Bundeskanzlerin Angela Merkels europaweite Popularität der vergangenen fünf Jahre ging teils auf die Annahme zurück, sie habe Europa aus der Eurokrise herausgeholfen, teils auf linksliberale Begeisterung für ihre Migrationspolitik, schließlich auch auf das Empfinden, sie verkörpere eine Oase der Stabilität inmitten einer Zeit der weltweiten populistischen Herausforderungen. In jüngster Zeit haben sich einige dieser positiven Bewertungen in ihr Gegenteil verkehrt.
2018 schrieb der britische Journalist und Deutschlandkenner Hans Kundnani, es sei noch offen, ob Angela Merkel als Zerstörerin oder Retterin Europas in die Geschichte eingehen werde. Drei Jahre später sind wir vielleicht der Antwort ein Stück nähergekommen. Die Kritiker sind vernehmlicher und die Unterstützer leiser geworden. Merkel, sagt Jan-Werner Müller, namhafter Politikwissenschaftler an der Princeton University, habe dadurch überlebt, dass sie das politische Tagesgeschäft wann immer möglich gemieden habe; die Geschichte werde sie dafür nicht freundlich beurteilen. Der linksstehende Soziologe Wolfgang Streeck sieht sie als postmoderne Politikerin mit einer vormodernen, machiavellistischen Verachtung sowohl für politische Anliegen wie auch Menschen.
Die charakteristische Merkel-Methode, die die meisten beeindruckte und viele in Wut brachte, war ihr Balancieren zwischen einander bekämpfenden politischen Kräften und grundsätzlich nicht mehr zu tun als das bloße Minimum, und das im allerletzten Augenblick. In den Worten ihres Biographen, des stellvertretenden Chefredakteurs des „Spiegel“ Dirk Kurbjuweit, warte sie ab, um zu sehen, wohin die Reise geht, erst dann springe sie auf den Zug. Dieser Ansatz hat nicht nur ihre Innenpolitik bestimmt, sondern auch, wichtiger für die Zwecke dieses Beitrags, ihre Europastrategie. Rhetorisch hat Merkel gewöhnlich Zurückhaltung den Vorzug vor Spielraum gegeben. Ihr Lieblingswort ist „alternativlos“, womit sie implizierte, eine bestimmte politische Entscheidung sei in Wahrheit keine Entscheidung.
Das vielleicht beste und ausdauerndste Beispiel für den Modus Operandi der Kanzlerin ist die Agonie des Euro. Die sich verschärfenden nationalen Schuldenkrisen in Spanien, Italien, Portugal, der Republik Irland und besonders in Griechenland im Anschluss an die globale Finanzkrise von 2008 stellten für die Gemeinschaftswährung eine tödliche Gefahr dar. Dies war aber auch eine Gelegenheit, die politische Union zu vollenden, um den Euro zu stützen oder wenigstens einen Gemeinschaftsfonds für seine Absicherung einzurichten. Merkel bekundete kein Interesse für erstere Option und zeigte damit einen völligen Mangel an politischer Vision, während sie letztere so lange wie möglich ablehnte. Es brauchte das Engagement Mario Draghis, Chefs der Europäischen Zentralbank (EZB), um das Notwendige zur Stabilisierung der Gemeinschaftswährung zu tun. Als Kanzlerin des mächtigsten Staats der Eurozone übernahm Merkel nicht die Führung, sondern reagierte lediglich.
Der Druck von außen reichte nie ganz zum Kurswechsel
Ganz ähnlich fiel es ihr schwer, die wachsende Aggressivität des von Wladimir Putin geführten Russlands zu begreifen. Auf die Cyberattacke auf Estland 2007 blieb eine Reaktion aus. Ein Jahr darauf gehörte sie zu denen, die beim NATO-Gipfel von Bukarest einen Beitrittsplan für die Ukraine und Georgien blockierten. Das ermutigte Russland, bald darauf seinen Angriff gegen Georgien zu starten. 2014 annektierte Putin die Krim und intervenierte in der Ostukraine. Diesmal reagierte Merkel mittels spürbarer Wirtschaftssanktionen, aber sie war sehr zögerlich bei der notwendigen Erhöhung der deutschen Verteidigungsausgaben, die immer noch unter den im Bündnis gegebenen Zusicherungen liegen. Vor allem aber weigerte sich Merkel, die umstrittenen Nordstream-Projekte einzustellen, Gaspipelines, die eine Direktverbindung zwischen Russland und Deutschland herstellen und als schwere Bedrohung für die Sicherheit Polens gelten. Der Druck in Richtung auf einen Kurswechsel war zwar erheblich, reichte aber nie ganz aus, um innerdeutsche Wirtschaftsinteressen zu überwiegen.
