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Eckpfeiler für einen Neuanfang

Deutsch-polnische Beziehungen während des Epochenumbruchs (1989–1992)

Das Jahr 1989 eröffnete in Ostmitteleuropa eine Phase des Umbruchs, der die geopolitische Lage der Region und ihren Stellenwert in der europäischen Gemeinschaft neu definierte. Um einen Eindruck zu gewinnen, wie wichtig das war, reicht ein Blick in den historischen Atlas und ein Vergleich der Karten von 1918, 1945 und 1992.

Nach dem Ersten Weltkrieg entstanden neue Staaten und wurden neue Grenzen gezogen, mit denen sich häufig wieder neue Konfliktfelder auftaten. Wie im Falle Polens, wurden die Grenzen zum Teil durch bewaffnete Auseinandersetzungen oder Entscheidungen der Großmächte gezogen; diese behandelten die ethnisch-nationale Lage der weit vom Schauplatz der Friedensverhandlungen in den Pariser Vororten entfernten Territorien mit reichlicher Nonchalance. Die Gründung der neuen Staaten auf den Trümmern der multinationalen Mächte fand keine allgemeine Zustimmung. Dagegen waren von allem die Nachfolgestaaten, die Gebietseinbußen erlitten: Deutschland, Ungarn und das bolschewistische Russland. In den Folgejahren akzeptierten in Deutschland weder Regierung noch Gesellschaft die Bestimmungen des Versailler Vertrages, was die Lage besonders konfliktträchtig machte; indessen gelang es den Weimarer Regierungen dennoch, sich nach einigen Jahren in den Mainstream der internationalen Politik einzufügen.

Deutschlands östlicher Nachbar Polen galt dort als „Saisonstaat“ oder auch als „Unstaat“. Die Politik der Weimarer Republik knüpfte nahtlos an das Negativstereotyp des östlichen Nachbarn an, wie es sich seit dem 18. Jahrhundert entwickelt hatte. Nach der Machtergreifung der Nazis 1933 gab es zwar eine vorübergehende Entspannung in den beiderseitigen Beziehungen, doch diese deutsch-polnischen Flitterwochen hielten nicht vor und waren ohnehin nur ein von Hitler eingesetztes Instrument opportunistischer Außenpolitik.

Mit dem Angriff Deutschlands auf Polen am 1. September 1939, dem sich zwei Wochen darauf die UdSSR anschloss, begann der Zweite Weltkrieg. Dieser hatte katastrophale Folgen für Ostmitteleuropa. Nach ungeheuren Verlusten an Menschen und Material folgten Grenzverschiebungen und der Verlust der politischen Souveränität, der in den ausgehenden 1940er Jahren besiegelt wurde. Zum zweiten Mal im 20. Jahrhundert wurde als Folge des Krieges die Neugestaltung Europas und der Welt von den Großmächten entschieden, die zunächst im Rahmen der Großen Drei zusammenarbeiteten, bloß rasch zu Rivalität übergingen.

Polen und die übrigen Länder der Region befanden sich mehr als vierzig Jahre in der Hegemonialsphäre der UdSSR. Die Protestbewegungen in Ungarn, der Tschechoslowakei und Polen von 1956, 1968 und 1980/81 zeigten, dass ohne eine tiefgreifende Veränderung der Kräfteverhältnisse die Nationen Ostmitteleuropas keinen Weg in die Unabhängigkeit finden würden. Es wird häufig übersehen, dass es de facto zwei Eiserne Vorhänge in Europa gab: den allgemein bekannten von der Ostsee bis zur Adria sowie einen zweiten entlang der Westgrenze der UdSSR, hinter dem die in Sowjetrepubliken gezwängten ostslawischen und baltischen Nationen festsaßen.

