Zum Inhalt springen

Geopolitische Irrwege

Eines der Grundprinzipien der freien Marktwirtschaft besagt, eine Marktlücke könne nur selten über einen längeren Zeitraum hinweg ungenutzt bleiben. Betrachtet man die letzten 30 Jahre, so lässt sich das Gleiche über den polnischen Marktplatz der Ideen sagen. Drei Jahrzehnte lang herrschte in der polnischen Außenpolitik Konsens darüber, dass Polen so schnell wie möglich Anschluss an westliche Strukturen – NATO und die Europäischen Union – finden sollte. Nach Erreichung dieses Ziels wurden keine wirklich neuen außenpolitischen Zukunftsaufgaben festgelegt.

Das Beitrittsreferendum von 2003, bei dem die Polen über ihren Beitritt zur EU entschieden, endete mit einem Erfolg der Befürworter des Beitritts. Dennoch stimmten 22 Prozent der Wähler mit „Nein“. Vor dem Hintergrund einer außergewöhnlichen Mobilisierung der Befürworter des EU-Beitritts vor dem Referendum bedeutet dieses Ergebnis, dass die EU-Gegner zwar eine Minderheit darstellten, sie dennoch eine politische Kraft waren, die eines Tages möglicherweise eine Rolle in der polnischen Politik spielen würde.

Diese einfache Wahrheit wurde von den polnischen Eliten nicht wahrgenommen. Nach dem Erfolg beim Referendum haben sich die EU-Befürworter in Sicherheit gewogen. Nachdem Polen den westlichen Strukturen beigetreten war, herrschte im Land eine Art ideologische Flaute. Es war nicht ganz klar, was die weiteren Ziele Polens sein sollten. Reichtum und ein steigender Lebensstandard sind, wie aus vielen Beispielen in der Welt bekannt, nicht in der Lage, die menschliche Sehnsucht nach etwas Größerem, nach einer Idee, die inspirieren könnte, zu erfüllen.

Unter der liberalen PO-Regierung waren Ideenlosigkeit und politischer Zynismus äußerst erfolgreich. Leider bedeutete dies keineswegs den Sieg eines technokratischen Ansatzes (der an sich auch eine Idee ist, die die Menschen zu fesseln vermag). Die PO in ihrem Niedergang war in Wirklichkeit die Herrschaft von PR-Beratern. Dies führte zu einem Wechsel vieler Gemäßigten in Richtung politische Rechte, die damals noch den Eindruck einer zivilisierten, europäischen Rechten vermittelte. Ihre Schwächen wurden dabei durch einen offensichtlichen intellektuellen Aufschwung ausgeglichen: Anstatt Flaute fanden zwischen 2012 und 2015 die lebhaftesten Diskussionen über Polens Zukunft leider innerhalb der polnischen Rechten und nicht innerhalb der Liberalen oder Linken statt.

Das änderte sich aber schlagartig, als die Rechten die Macht übernahmen. Sehr schnell stellte sich heraus, wozu die Diskussionen einzig und allein dienten: Sie sollten den rechten Machthabern zeigen, wer in ihren Reihen unabhängig dachte, damit man sie schnell aus dem öffentlichen Leben entfernen konnte. Zur ideologischen Flaute in der Mitte und auf der linken Seite des politischen Spektrums gesellte sich nun auch eine Flaute auf der rechten Seite.

Als Ersatz für große Ideen diente eine Zeit lang der politische Krieg zwischen den Liberalen um Donald Tusk und die Bürgerplattform auf der einen und den Konservativen um Jarosław Kaczyński auf der anderen Seite. Die Lossagung beider Seiten von ihren Ideen, die Verachtung seitens der liberalen Elite und der Hass vonseiten der Rechten sowie die völlige Unfähigkeit beider politischer Kräfte nicht nur zu Kompromissen, sondern sogar zum Dialog führten dazu, dass die Menschen, selbst wenn sie bestimmte politische Parteien wählten, dann mehr aus Abneigung gegen die gegnerischen Kräfte als aus Überzeugung, für die richtigen gestimmt zu haben. Die Nische auf dem Marktplatz der Ideen ist nur noch weitergewachsen.

Mit der Verschärfung des internen Konflikts begann Kaczyńskis Partei PiS sich zunehmend nationalistischen Positionen zuzuwenden. Dafür gab es drei Gründe. Erstens die instinktive Abneigung der polnischen Rechten nicht allein gegenüber der liberalen Demokratie, aber auch – und das ist noch schlimmer – gegenüber dem Fortschritt, der Modernität, den sexuellen Minderheiten, dem Westen, Deutschland und neuerdings sogar den USA.

