Im Traum vom Leben auf dem Lande, den viele Städter in Zeiten von Lockdown und überfüllten Metropolen hegen, kommt die Landwirtschaft selten vor. Güllegeruch, Mais bis zum Horizont oder nächtlich ausrückende Erntemaschinen haben keinen Platz in Lifestyle-Magazinen wie „Landlust“, „Landgarten“ oder „Mein schönes Landhaus“. Die Vorstellung vom Bauernhof schwankt zwischen Bilderbuchidylle mit Streicheltieren und farbenfroher Erntedankästhetik auf der einen und der pestizidverspritzenden, technisierten modernen Landwirtschaft mit Monokulturen und Massentierhaltung auf der anderen Seite. Kaum jemand kennt noch einen Bauern persönlich.
Wie auch, wenn nur noch weniger als zwei Prozent der deutschen Erwerbstätigen in der Landwirtschaft beschäftigt sind? Einige Jahrzehnte früher sah das noch ganz anders aus. In den 1950er Jahren etwa waren nahezu ein Viertel aller Erwerbstätigen im landwirtschaftlichen Bereich zu finden. Auch die Zahl der landwirtschaftlichen Betriebe ist seither stetig gesunken. Die Chance, Milch beim Bauern nebenan zu holen, haben also nur noch wenige. Gleichzeitig steigt offenbar die Sehnsucht nach dem „Echten“, nach Hofladen statt Supermarkt.
Wer also ist der Bauer, das unbekannte Wesen, dem wir doch immerhin unser tägliches Brot zu verdanken haben? Gehalten haben sich im Sprachgebrauch Adjektive oder Sprichwörter, die allesamt ein weniger schmeichelhaftes Bild zeichnen. „Bäurisch“ als Synonym für schwerfällig und ungehobelt; das „Bauernopfer“, bei dem wie im Schach etwas weniger Wichtiges für ein höheres Ziel geopfert wird; und natürlich die dicksten Kartoffeln, die der dümmste Bauer erntet. Das alles hat natürlich wenig mit der Realität zu tun. Bauern haben profunde Kenntnisse, managen komplexe, oft hochmoderne Betriebe. Die Zahl der studierten Landwirte nimmt zu.
Das Bild des Bauern hat sich seit der Antike vielfach gewandelt. Schon die Bibel ist voll von Gleichnissen aus Ackerbau und Viehhaltung. In Hesiods „Werke und Tage“ ist eine nunmehr bald über 2700 Jahre alte Anleitung zum Wirtschaften und Leben des Bauern überliefert, der hart arbeitend, fleißig und klug vorausplanend eine edle Arbeit verrichtet. Auch den Römern galt die Landwirtschaft als ehrbare Tätigkeit, die in den auch in der Antike wachsenden Betrieben dann allerdings zunehmend von Sklaven verrichtet wurde. Vergil, Cato, Plinius und andere haben ausführlich zur Landwirtschaft geschrieben.
Zur Zeit des Feudalismus erscheint der Bauer aus heutiger Sicht meist als schändlich ausgebeutetes Opfer der Herrschenden. Hohe Abgaben, Fron- und Spanndienste, Leibeigenschaft, Inbesitznahme von Allmenden durch Obrigkeiten, Armut und Marginalisierung machten den Bauern das Leben derart schwer, dass sie sich wiederholt gewaltsam zur Wehr setzten. Die Aufstände im deutschen Bauernkrieg im 16. Jahrhundert wurden blutig niedergeschlagen, doch brachten sie ein wirklich bemerkenswertes Dokument hervor: die zwölf Artikel der Bauernschaft in Schwaben von 1525. Sie lesen sich wie ein Vorläufer der Forderung nach gleichen Menschenrechten. Bauern als Vorreiter im Kampf um Recht und Freiheit! Luther, dessen Wort von der Freiheit des Christenmenschen die Bauern inspiriert hatte, wandte sich allerdings gegen sie, denn der Kampf gegen die Obrigkeit und das Morden gingen ihm dann doch zu weit. Der aufständische Bauer erschien nun als blutrünstige Bestie.
Friedrich II, dem der schöne Ausspruch zugeschrieben wird „Die Landwirtschaft ist die erste aller Künste; ohne sie gäbe es keine Kaufleute, keine Dichter und Philosophen. Nur das ist wahrer Reichtum, was die Erde hervorbringt“, scheiterte mit dem Versuch, die Leibeigenschaft auch außerhalb der Krondomänen abzuschaffen oder zu mildern, an den adligen Gutsbesitzern. Bis die Leibeigenschaft formell abgeschafft war, sollte es in Preußen noch bis 1807, in Bayern bis 1808 dauern. Dies bedeutete allerdings nicht, dass die Bauern und Landarbeiter hernach alle ihre Sorgen und Abhängigkeiten los waren. Bittere Armut trieb viele von ihnen in die Städte, wo sie zu „Kanonenfutter“ der Industrialisierung wurden.