Der Umbruch von 1989 ging nicht mit einem bewaffneten Konflikt einher, was ein in der Geschichte ziemlich einzigartiger Glücksfall war. Und das, obwohl die Gefahr eines solchen Konflikts jahrzehntelang unter dem Vorzeichen der Konfrontation der Supermächte über der Welt geschwebt hatte, doch der von Moskau und Washington geführte Kalte Krieg hat sich nie in einen offenen, globalen Konflikt ausgewachsen, in einen heißen Krieg. Abgesehen von der Angst vor einer atomaren Auseinandersetzung, legten hier zumindest teilweise die Erfahrungen des Zweiten Weltkrieges den Entscheidern Hemmschuhe an, so insbesondere die millionenfachen Verluste der Zivilbevölkerungen. Die Ereignisse von 1989 waren vielmehr das Ergebnis einer schrittweisen Erosion und des schließlichen Zusammenbruchs einer der beiden Supermächte, der UdSSR, während die Gesellschaften der Region nie aufhörten, nach voller Souveränität und Bürgerrechten zu streben.

Dieser Prozess war bereits zehn Jahre zuvor von dem Gewerkschaftsverband „Solidarność“ in Gang gesetzt worden. Die Gründung der Solidarność und ihr mehrmonatiges legales Bestehen bis zur Verhängung des Kriegsrechts am 13. Dezember 1981 erschütterten das kommunistische System schwer. Die Vorgänge in Polen zeigten, dass trotz fast vierzig Jahren ideologischer Pressionen die Gesellschaften der europäischen „Volksdemokratien“ den Kommunismus nicht akzeptiert hatten, zumal er durch endlose Wirtschaftskrisen geschwächt war. Erstmals gab die Regierung in Polen so offen unter dem Druck der von der Gesellschaft gestellten Forderungen nach und gestattete die Gründung eines unabhängigen Gewerkschaftsverbandes, der in Wahrheit von einer vielschichtigen Massenbewegung hervorgebracht wurde. Freilich dauerte der „Karneval der Solidarność“ nicht lang, trotzdem blieb er nicht ohne Einfluss auf die übrigen Länder des Sowjetblocks.

Der Umbruch von 1989 geschah unter ganz anderen Umständen, als sie 1918 herrschten. Diese beiden Jahreszahlen werden gerne zur chronologischen Eingrenzung des „kurzen 20. Jahrhunderts“ herangezogen. Aufgrund der politischen und sozialen Umwälzungen in den kommunistischen Ländern gelangte die vormalige Opposition an die Macht, wenn auch die politischen Abläufe in allen diesen Ländern alles andere als geradlinig waren. Im Mittelpunkt der politischen Transformation standen liberale Demokratie und Marktwirtschaft, letztere gesehen als Allheilmittel gegen die ökonomische Katastrophe des Realsozialismus. In den von der sowjetischen bzw. russischen Hegemonie befreiten Ländern erhoben sich rasch Forderungen nach dem Anschluss an die Europäische Union und die NATO. Der Fall der Berliner Mauer leitete die Wiedervereinigung Deutschlands ein, der letzte Akt des Umbruchs war die Auflösung der UdSSR 1991 und in deren Nachfolge die Gründung selbständiger Staaten in Osteuropa und Zentralasien.

Als eines der führenden Länder der Region gewann Polen seine vollständige Souveränität und damit politische Selbstbestimmung. Deren Anfänge fielen jedoch nicht in den bekannten „Herbst der Völker“, sondern in Winter und Frühjahr 1989. Die Gespräche am Runden Tisch setzten den Rahmen für den Kompromiss, der zwischen der ins Wanken geratenen kommunistischen Regierung und der durch ihre Jahre im Untergrund geschwächten Opposition getroffen wurde. Die von der Krise erschöpfte Gesellschaft erwartete Veränderungen, befand sich aber nicht in der Stimmung, auf Kampf und Vergeltung aus zu sein. Die Begeisterung für den Aufbau des Neuen sollte sich vor allem in den Bemühungen um die Erhöhung des materiellen Lebensstandards äußern. Doch galt als ausgemacht, dass das eine nicht ohne das andere zu haben war: die Etablierung des freien Marktes und die Demokratie.