Zweitens die Fehler der liberalen Seite, die in ihrer Bejahung von allem, was mit dem Westen assoziiert wird, eine selbstzerstörerische Übertreibung erreicht hat (so kommentierte eine der EU-Abgeordneten von der PO mit offensichtlicher Genugtuung das EuGH-Urteil, welches die sofortige Einstellung der Kohleförderung im polnischen Tagebau Turów anordnete. Dies ist jedoch schier unmöglich und wird vor allem Zehntausende Menschen hart treffen).

Drittens die Fehler der europäischen Partner – etwa in der Frage um die Gaspipeline Nord Stream 2 –, die die polnische Rechte beflügelte. Am wichtigsten war indes wohl das zynische Kalkül, nationalistische Rhetorik würde sich einfach lohnen, da sie erstens die Kernwähler von PiS konsolidiert und zweitens Stimmenabwanderungen Richtung rechtsextreme Nationale Bewegung verhindert.

All dies zusammen hatte zur Folge, dass sich die Debatte hin zu den oben genannten 22 Prozent der Wähler bewegte. Gleichzeitig bewirkte der Zynismus der Partei Recht und Gerechtigkeit, dass jene Verschiebung überhaupt nicht dafür sorgte, die vorhandene ideologische Leere zu füllen. PiS baute kein Narrativ auf, das man als modernen Patriotismus oder – in einer radikaleren Version – als modernen Nationalismus bezeichnen könnte, sie taute lediglich die einfachsten antiwestlichen Emotionen auf. Diese Taktik hat sich als erfolgreich erwiesen. Die geografische Verteilung der Stimmen aus dem Referendum vor 18 Jahren deckt sich sehr deutlich mit den Ergebnissen der Parlaments- und Präsidentschaftswahlen. In den Woiwodschaften, in denen die Partei Recht und Gerechtigkeit, die heute in Polen regiert, gewinnt und in denen Präsident Andrzej Duda das Referendum klar für sich entscheiden konnte, war ebenfalls der Prozentsatz derjenigen, die gegen den EU-Beitritt waren, am höchsten (in der Woiwodschaft Lublin waren rekordverdächtige 36 Prozent gegen den EU-Beitritt).

Die Wahlerfolge von PiS änderten nichts an der Tatsache, dass auf dem Marktplatz der Ideen nach wie vor eine Leere herrschte. Für PiS war der Nationalismus bloß eine Art Öffentlichkeitsarbeit. Als der Krieg in der Ukraine ausbrach, begannen sich die Polen zu fragen, ob Polen wirklich sicher sei. So traf die ideologische Flaute auf eine hochaktuelle Frage, die nicht nur eine Handvoll politisch Interessierter, sondern die breite Masse zu interessieren anfing.

Es bestand also eine Nachfrage nach außenpolitischen Ideen auf dem Markt. Diese Lücke wurde von den sogenannten Geopolitikern perfekt ausgefüllt, einer kleinen Gruppe von Menschen, die – ansonsten vor allem über YouTube und soziale Medien – den ideenhungrigen Polen Antworten auf zwei Grundbedürfnisse gaben, nämlich nach Polens Sicherheit und seiner Würde.

Das Bedürfnis nach Sicherheit ist auf den Krieg in der Ukraine zurückzuführen, der für die Polen ein psychologischer Schock war. Es stellte sich heraus, dass die Welt nicht so sicher und stabil ist, wie wir bislang dachten. Das Bedürfnis nach Würde ist wiederum eine Konsequenz des jahrelang lancierten Narrativs, wonach Polen nur vom Westen lernen, ihn nachahmen und sich anpassen sollte. Leider folgte auf den Wohlstandssprung Polens keine Änderung des Narrativs, und viele Polen, die für die Problematik der nationalen Würde sensibilisiert sind, begannen, sich an einem Beziehungsmodell zu stören, in dem Polen nur ein Schüler oder ein Kunde zu sein hatte und die polnischen Interessen stets den Interessen der größeren Akteure in Europa untergeordnet werden.

