Von drei lädierten Kandidaten wird gewinnen, wer die eigenen Beschädigungen am besten übersteht
Ob die Weinbergschnecke mit diesem Ritterschlag gerechnet hat? Fast genau fünf Wochen vor den Wahlen zum nächsten Bundestag und also reichlich spät starteten die Regierungsparteien CDU und CSU in die, wie sie es nennen, „heiße Phase des Wahlkampfs“. Zu diesem Zweck versammelten sich an einem Samstag in Berlin die drei wichtigsten Protagonisten und taten, was sie seit Jahren nicht mehr getan hatten: Sie standen zusammen auf einer Bühne und hielten Reden. Erst sprach Angela Merkel, die langjährige Vorsitzende der CDU, dann der CSU-Chef und bayerische Ministerpräsident Markus Söder und schließlich Armin Laschet. Der nordrhein-westfälische Regierungschef hat Angela Merkel bereits an der Spitze der CDU beerbt und möchte ihr auch im Kanzleramt nachfolgen. Seine Chancen schwinden, die Schnecke jedoch könnte ihn ins Ziel befördern – angeschlagen zwar, doch wird dieser Wahlkampf so oder so mit dem Sieg dessen enden, der die meisten Wirkungstreffer wegzustecken vermag. Gewinnen wird, wer seine eigenen Beschädigungen am besten übersteht. Ein starker Held ist nirgends in Sicht.
Als kranker Mann Europas galt Deutschland zu Beginn des 21. Jahrhunderts. Die Wettbewerbsfähigkeit sank, der Sozialstaat wucherte und hemmte das wirtschaftliche Wachstum. Davon kann heute – zumindest in diesem Ausmaß – keine Rede sein. Den konjunkturellen Abschwung in der Corona-Krise scheint die Bundesrepublik einigermaßen glimpflich zu überstehen. Anders verhält es sich mit dem Kompetenzabschwung seines politischen Spitzenpersonals. Um im Sprachbild zu bleiben: Mit Armin Laschet, Annalena Baerbock und Olaf Scholz bewerben sich drei lädierte Leute um das wichtigste Amt, das in Europa zu vergeben ist. Fällt Deutschland als ökonomischer Motor aus, als Taktgeber der Europäischen Union, als Standort exzellenter Forschung, als diplomatischer Mittler zwischen dem Westen und dem Osten, dem Norden und dem Süden und nicht zuletzt als Transmissionsriemen einer gelingenden Globalisierung, könnte der Kontinent seine Balance verlieren. Die Schnecke wird es nicht richten.
Das weiß Armin Laschet, und er sprach zu Beginn der „heißen Phase des Wahlkampfs“ auch nicht in rühmender, sondern in kritischer Weise von der Schnecke. Der Kandidat will in den ersten 100 Tagen seiner Kanzlerschaft ein „Planungsbeschleunigungspaket“ für Deutschland schnüren. Auch von einer dringend nötigen Entfesselung sprach Laschet und davon, dass in Deutschland alles zu langsam gehe. Zur Illustration verwandte er dieses Beispiel: Um den im Norden mit Windenergie gewonnenen Strom durch die ganze Republik in den Süden zu transportieren, brauche es „12000 Kilometer Stromtrassen. Der Zubau betrug 2019 dreißig Kilometer ungefähr. Das ist ungefähr das Tempo, das eine Weinbergschnecke in einem Jahr hinter sich bringt. Millimeter für Millimeter geht die Weinbergschnecke und schafft dann dreißig Kilometer. So war das Tempo 2019.“
Natürlich will Laschet ein Kanzler werden, mit dem Deutschland von der Schnecke auf das Rennpferd umsattelt. Er hat für die 2020er Jahre ein „Modernisierungsjahrzehnt“ ausgerufen. Wer jedoch Laschets Diagnose vom gefesselten Riesen Deutschland zustimmt, landet unweigerlich bei der Schneckengeschwindigkeit und der Frage, wer diese zu verantworten habe. Mit Laschet bewirbt sich kein Oppositionspolitiker, dessen Vorschläge immer und wieder an den Beharrungskräften der Regierung abgeprallt sind. Laschet steht der Partei einer Kanzlerin vor, die über den grünen Klee zu loben er im Wahlkampf selten vergisst. Markus Söder verstieg sich zu dem geradezu kontrafaktischen Lob, sämtliche sechzehn Merkel-Jahre seien „außerordentlich gute Jahre“ gewesen, Merkel habe als Kanzlerin Deutschland „gut beschützt“. Laschet sieht es nicht anders.