In der jüngeren Vergangenheit hat die Landwirtschaft viele Instrumentalisierungen und Umbrüche erlebt. Die Nationalsozialisten propagierten mit der Blut-und-Boden-Ideologie einen völkischen Agrarromantizismus („Das Bauerntum als Lebensquell der nordischen Rasse“). Kräftige blonde Bäuerinnen samt Kinderschar und der heroisch hinter dem Pflug schreitende Ernährer waren beliebte Motive der regimetreuen Propaganda-Kunst. Die – wie man heute sagen würde – Agrarlobby gewann großen Einfluss, der agrarpolitische Apparat wuchs. Hitler versprach sich viele Wählerstimmen aus der ländlichen Bevölkerung. Außerdem sahen die Nationalsozialisten eine autarke Versorgung der Bevölkerung mit Lebensmitteln als unbedingt kriegswichtig an. Die Landflucht hielt allerdings auch im Dritten Reich an. Nur auf Grund der millionenfachen Versklavung von Zwangsarbeiterinnen und Zwangsarbeitern zumeist aus Polen und der Sowjetunion in der deutschen Landwirtschaft und der Ausbeutung besetzter Gebiete gab es in den Kriegsjahren noch genug zu Essen.
Ideologisch aufgeladen und instrumentalisiert wurde das Bild des Bauern auch im „Arbeiter- und Bauernstaat“ der DDR. Bei der Umstrukturierung der Landwirtschaft in der SBZ und DDR wurde mehr auf Ideologie denn auf ökonomische Vernunft geachtet. Unter dem Schlagwort „Junkerland in Bauernhand“ wurden Landwirte, die mehr als 100 Hektar besaßen oder solche, die auf Grund von Kriterien wie (tatsächlichen oder unterstellten) NS-Verbrechen gelistet wurden, enteignet. Rund 3 Mio. Hektar wurden so an kleinere und Neu-Bauern verteilt. Die Produktion sank, viele Bauernfamilien flüchteten in den Westen. In den 1950er und 1960er Jahren kam es dann schließlich zur Kollektivierung der Landwirtschaft, gegen ganz erhebliche Widerstände vieler Bauern.
Die Römischen Verträge von 1957 markieren schließlich den Beginn einer Europäischen Agrarpolitik. Heute gibt die EU fast die Hälfte ihres Budgets für die Gemeinsame Agrarpolitik aus, damit europäische Landwirte auf dem Weltmarkt überhaupt eine Chance haben.
Ein dichtes, fast berauschendes Panorama durch verschiedene Epochen zeichnet die Germanistin und Politologin Uta Ruge in ihrem Buch „Bauern, Land. Die Geschichte meines Dorfes im Weltzusammenhang“, erschienen 2020 im Verlag Antje Kunstmann. Sie erzählt die Geschichte ihrer eigenen Familie, die als Flüchtlinge in den 1950er Jahren einen Hof in Norddeutschland übernahmen. Sie erzählt von den Fürsten, die im 18. Jahrhundert dort einst das Moor urbar machen wollten und Bauern ansiedelten. Von der Entwicklung der Landmaschinen und der Düngemittel. Sie berichtet von einer fast verschwundenen bäuerlichen Kultur, die sie als Kind noch erlebte, mit ganz eigenen Codes und Traditionen, von den tiefschürfenden Veränderungen durch Flurbereinigung, Technisierung und von der Abhängigkeit von EU-Subventionen. Und von ihrem Bruder, ihrer Schwägerin und ihrem Neffen, die das taten, was viele nicht mehr tun: den Hof der Eltern übernehmen und weiter bewirtschaften, allen Widrigkeiten zum Trotz.
Sie, die inzwischen ein Stadtmensch geworden ist, kommt oft zu Besuch und sieht nun das Land und den Hof mit neuen Augen. „Warum soll man überhaupt die Dörfer und die bäuerlichen Familienbetriebe retten“, fragt sich die Familie. „Die viele Arbeit, der Druck auf die nächste Generation, die riesige Arbeitsleistung der Frauen, die oft so wenig gewürdigt wird.“ Die Sinnfrage fällt in den Gesprächen mit ihrem Bruder, dem Bauern, mehr als einmal.