Die von der Mehrheit der polnischen Gesellschaft akzeptierten Kompromisse, heute so verbissen bekämpft von einem Teil der polnischen Politik und der öffentlichen Meinung, brachten die seit Jahrzehnten ersten, teilweise freien Wahlen Anfang Juni 1989. Im Herbst 1989 entstand eine Koalitionsregierung mit Tadeusz Mazowiecki als erstem nichtkommunistischen Ministerpräsidenten, in der noch einige Minister des abgedankten Regimes saßen.

Die Auswirkungen der Umsetzung einer eigenen Politik durch ein Land mit einem großen Potenzial, das aber wirtschaftlich sehr erschöpft war, mit einer Gesellschaft, die eine harsche gesellschaftspolitische Transformation über sich ergehen lassen musste, hingen natürlich von der internationalen Wirtschaftslage und den Entscheidungen der westlichen Länder ab, denen Polen sich wirtschaftlich und politisch anschließen wollte.

Außenpolitisch hatte die Aufnahme enger Beziehungen zum Westen Priorität. Im Hinblick auf die UdSSR, seit 1991 Russland ging es darum, die in Polen stationierten sowjetischen Truppen abzuziehen und zumindest geregelte, wenngleich eng begrenzte Beziehungen aufzunehmen. Eine besondere Herausforderung war zudem, mit den neuen Nachbarn an der Ostgrenze ein gutnachbarschaftliches Verhältnis aufzubauen.

Doch bevor diese Dinge sich auf der politischen Agenda in Warschau fanden, stand seit Herbst 1989 die Deutschlandpolitik auf der Tagesordnung. Denn die Auflösung des Ostblocks bedeutete auch das Ende für die DDR. Zwei getrennte deutsche Staaten hatte es nur wegen der Blockbildung gegeben. Als diese verschwand, besaß die deutsche Zweistaatlichkeit keine politische Grundlage mehr. Die polnische Politik musste auf die bevorstehende Wiedervereinigung Deutschlands reagieren und die bilateralen Beziehungen ins Zentrum der Aufmerksamkeit rücken.

Polen und Deutschland bot sich die einzigartige Chance, ihre Beziehungen von Grund auf unter für beide Seiten guten Bedingungen neu aufzubauen. Die politischen Führungen beider Länder waren sich des historischen Augenblicks bewusst. Am 12. September sagte Mazowiecki in seiner Regierungserklärung im Sejm: „Wir brauchen einen Umbruch in unseren Beziehungen zur BRD. Die Gesellschaften beider Länder sind schon viel weiter als ihre Regierungen. Wir rechnen mit einer umfassenden Fortentwicklung unserer wirtschaftlichen Beziehungen und wollen eine wirkliche Versöhnung, die sich daran orientiert, was sich zwischen Deutschen und Franzosen vollzogen hat.“

Diesem Neuanfang sollte ein Besuch von Bundeskanzler Helmut Kohl vom 9. bis 14. November 1989 dienen. Während Kohl noch in Polen war, traf die Nachricht von Straßenunruhen in Ostberlin und dem Fall der Berliner Mauer ein. Das bilaterale Verhältnis zwischen Polen und Westdeutschland wuchs sich dadurch aus polnischer Sicht zur gesamtdeutschen Frage aus. Kohl meinte nach seiner Rückkehr nach Deutschland: „(…) den polnischen Gastgebern ist an diesem Abend klargeworden, am Ende der jetzt begonnenen Entwicklung könnten sie sich einem wiedervereinten Deutschland mit achtzig Millionen Menschen gegenübersehen.“

Krzysztof Ruchniewicz: deutsch-polnischer Nachbarschaftsvertrag
Tadeusz Mazowiecki und Helmut Kohl bei der Versöhnungsmesse in Krzyżowa/Kreisau am 12. November 1989. Foto © Andrzej Ślusarczyk/Wikimedia Commons, Bearbeitung: DIALOG FORUM

