten oder ablehnen kann. Die Tragödie der meisten Oppositionsparteien besteht darin, dass ihre Botschaft entweder nicht zu hören ist, oder, schlimmer noch, zu hören ist. In beiden Fälle fällt es leicht, sie zu ignorieren.
Aus dem Polnischen von Andreas R. Hofmann
[1] Bekannte Schlussformel der Ergebenheitsadresse des galizischen Landtags an den Kaiser in Wien nach der Niederlage Österreich-Ungarns gegen Preußen 1866; A.d.Ü.