Dagegen wird leicht vergessen, dass Merkel auch zu ziemlich einschneidenden und überraschenden Entschlüssen fähig war. Erstmals ließ sie das 2011 erkennen. Nach der Katastrophe im japanischen Fukushima kündigte Merkel ohne vorherige Abstimmung an, Deutschland werde aus der Kernkraft aussteigen. Im selben Jahr weigerte sie sich, an der gemeinsamen Intervention in Libyen teilzunehmen, die Gaddafi daran hindern sollte, seine eigene Bevölkerung zu massakrieren. Das war für ein Land bemerkenswert, das so große Stücke auf Bündnissolidarität setzte, wobei gesagt werden muss, dass Deutschland nicht als einziges Land aus der Libyenallianz ausscherte; dasselbe tat damals das ansonsten sehr NATO-loyale Polen. Im Herbst 2015 erlaubte Merkel schließlich etwa einer Million vorwiegend syrischer Flüchtlinge die Einreise nach Deutschland, womit sie ihnen de facto Zutritt zur gesamten Europäischen Union gewährte.
Eine Oase der Stabilität in Zeiten des globalen Populismus?
Merkels europaweite Popularität der vergangenen fünf Jahre ging teils auf die Annahme zurück, sie habe Europa aus der Eurokrise herausgeholfen, teils auf linksliberale Begeisterung für ihre Migrationspolitik, schließlich auch auf das Empfinden, sie verkörpere eine Oase der Stabilität inmitten einer Zeit der weltweiten populistischen Herausforderungen. Wie sie ihre persönliche Würde in Anbetracht von Trumps Beleidigungen und Großsprechereien wahrte, war in der Tat beeindruckend. In Großbritannien nahm so mancher, vor allem wer für den Verbleib in der Europäischen Union gestimmt hatte, einen positiven Unterschied zwischen Merkels Stil und den offenkundigen Fehlleistungen von Premier Boris Johnson wahr. Beim Beginn der Corona-Pandemie fand diese Gefühlslage besonders lebhaften Ausdruck in einem Buch des altgedienten Journalisten John Kampfner, „Why the Germans Do it Better. Notes From a Grown-up Country“ (London 2020; dt. Ausgabe: Warum Deutschland es besser macht. Ein bewundernder Blick von außen, Hamburg 2021).
In jüngster Zeit haben sich einige dieser positiven Bewertungen in ihr Gegenteil verkehrt. Wie immer man Merkels Entscheidung in der Flüchtlingspolitik sieht, zweifellos verschaffte sie nicht nur dem Populismus in europäischen Ländern Auftrieb, sondern verschärfte auch Spannungen zwischen diesen, indem sie die Trennungslinien zwischen der Ost‑ und der Westhälfte der EU vertiefte. In der Pandemiebekämpfung hat Deutschland keine gute Figur gemacht und plötzlich haben sich hier die so verlachten Briten an die Spitze gesetzt.
Unterdessen kam die größte Herausforderung für den Westen, nämlich die Volksrepublik China, unter Merkels Ägide auf. Obschon nicht im Alleingang – genannt seien etwa der britische Premier David Cameron und sein Schatzkanzler George Osborne -, so war doch Merkel eine der prominentesten Akteurinnen bei der Umsetzung einer verfehlten Wirtschaftspolitik gegenüber China, die auf der irrtümlichen Annahme beruhte, wirtschaftliche Einbindung würde zu politischer Liberalisierung führen.