Die sogenannte Versöhnungsmesse im niederschlesischen Krzyżowa/ Kreisau unter Teilnahme von Mazowiecki und Kohl wurde zum Symbol des Neuanfangs. Aus heutiger Perspektive wird dieses Ereignis zwar sehr unterschiedlich bewertet; beispielsweise habe sich Mazowiecki von einer gewissen Skepsis im Hinblick auf die Absichten der deutschen Seite leiten lassen, zumal zu diesem Zeitpunkt die Anerkennung der deutsch-polnischen Grenze an Oder und Neiße noch eine offene Frage war. Doch bleibt Krzyżowa ein historischer Erinnerungsort des Umbruchs und Zusammenkommens. Bei dieser Gelegenheit rief sich übrigens die in Polen lebende deutsche Minderheit in Erinnerung, deren Existenz lange Zeit von der kommunistischen Führung geleugnet worden und deren öffentliches Auftreten daher für viele Polen durchaus überraschend war.

Im Ergebnis von Kohls Visite wurde eine umfangreiche gemeinsame Erklärung mit nicht weniger als 78 Punkten veröffentlicht, eine „politische Rohfassung“, die in den Folgemonaten als Grundlage für die Regulierung der wechselseitigen Beziehungen in der neuen politischen Realität diente. Die Grenzfrage blieb immer noch offen, weil Kohl zur Beunruhigung der polnischen Seite eindeutige Festlegungen vermied.

Die Grenzfrage tauchte ebenso wenig in dem Zehn-Punkte-Programm zur Wiedervereinigung Deutschlands auf, das Kohl am 28. November 1989 im Bundestag vorstellte. Warschau reagierte darauf sehr kritisch. Außenminister Krzysztof Skubiszewski sagte am 7. Dezember 1989 im Sejm: „Ich spreche deshalb vom polnischen Staatsinteresse, weil es ein wesentlicher Mangel im Zehn-Punkte-Programm von Kanzler Helmut Kohl ist, (…) dass dort die Frage der Grenzen mit den Nachbarn beider deutschen Staaten und insbesondere mit Polen mit Schweigen übergangen wird. Dieser Mangel wird nicht von der allgemeinen Ankündigung in Punkt 6 des Programms ausgeglichen, die uneingeschränkte Achtung von Integrität und Sicherheit eines jeden Staates zuzusichern. Integrität bedeutet ebenfalls territoriale Integrität. Gleichwohl gehen die sogenannten Rechtspositionen der BRD, ihre Rechtsprechung und Verwaltungsakte nicht von den Grenzen von 1937 ab. So stellt sich weiterhin die Frage, wie das Programm des Kanzlers die Integrität des polnischen Staatsgebiets in seiner jetzigen Form behandelt.“

Das Ausbleiben einer klaren Äußerung zur Bestätigung der Grenze an Oder und Neiße vonseiten Kohls führte ebenso zu Irritationen bei den vormaligen Angehörigen der Anti-Hitler-Koalition. Dass die Bundesrepublik hier weiterhin eine offene Grenzfrage zu implizieren schien, wurde in Moskau mit großer Beunruhigung aufgenommen. In den hierzu im Kreml geführten Gesprächen soll ein Aspekt angeschnitten worden sein, der umso überraschender ist, als diese Frage damals in Polen kaum behandelt wurde. Hierzu soll ein Auszug einer von der bundesdeutschen Botschaft Moskau am 14. Dezember 1989 an das Auswärtige Amt geschickten Depesche zitiert werden, die bislang noch nicht auf Polnisch veröffentlicht wurde:

„(Die) 3 Analysen der 3 Mächte, die sich vor allem auf Gespräche im ZK-Sekretariat [der KPdSU; Anm. d. Übers.] stützen, kommen zu dem Ergebnis, daß das eigentlich heikle Problem für die S(owjet)U(nion) nicht die Frage der innerdeutschen Grenze, sondern die der Oder-Neiße-Grenze sei. Dies liege daran, daß ein ernsthaftes Infragestellen dieser Grenze auch Konsequenzen für die polnische Ostgrenze und für das Baltikum sowie Moldawien haben könnte. – Unsere Gespräche in den letzten Tagen ergaben zwar keine ähnlich klaren Äußerungen zur Unaufhaltsamkeit des Annäherungsprozesses der beiden deutschen Staaten. Sie bestätigten aber, daß die Frage der Oder-Neiße-Grenze den Kern der derzeitigen sowj(etischen) Besorgnisse bildet, und daß hinter all dem die Sorge um die innenpolitische Position der jetzigen Führung steht, die sich in der Gefahr der Anklage sieht, den Sieg im 2. Weltkrieg zu verspielen.“