Die Geopolitik, obwohl sie nur eine alte und längst überholte Denkschule der internationalen Politik repräsentiert, ist plötzlich zur angesagtesten Denkrichtung geworden. Ihre Popularität rührt daher, dass sie durch die Reduzierung auf einen einzigen Faktor (die Geografie) und die völlige Vernachlässigung oder Reduzierung der Bedeutung anderer Faktoren wie wirtschaftlicher Fragen, politischer Beziehungen, Kultur und Werte eine einfache Beschreibung der Welt und damit einfache und naheliegende Rezepte anbot. Der Darwinismus der Geopolitik passte überdies ideal zum Denken einer Generation von 40- und 50-Jährigen, die mit dem Wirtschaftsdarwinismus in Polen nach 1989 aufgewachsen sind.

Allem Anschein zum Trotz sind keine einfachen und ungebildeten Menschen zu Anhängern der Geopolitik geworden, im Gegenteil, es sind hauptsächlich gebildete Vertreter der Mittelschicht. Intellektuelle Sinnsuche ist gleichsam die Domäne derjenigen, die ein gewisses Wohlstandsniveau erreicht haben und sich schwierige Fragen stellen. Das Problem liegt darin, dass die polnischen 40- und 50-Jährigen genug Zeit haben, um Fragen zu stellen, doch nicht genug Zeit, um komplexe Antworten zu hören.

Neben den 40- und 50-Jährigen gehören sehr junge Menschen zu den Geopolitikjüngern, denen die Scharlatane der Geopolitik in einer geheimnisvollen Sprache einen für Normalsterbliche unzugänglichen Wissensersatz vermittelt haben. Die Sprache der polnischen Geopolitiker ist im Übrigen ein Thema für eine Doktorarbeit über Sektentheorie. Es stellt sich heraus, dass die einfachsten Dinge mit unzähligen Wörtern aus Fremdwörterbüchern zu erklären viele, scheinbar ganz rationale Menschen zu verzaubern vermag. Die Geopolitik ist jedoch nicht ausschließlich eine Form, es ist auch ein ganz bestimmter Inhalt.

Die wichtigsten Thesen der polnischen Geopolitikexperten lauten:

  1. Der kollektive Westen hat sich bereits aufgelöst;
  2. der Westen hat Polen verraten oder ist im Begriff, Polen zu verraten;
  3. die NATO ist kein Garant für Polens Sicherheit;
  4. Polen kann ein unabhängiger Akteur in der Region sein;
  5. Polen muss seine „Macht“ zurückgewinnen und, nachdem es sie zurückgewonnen hat, „ins Spiel kommen“, doch nicht mehr als Teil des Westens, sondern nur als Polen, das allein mit Russland sprechen und so seine eigene Sicherheit gewährleisten soll.

Es liegt auf der Hand: Die russischen Nachrichtendienste haben nicht einmal davon zu träumen gewagt, dass die Polen anfangen würden, auf diese Weise zu denken. Das ist übrigens das Geniale an den „Geopolitikern“, weil sie, indem sie von einer völlig falschen Grundprämisse ausgehen, ihren Empfängern ein ziemlich logisches (obgleich auf einem fehlerhaften Axiom beruhendes) Argument aufzwingen können.

Eine charakteristische Vorgehensweise der geopolitischen Gemeinschaft ist die Organisation unzähliger Treffen, bei denen die Diskussion über die Geopolitik als Diskussion über die internationale Politik dargelegt wird, obwohl in Wirklichkeit nur ausgewählte Aspekte dieser Politik diskutiert werden. Ein Musterthema ist der Krieg mit Russland, über den die Geopolitiker so reden, als ob er in Prinzip sofort ausbrechen würde. Der Verlauf des Krieges selbst wird so analysiert, als wäre es eine ausgemachte Sache, dass der Westen Polen und den baltischen Staaten nicht zu Hilfe kommen würde (das passt perfekt zur polnischen Seele mit ihrem immer noch nicht überwundenen Trauma der ausgebliebenen Hilfe Frankreichs und Großbritanniens im September 1939). Die Kriegsszenarien werden so dargestellt, als ob der Krieg überraschend ausbrechen könnte und die USA ihn nur mit den Kräften bekämpfen würden, über die sie bereits in Mittel- und Osteuropa verfügen. Ob sich ein solcher Krieg für Russland lohnen würde, ob Russland ihn sich überhaupt leisten könnte, ob es die Besetzung der baltischen Staaten und Polens verkraften könnte, ob es die Sanktionen wirtschaftlich überleben könnte, warum der Westen als die stärkere Seite die russische Aggression hinnehmen und seine Glaubwürdigkeit, zum Beispiel im Nahen Osten, aufs Spiel setzen sollte, ist unerheblich. Die Diskussion läuft darauf hinaus, welche gepanzerten Einheiten mit anderen Einheiten zusammenstoßen.