Diese Chinapolitik half der deutschen Exportwirtschaft. Sie verschloss die Augen vor der zunehmend aggressiven Politik Chinas in Ostasien als auch den schweren Menschenrechtsverletzungen Pekings. Das fällt Deutschland jetzt auf die Füße, da aus Washington Forderungen kommen, Huawei aus seiner kritischen Infrastruktur zu entfernen und EU-Sanktionen gegen China wegen seines Vorgehens gegen die muslimischen Uiguren zu verhängen.
Merkel ließ Macron im Regen stehen
Ob wir all dies nach dem Ende von Merkels Amtszeit in diesem Jahr vermissen werden, hängt von den Antworten auf zwei Fragen ab. Erstens: Wer hätte anstelle von Angela Merkel das Amt in den Jahren 2005 bis 2021 führen können? Zweitens: Wer wird ihr Nachfolger? Wir kennen die Antwort auf die erstere Frage und haben eine ziemlich genaue Vorstellung von der zweiteren.
Merkel war in Deutschland keineswegs so „alternativlos“, wie wir uns zu denken gewöhnt haben. Zwar gewann sie damals das Kanzleramt, indem sie Gerhard Schröder schlug. Er war sicher der schwächere Kandidat, sympathisierte mit Wladimir Putin und ist heute in der Tat Vorsitzender des Aufsichtsrats des russischen Energiekonzerns Rosneft. Mit einem Sieg über den SPD-Politiker Frank-Walter Steinmeier wurde sie wiedergewählt; auch Steinmeier verfolgte gegenüber Russland eine weichere Linie. Anschließend schlug sie Peer Steinbrück, der außenpolitisch eher ein Falke war, die Libyen-Intervention befürwortete und sich für Eurobonds aussprach, um eine gemeinsame EU-Außenpolitik voranzubringen. Als sie Martin Schulz bei den letzten Bundestagswahlen in einem Erdrutschsieg schlug, war dieser sicher der engagierteste Europäer und auch in seiner Russlandpolitik nicht nachgiebig. Bei den letzten beiden Wahlen gab es also jeweils eine brauchbare „Alternative“ zu Merkel aus Sicht derer, die sich, wie der Autor dieser Zeilen, eine robustere Russlandpolitik und einen engagierteren Einsatz für die politische Einigung unseres Kontinents gewünscht hätten.
Das eigentliche Problem war jedoch die Art und Weise, in der sie genuin europäische Alternativen zu ihrer vorsichtigen Politik blockierte. Das wurde am deutlichsten daran, wie sie mit dem frischgewählten französischen Präsidenten Emmanuel Macron umging. Gleich nach seiner Wahl strömte er vor Ideen für die Umwandlung der EU und die Schaffung einer wahrhaft „europäischen Souveränität“ nur so über. Selbstverständlich gab es praktische Schwierigkeiten bei der Umsetzung dieser Vorstellungen, aber Macrons Ideen waren mit Abstand die aufregendsten, die Europa seit mindestens einem Jahrzehnt gesehen hatte. Macrons Konzeption eines gemeinsamen Budgets für die Eurozone beispielsweise wäre ein großer Schritt in Richtung eines vereinten Europas gewesen. Selbst wenn man die unvorhergesehenen Verzögerungen bei der Bildung der Bundesregierung nach den Wahlen von 2017 in Rechnung stellt, war Merkels Reaktion beschämend. Sie ließ Macron solange im Regen stehen und vermied, sich mit einer Antwort auf seine Reformvorschläge festzulegen, bis der angeschlagene französische Präsident schließlich von den Protesten im Inland lahmgelegt wurde. Wenn er nicht ein dramatisches Comeback fertigbringt, ist Macron heute leider eine lahme Ente der europäischen Politik. Merkel hat ihn schlicht abgenutzt, was vielleicht nicht die Absicht, aber doch das Ergebnis ihres Verhaltens war.