In den Hauptstädten der vormaligen Anti-Hitler-Koalition kristallisierte sich immer mehr die Meinung heraus, die Voraussetzung der Wiedervereinigung müsse eine eindeutige und öffentliche Bestätigung der in Europa bestehenden Grenzen sein. Im Frühjahr 1990 begannen in Warschau die Vorarbeiten für ein bilaterales Abkommen mit Deutschland; anfangs ging man dort davon aus, in einem sehr allgemein gehaltenen Abkommen würde die Gesamtheit der deutsch-polnischen Beziehungen behandelt werden. Der Entwurf wurde Ende April 1990 den Deutschen übergeben. Die folgenden Wochen erwiesen, dass Warschaus Erwartung, die Unterzeichnung des Generalabkommens noch vor der deutschen Wiedervereinigung zu erreichen, nicht realistisch war. In einem Schreiben an Mazowiecki vom 4. April 1990 legte Kohl dar, welche Schwierigkeiten sich der endgültigen Anerkennung des Verlaufs der deutsch-polnischen Grenze entgegenstellten: „Zugleich bitte ich aber auch die Empfindlichkeit meiner Landsleute zu verstehen, denen in der Stunde der deutschen Einheit ein bitterer, endgültiger Verzicht abverlangt wird.“

Auf der Pariser 2+4-Konferenz, an der unter Sonderbedingungen eine polnische Delegation teilnahm, fiel dann am 17. Juli 1990 die Entscheidung, das wiedervereinigte Deutschland zwei Abkommen mit Polen schließen zu lassen, eines über die Grenze, ein zweites zur Regelung der wechselseitigen Beziehungen. Ersteres sollte endgültig ein historisches Kapitel zum Abschluss bringen, letzteres den Rahmen für und die zukünftige Entwicklung der Nachbarschaft und der Kontakte auf vielen Ebenen festlegen.

Nach der deutschen Wiedervereinigung am 3. Oktober 1990 ging alles ganz schnell. Daraufhin konnten die Probleme überwunden werden. Einige Wochen später, am 14. November unterzeichneten die beiden Außenminister Krzysztof Skubiszewski und Hans-Dietrich Genscher das Grenzabkommen. Dies geschah unter einigem Protest von Teilen der deutschen Vertriebenenorganisationen, wurde aber auch von Alt und Jung in beiden Ländern ausdrücklich begrüßt, darunter von Zeugen und Opfern der Tragödie des letzten Krieges.

Daneben liefen die Arbeiten an dem „großen Abkommen“ an. Zwischen Oktober 1990 und April 1991 fanden sechs bilaterale Sitzungen statt. Dabei wurde der Abkommentext selbst erarbeitet sowie die Schreiben, welche die Außenminister austauschen würden und dem Abkommen als Protokoll der weiterbestehenden Differenzen aufgenommen würden. Die Verhandlungen über das „große Abkommen“ verliefen in einer veränderten Atmosphäre. Die politische Lage der Verhandlungspartner hatte sich grundlegend geändert.

Der damalige polnische Hauptverhandler Jerzy Sułek erinnerte sich: „Bei dem Grenzabkommen kämpfte Polen um die Anerkennung der Grenze an Oder und Neiße noch vor der deutschen Wiedervereinigung. Die bundesdeutsche Delegation zog sich hinter die sogenannten deutschen Rechtspositionen zurück, denen zufolge erst das wiedervereinigte Deutschland die Kompetenz zu Grenzverhandlungen besitzen würde. Nach der Unterzeichnung des 2+4- und des Grenzvertrages war das polnische Hauptziel der Grenzanerkennung erreicht. Daher konnten wir bei dem ,großen Abkommen‘ eine andere Verhandlungstaktik anwenden – ich nannte das, nicht gegen-, sondern miteinander zum Ziel.“