Wie sieht die Realität landwirtschaftlicher Betriebe in Deutschland heute aus? Laut einer Forsa-Umfrage unter Landwirten aus dem Jahr 2019 sind die drängendsten Probleme für die Landwirtschaft in Deutschland erstens der hohe Preisdruck durch Discounter und Verbraucher sowie durch steigende Preise für Produktion und Flächen; zweitens eine geringe Akzeptanz und Wertschätzung in der Bevölkerung für die eigene Arbeit und drittens zu viel Bürokratie.
Dabei arbeiten die deutschen Bauern sehr effizient. Ernährte ein Landwirt 1949 im Durchschnitt zehn Menschen, sind es heute zwischen 130 und 150. Auch die Zahl der gehaltenen Tiere hat sich vervielfacht. Ein Bauer bewirtschaftet im Schnitt 60 Hektar Land. Die Zahl der Höfe und der Beschäftigten in der Landwirtschaft allerdings hat stark abgenommen, die Größe der einzelnen Betriebe dagegen zugenommen. Mehr Ackerfläche, mehr Milch, mehr Fleisch. Das ist vor allem die Folge der EU-Agrarpolitik, die Direktzahlungen an Landwirte vor allem an die Größe koppelt. Kleinbauern haben das Nachsehen, Großbetriebe sind im Vorteil.
Zur Wahrheit gehört deshalb auch, dass etwa jeder zweite landwirtschaftliche Familienbetrieb ein sogenannter Nebenerwerbsbetrieb ist. Das bedeutet, dass zusätzlich zur Landwirtschaft weitere Einnahmen zur Existenzsicherung nötig sind. Im Durchschnitt verdienen Vollzeitangestellte in der deutschen Landwirtschaft rund 18.000 Euro brutto jährlich (2017). Das ist deutlich unter dem Durchschnitt aller Angestellten; während die Arbeitszeit überdurchschnittlich hoch ist. Saisonkräfte bzw. Erntehelfer, die meist aus dem Ausland kommen, verdienen noch weniger. Selbstständige Landwirte verdienen mehr, gerechnet wird mit durchschnittlich ca. 34.000 Euro brutto jährlich. Etwaige Nebeneinkünfte durch Produktion Erneuerbarer Energien etc. sind dabei noch nicht eingerechnet (Quelle). Bio-Bauern verdienen übrigens im Schnitt inzwischen mehr als ihre konventionell wirtschaftenden Kolleginnen und Kollegen.
Auch heute scheint die Landwirtschaft wieder ideologisch aufgeladenes Terrain zu sein, ganz anders allerdings als in den beiden deutschen Diktaturen des 20. Jahrhunderts. Angesichts des Klimawandels und der immer weiter zunehmenden Naturzerstörung scheint beinahe ein Kulturkampf zwischen konventionell und bio entbrannt zu sein. Dabei wird der Bauer zur Projektionsfläche: auf der einen Seite der konventionelle Landwirt als Bienenvergifter, Tierausbeuter, Grundwasserverschmutzer. Und auf der anderen Seite erstrahlt der Bio-Bauer als rettender Held, naturverbunden, tierfreundlich und modern, im Einklang mit Natur und Umwelt in strahlendem Licht.
Das Brot auf dem Teller wird zur Glaubensfrage, ebenso das Stück Fleisch und das Glas Milch. Für die einen wird das Essen und seine Herkunft zunehmend sinnstiftend und zur Frage von Nachhaltigkeit und Klimarettung, für die anderen muss es vor allem billig sein. Die Polarisierung wird von Teilen von Politik und Medien vorangetrieben. Ein Beispiel war die Plakataktion der vormaligen Bundesumweltministerin Barbara Hendricks, die zum Ziel hatte, für eine naturverträgliche Landwirtschaft mit „Neuen Bauernregeln“ zu werben, was zahlreiche Bauern verärgerte. „Steht das Schwein auf einem Bein ist der Schweinestall zu klein“. Daran gibt es inhaltlich natürlich erst einmal wenig auszusetzen. Doch die Bauern und ihre Verbände fühlten sich pauschal in Haftung für Umweltprobleme genommen, obwohl sie gesetzliche Vorgaben erfüllten.
Ohnehin sehen sich viele konventionell wirtschaftenden Bauern zunehmend unter Rechtfertigungsdruck gegenüber Verbrauchern und Medien, warum sie (noch…) nicht auf Bio umgestellt haben. Bekehrungsgeschichten nach dem Motto „Wie ich vom Massentierhalter zum Biobauern wurde“ sind ausgesprochen beliebt im TV und Social Media. Für viele lohnt sich die Umstellung, wirtschaftlich, für das eigene Gewissen oder im Sinne der Nachhaltigkeit. Auch EU-Gelder sollen ab 2023 stärker an Umwelt- und Klimaleistungen wie Blühstreifen oder der Erhöhung nichtproduktiver Fläche, Tierwohl etc. gebunden werden und kleinere Betriebe stärker unterstützen. Doch eine wirklich tiefschürfende Revolution der Europäischen Agrarpolitik ist eher nicht zu erwarten.