Kein Anzeichen für radikale Veränderung nach den Bundestagswahlen
Es gibt keine Garantie, dass Merkels Nachfolger in der CDU es besser machen wird. Ihr designierter Nachfolger, der nordrhein-westfälische Ministerpräsident Armin Laschet, besitzt zwar Merkels ruhige Wesensart, ist aber gegenüber Russland und China eher noch nachgiebiger. Auch gibt es kein Anzeichen dafür, er würde die radikalen Entscheidungen treffen, die das europäische Projekt wirklich voranbringen könnten. Laschet wäre also kaum eine Verbesserung.
Generell ist nicht klar, ob Merkel, die aufrichtig versuchte, gegen die Kräfte des Extremismus anzugehen, diese nicht letztlich, wenn auch unbeabsichtigt, ermutigt hat. Ihre Migrationspolitik ließ rechtsextreme Stimmungen aufleben. Sie tat wenig, um die Regierungen in Ungarn und Polen wegen ihrer Verletzungen der Rechtsstaatlichkeit in die Schranken zu weisen. Es besteht die Gefahr, dass diese Kräfte nach dem Ende ihrer Amtszeit einen Durchbruch erleben werden, vielleicht schon 2022 mit der Wahl von Marine Le Pen zur französischen Präsidentin.
Wie frustriert auch immer wir also über Angela Merkels Bilanz sein mögen, wir sollten vorsichtig mit unseren Wünschen sein. Vielleicht sollten wir das letzte Wort Yanis Varoufakis überlassen, einem der prominentesten Opfer ihrer Austeritätspolitik. „Sie war eine Katastrophe“, sagt der frühere griechische Finanzminister, „und man wird sie vermissen, weil ihr Nachfolger sicher schlimmer sein wird.“
Aus dem Englischen von Andreas R. Hofmann
Dieser Beitrag erschien zuerst im Aspen Review Central Europe Nr. 2/2021.
Ich kann dem Verfasser dieses Beitrages nur voll zustimmen. Frau Merkel war eine passive Politikerin, die Entwicklungen nicht gestaltete sondern nur reagierte, wenn die Höhe des Druckes im Kessel es nicht vermeiden ließ. Dann war ihre ruhige und abwartende Art vielleicht ein Vorteil. Es kamen aber keine kreativen Lösungen zu Stande, meist nur ein aufschieben von Problemen.
Der plötzliche Ausstieg aus der Kernenergie ohne Abstimmung auch auf europäischer Ebene, war unter dem heute deutlichen Eindruck des Klimawandels, ein Fehler. Diese AKWs hätten weiter laufen müssen solange dieses technisch und wirtschaftlich möglich ist, und dafür hätte man die Braunkohlenkraftwerke runterfahren müssen.
Das nächste ist das beharrliche Gegenarbeiten und Abwenden von EU-Vorschlägen zur Verringerung von Umweltbelastungen, z. B. CO2-Emissionen, z.B. durch die Automobilindustrie, im Verkehr. Jetzt ist der Druck groß.
Sehr enttäuschend war nach der Wahl von Macron, wie sie diesen in Leere laufen lies. Als Mitglied einer Deutsch-Französischen Gesellschaft war ich förmlich wütend und konnte das auch mit anderen teilen.
Durch ihre Alleinpolitik in der Einwanderungskrise, deren Höhepunkt im Jahr 2015 lag, hat sie rechtsnationalen Kräften in Europa zu größeren Wahlerfolgen verholfen. Es war ein Schritt in Richtung der Spaltung Europas. Den Brexitbefürwortern hat sie zu ihrem knappen Erfolg verholfen. Denn laut Umfragen in Großbritannien hatte die Imigrationsfrage das größte Gewicht und deren Aufzwingen durch die Kanzlerin.
Total enttäuschend für mich als Wähler und Wahlhelfer, dass nach der Wahl nicht ein führender EU-Politker die Kommissionspräsidentschaft übernahm, sondern im Hinterzimmer die erfolglose Verteidigungsministerin durch Merkel in das Amt gehoben wurde. Zur EU müssten die Besten gehen, nicht die, die man los werden will. Das Handeln der EU in den ersten Monaten der Pandemie sprach dann auch Bände.
Herrn Yanis Varoufakis, von dem ich sonst auch nicht so ganz viel halte, kann man in seiner Einschätzung nur zustimmen.