Am 17. Juni 1991 wurde in Bonn der Vertrag über gute Nachbarschaft und freundschaftliche Zusammenarbeit feierlich von den beiden Regierungschefs und Außenministern unterzeichnet, Jan Krzysztof Bielecki und Krzysztof Skubiszewski sowie Helmut Kohl und Hans-Dietrich Genscher. Das Abkommen krönte eine vielmonatige Arbeit und schrieb sich in die bereits im Februar 1991 von Skubiszewski verkündete Deklaration der „polnisch-deutschen Schicksals- und Interessengemeinschaft im sich vereinigenden Europa“ ein.

Der Vertrag besteht aus einer umfangreichen Präambel, 38 Artikeln und gleichlautenden Briefen der polnischen und deutschen Außenminister. In der Präambel unterstützt Deutschland unter anderem die Bestrebungen Polens, den Europäischen Gemeinschaften beizutreten. Der Vertrag selbst spricht vier Themengebiete an: 1. allgemeine Prinzipien der bilateralen Beziehungen; 2. Abhaltung politischer Konsultationen auf unterschiedlichen Ebenen; 3. Regelungen zu den nationalen Minderheiten; schließlich 4. Detailregelungen zur bilateralen Zusammenarbeit. An dieser Stelle sind besonders die drei Artikel 20 bis 22 zu nennen, welche die Bedingungen der Zugehörigkeit zu einer nationalen Minderheit sowie ihre Rechte und Pflichten benennen. Im Briefwechsel der Außenminister (Protokoll der Divergenzen) wird die Frage der Rechte der Polen in der Bundesrepublik angeschnitten, soweit sie der neuen Emigration (der sogenannten Solidarność-Emigration) angehörten, die Möglichkeiten für Deutsche, sich in Polen niederzulassen, sowie die Einrichtung eines polnischen Minderheitenausschusses. Ferner wird ausdrücklich festgestellt, der Vertrag befasse sich nicht mit Fragen der Staatsangehörigkeit, des Eigentums oder der zweisprachigen Auszeichnung topografischer Namen in Polen.

In der zweiten Jahreshälfte 1991 debattierten der Sejm und der Bundestag über die Ratifizierung des Vertrages. In beiden Ländern herrschte in der Politik Übereinstimmung über die europäische Dimension des Vertrages und die Absicht, Modelllösungen für die Überwindung historischer Konflikte zu finden. Die deutsch-polnischen Verträge von 1990 und 1991 traten nach Austausch der Ratifikationsurkunden gleichzeitig am 16. Januar 1992 in Kraft.

Trotz der großen Mühen, welche die Autoren des Nachbarschaftsvertrages investiert hatten, führten einzelne seiner Bestimmungen immer wieder zu Kontroversen und waren in den Folgejahren Gegenstand heftiger Debatten. In deren Mittelpunkt standen insbesondere drei Themenbereiche: der unterschiedliche Status von Polen in Deutschland und Deutschen in Polen; die Entschädigung von polnischen Opfern des Naziregimes; schließlich Eigentums- und Staatsangehörigkeitsfragen.

Nach dreißig Jahres des Bestehens des Nachbarschaftsvertrages ist festzuhalten, dass dieser trotz aller Kritik die Grundlagen zur Entwicklung der wechselseitigen Beziehungen gelegt hat. Zuvor hatte es im deutsch-polnischen Verhältnis noch nie eine vergleichbare Rechtsgrundlage gegeben. Die seither betriebene Zusammenarbeit, die Entwicklung vielfältiger Verbindungen und Kooperationen sind gleichfalls ohne Präzedenz. Die „Erbfeindschaft“ konnte also überwunden werden, was allerdings nicht heißt, es hätte keine Streitpunkte und Interessengegensätze gegeben. Diese werden auch in Zukunft immer vorkommen, weil sie zur Nachbarschaft gehören.