Landwirte, die weiter konventionell wirtschaften, können die Kritik angesichts ihrer täglichen, harten Arbeit für die Ernährungssicherheit ohnehin oft nicht nachvollziehen. Denn schließlich fordern Discounter und Verbraucher doch das Pfund Schweineschnitzel zu 3,50 Euro und den Liter Milch zu 60-80 Cent. Warum also wird der Landwirt, der ohnehin hart für jeden Cent ackern muss, dann auch noch angegriffen, wenn er diese Nachfrage deckt? Zu solchen Preisen sind glückliche Schweine eben nicht drin.
Es gibt zahlreiche Imagekampagnen von Bauernverbänden, es gibt junge Landwirte, die in Influencer-Manier auf Instagram und YouTube über ihre Arbeit berichten, es gibt das Bundesinformationszentrum Landwirtschaft und vieles mehr, um die Landwirtschaft sicht- und begreifbarer zu machen. Es gibt TV-Sendungen wie „Unser Land“ in den dritten Programmen des öffentlich rechtlichen Fernsehens und Angebote wie „Fragen Sie einen Landwirt“, bei dem man Fragen einsenden kann und echte Landwirte antworten. Die Landwirtschaft soll wieder stärker ins Bewusstsein rücken.
Und dann gibt es viele, die die Landwirtschaft grundsätzlich verändern wollen und damit einen Nerv treffen. Wer Mitglied einer SoLaWi (solidarischen Landwirtschaft) werden will, muss sich jedenfalls in Berlin auf längere Wartelisten einstellen. Zum Teil als Genossenschaft organisiert, finanzieren die Verbraucher dabei den Landwirt oder Gemüseanbauer mit einem monatlich festen Betrag. Sie erhalten dafür in einem bestimmten Rhythmus Ernteanteile. Die Bezahlung wird auch bei schlechter Ernte fortgesetzt – der Erzeuger braucht dann nicht um seine Existenz zu bangen. Althergebrachte Methoden werden wiederbelebt, beispielsweise nachhaltige Agroforstwirtschaft, bei der Bäume und Sträucher in einem System mit Ackerbau und Tierhaltung kombiniert werden. Alle Komponenten stehen dabei in einem nützlichen Verhältnis zueinander.
Urban Farming, Vertical Farming oder Aquaponik dagegen sind Konzepte, die sich von Raum und Zeit der Landwirtschaft unabhängig machen und den Bauern, wie wir ihn kennen, überflüssig machen könnten. Schon in näherer Zukunft könnten im großen Stil Lebensmittel sogar in Großstädten produziert werden, ohne großen Flächenverbrauch und ohne einen Krümel Erde, unabhängig von der Jahreszeit oder dem Wetter und ganz nah am Endverbraucher. Fleisch aus der Petrischale schließlich könnte Tiertransporten, Tierleid und sogar der Schlachtung ein Ende setzen. Tiere wären dann wirklich, wie in der Kinderbuchbauernhofidylle, vor allem zum Streicheln da.
„Wenn es so weit ist, werden ein paar Bio-Agrarier nur noch für eine gut verdienende Elite produzieren, die sich das Echte leisten kann. Und die bäuerliche Kultur wird verschwunden sein, die aus den Abläufen zyklischer Wiederkehr lebt, von einem Tun, das auf die Natur gerichtet ist. Naturliebe wäre dann endgültig eine Utopie, ein Rückzug vor den Folgen einer Produktionsweise, deren Früchte eine immer weiter wachsende Bevölkerung ganz selbstverständlich genießt.“ Für Uta Ruge scheint diese Zukunft eher ein Schreckensbild denn eine Verheißung zu sein. Doch wer den Bauern nicht kennt, der wird vielleicht nichts vermissen.
Ein sehr kenntnisreicher und informativer Beitrag! Danke dafür! Man wünschte sich für ihn zahlreiche LeserInnen, weil er sachlich fundiert Zusammenhänge klärt, die wohl den meisten ZeitgenossInnen, unter ihnen besonders den Städtern ncht geläufig sein dürften – mir übrigens auch nicht.
Und man wünschte sich eine weniger aufgeheizte Debatte zum Thema, bei der leider auch die amtierende Bundesministerin Klöckner kein wirklich gutes Beispiel abgibt.