Wirtschaftliche und politische Beziehungen sowie die Problematik der Glaubwürdigkeit der USA (z. B. die Frage, ob Japan und Saudi-Arabien nicht doch Atomwaffen bauen möchten, wenn die USA plötzlich Mittel- und Osteuropa an Russland „abtreten“ würden) werden ignoriert. Übersehen wird zudem die Frage nach der strukturellen Schwäche Russlands und der vielfachen Überlegenheit der USA (sowohl in Bezug auf das BIP, den Verteidigungshaushalt als auch die Technologie). All dies wirft natürlich die Frage auf, ob die Geopolitik nicht ein Instrument der russischen hybriden Kriegsführung ist, das gegen Polen eingesetzt wird.

Der ehemalige Leiter des Militärischen Abschirmdienstes, General Piotr Pytel, äußerte sich kürzlich in einem Interview für die Tageszeitung „Gazeta Wyborcza“ zur Geopolitik: „Ich selbst habe hobbymäßig mit ein paar Leuten zu tun, die meiner Meinung nach von den Russen angeworben sind. Bei uns gibt es ein trendiges Milieu, das sich mit Geopolitik beschäftigt und dazu anregt, nicht in Begriffen von Ideen und Werten zu denken, die in der internationalen Politik eine wichtige Rolle spielen, stattdessen in Begriffen der Geometrie von Macht und Raum.“

Das geopolitische Narrativ ist zwar formal pro-westlich, hat sich aber in Wirklichkeit seit einiger Zeit deutlich verändert. Aus der Annahme, der Westen würde Polen verraten, ergibt sich die Schlussfolgerung, für Polen wäre es besser, als erstes aufzuhören, auf den Westen zu vertrauen. Dass Polen allein keinen Krieg mit Russland gewinnen wird, ist natürlich irrelevant. Es erscheinen äußerst unverantwortliche Aussagen, Polen sollte seine Verbündeten in den baltischen Staaten im Stich lassen und mit Moskau verhandeln. Wenn es ein Land gibt, das die Einheit des Westens (einschließlich Polens und der baltischen Staaten) aufbrechen will, dann ist es Russland. Russland will, dass wir mit ihm verhandeln, nicht als Teil des Westens, sondern als Polen. Als Polen können wir allenfalls die Bedingungen der Kapitulation aushandeln. Die polnischen geopolitischen Schamanen verstehen das entweder nicht, oder sie tun so, als ob sie es nicht verstehen.

Die Geopolitik als Trend ist das uneheliche Kind des Zynismus der Rechten, welche die Dämonen des polnischen Messianismus und die Abneigung gegen den Westen geweckt hat, und der Liberalen, die mit ihrer Mittelmäßigkeit und ihrem mangelnden Wunsch nach einer ernsthaften Diskussion eine Marktnische geschaffen haben. Ich persönlich empfinde eine Art Schadenfreude. Ich erinnere mich an die Zeiten, in denen ich, als ich die Mängel der polnischen Außenpolitik sah (aber gleichzeitig eindeutig pro-westlich blieb), beim Versuch, darüber zu sprechen, auf Widerwillen stieß, zuerst bei den Liberalen und dann bei der Rechten. Die Geopolitik mit ihren Kreml-Schlussfolgerungen ist eine Strafe für die Sünden der polnischen liberalen und rechten Eliten die zugleich ermahnt, dass Eliten zu jeder Zeit und an jedem Ort eine einzige Pflicht haben, nämlich sich wie die Elite eines Landes zu verhalten.

Schlagwörter:
Witold Jurasz

Witold Jurasz

Journalist bei der Onlineplattform Onet.pl und der Tageszeitung Dziennik Gazeta Prawna, Vorsitzender des Zentrums für Strategische Analysen, ehemaliger Mitarbeiter der Investitionsabteilung der NATO, Diplomat in Moskau und Chargé d’affaires der Republik Polen in Belarus.

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert

Symbol News-Alert

Bleiben Sie informiert!

Mit dem kostenlosen Bestellen unseres Newsletters willigen Sie in unsere Datenschutzerklärung ein. Sie können sich jederzeit austragen.