Um sich bewusst zu machen, wie einschneidend das Jahrzehnt vor der Jahrtausendwende war, sei hier an eine Zeichnung des Karikaturisten Walter Hanel erinnert, deren Thema der Zustand der deutsch-polnischen Beziehungen und die Arbeit war, die noch vollbracht werden musste. Im Vordergrund sehen wir eine Brücke, an deren Enden Mazowiecki und Kohl stehen. Sie geben sich größte Mühe, einander die Hand zu reichen, obwohl zwischen ihnen ein riesiges Loch in der Brücke klafft. Im Hintergrund ist eine zweite Brücke zu sehen, die deutsch-französische; sie befindet sich in hervorragendem Zustand, lebhafter Verkehr bewegt sich in beide Richtungen. Das Loch in der Brücke war die Last der Vergangenheit, es war zu schließen, um neue positive Erfahrungen und Verbindungen aufzubauen. Meist ging es um Sachverhalte, die bis auf den Zweiten Weltkrieg und seine Folgen zurückgingen.

Der Beitritt Polens zur EU 2004 löste eine ganze Reihe von Problemen, die im Nachbarschaftsvertrag und im Briefwechsel der Außenminister nur angedeutet worden waren. Grenz- und Nachbarschaftsvertrag sind beides Dokumente von historischer Bedeutung, wichtige Etappen beim Abwerfen von historischem Ballast, aber auch zur Ausweisung von Zukunftsaufgaben. Die Bewertung des Nachbarschaftsvertrages kann sich nicht auf die Durchsicht seiner Vorschriften beschränken, sondern muss deren tatsächliche Umsetzung einschließen. Das gilt bis heute.

In der Gegenwart verbinden Polen und Deutschland Zusammenarbeit und Freundschaft bis hinein in die engsten privaten und familiären Beziehungen; andererseits mangelt es nicht an Konfliktstoff. Von Zeit zu Zeit werden immer noch Versuche angestellt, historische Ressentiments für politische Zwecke zu instrumentalisieren. Die positiven Errungenschaften beider Länder sollten daher bei jeder Gelegenheit hervorgehoben werden.

Die Zeitgeschichte ist der bis in die Gegenwart hinein wirkende Hintergrund dafür, um sehr deutlich wahrzunehmen, wie sich unsere Zeit gegenüber derjenigen zwischen den Weltkriegen und des Kalten Krieges geändert hat. Die schwierige und häufig von Feindseligkeit geprägte deutsch-polnische Nachbarschaft endete in der Zwischenkriegszeit nach kaum zwanzig Jahren mit der Vernichtung Polens und Millionen seiner Staatsbürger. Die anschließenden Jahrzehnte waren von den imperialen Interessen der UdSSR und dem Ost-West-Konflikt geprägt, sodass die politischen Entscheidungsspielräume minimal waren. Trotzdem gelang es vielen Polen und Deutschen, darunter Politikern wie Willy Brandt und Władysław Bartoszewski, ein Stück Weges zur Verbesserung des deutsch-polnischen Verhältnisses zurückzulegen und die Fundamente für einen neuen Anfang zu schaffen, sobald sich dazu die historische Gelegenheit bieten würde. Wir sollten uns an diese Menschen erinnern und ihnen dankbar sein. Überdies verdienen es alle diejenigen unsere Wertschätzung, die in den letzten dreißig Jahren auf verschiedenen Feldern zu Kooperation und historischer Versöhnung beigetragen haben. Dazu gehören gewiss die politischen Führungen beider Länder in den Umbruchsjahren 1989 bis 1991 sowie die übrigen Teilnehmer der Gespräche und Verhandlungen, dank derer die beiden Verträge Realität werden konnten.

 

Aus dem Polnischen von Andreas R. Hofmann

 

Der Beitrag ist der aktuellen Ausgabe des Magazins DIALOG Nr. 135 (2021) entnommen. Die komplette Ausgabe gibt es hier zu bestellen.

Deutsch-Polnisches Magazin DIALOG 135 (2021)

 

Krzysztof Ruchniewicz

Krzysztof Ruchniewicz

Historiker, Professor an der Universität Wrocław und Direktor des dortigen Willy-Brandt-Zentrums für Deutschland- und Europastudien.

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