Warum braucht es dann einen großen Aufbruch, wie Laschet ihn organisieren will? Der Kandidat sitzt in der Falle und spürt die Qualen des Dilemmas. Distanziert er sich von Merkel, wirkt es unglaubwürdig, weil er bisher ein treuer Merkelianer war. Anders als Friedrich Merz, der bei der Wahl zum Vorsitzenden eine Mehrheit unter den Mitgliedern, aber nicht in den Gremien erringen konnte, trägt Laschet bis heute die Entscheidung Merkels mit, im Flüchtlingssommer des Jahres 2015 Abertausende Migranten ins Land gelassen zu haben, großteils ungeprüft und mit nicht immer sozial verträglichen Folgen. Anders als Merz und im Einklang mit Merkel will Laschet „mehr Europa“, ohne einen grundlegenden Reformbedarf der EU anzuerkennen.
Unglaubwürdig wirkt aber auch die Strategie, zu der Laschet sich entschieden hat. Er verbiegt sich nicht, bleibt authentisch – was menschlich für ihn spricht. Die Frage kann er aber nicht beantworten, wie in Fortsetzung der Merkelschen Politik deren Schwächen behoben werden sollen. Laschet will die Quadratur des Kreises: Disruption in Kontinuität. Daran sind schon Größere gescheitert. Dafür bräuchte es magische Kräfte. Und dazu wäre eine Souveränität nötig, die Laschet als Person in der öffentlichen Wahrnehmung nicht aufbringt. Er erscheint als hemdsärmeliger, leutseliger Plauderer vor dem Herrn, ein Zauderer eher als ein Macher, dem Zeitgeist gehorsam, ohne wirklich zeitgeistig zu sein. Dieses Bild mag Laschet nicht ganz gerecht werden. Das ist aber in Wahlkampfzeiten egal. Wahlkämpfer sind für das Bild verantwortlich, das die Wähler sich von ihnen machen, denn nur dieses Bild steht zur Abstimmung. Fast niemand, der wählt, kennt den, den er wählt, persönlich.
Der Spagat zwischen Treue zu und Auflehnung gegen die sechzehn Merkel-Jahre droht die Union zu zerreißen und auf die Oppositionsbänke durchzureichen. Die SPD hingegen profitiert von einer Tendenz, unter der sie lange litt. Die von Angela Merkel teils sozialdemokratisierte, teils grün lackierte CDU schrieb sich die Errungenschaften der Regierungen auch dann zu, wenn sie auf die Agenda der SPD-Minister zurückzuführen waren. Nun wird Bundesfinanzminister Olaf Scholz im Umkehrschluss nicht für die Niederlagen seiner Parteigenossen am Kabinettstisch haftbar gemacht. Weder das eklatante Versagen des SPD-Außenministers noch die Unsichtbarkeit der SPD-Umweltministerin oder der Rücktritt der als Plagiatorin überführten SPD-Familienministerin verhinderten die Aufholjagd der Sozialdemokratie in den Umfragen.
Scholz führt in jenem präsidialen Stil den Wahlkampf, in dem Angela Merkel die letzten Jahre ihrer Kanzlerschaft abgewickelt hat. Seine Mitverantwortung für den „Wirecard“-Skandal und seine keineswegs nur ruhmreiche Zeit als Hamburgs Erster Bürgermeister prallen an der Biederkeit seiner Erscheinung ab. Scholz verspricht Kontinuität im Habitus bei programmatischer Disruption, die er freilich in kleine gemütliche Dosen verpackt. Nach Lage der Dinge könnte diese Strategie aufgehen. Die Deutschen lieben den Wandel besonders dann, wenn er keine Veränderungen bringt.
Sollte die SPD ihren faktisch stramm nach links gerichteten Kurs im Kanzleramt erproben können, bräuchte sie zwei Koalitionspartner. Die Grünen stünden bereit. Sie nennen Annalena Baerbock zwar noch tapfer ihre Kanzlerkandidatin, doch sie ist die lädierteste der drei Bewerber. Spätestens seit der unterlegene Konkurrent im Kampf um die Kandidatur, Robert Habeck, öffentlich die „Frauenkarte“ als ausschlaggebendes Argument für Baerbock benannte, implodierte die zuvor schon arg zersauste Kompetenzvermutung. Nach einem teilweise aus fremden Texten zusammen geklauten Buch und mehreren Aussetzern in Debatten und Talk-Shows taugt die Vorstellung, hier spreche die künftige Regierungschefin von Europas größter Wirtschaftsmacht, für Heiterkeit. Aber heißt es nicht, die Weltgeschichte habe Humor?
Wer von außen auf die Republik in der Mitte schaut, kann sich nur wundern. Die niedrigen Zustimmungswerte für CDU, CSU, SPD und die Selbstentzauberung der Grünen sind Ausdruck einer historisch einmaligen Kandidatenmalaise. Aber in der fortwährenden Schrumpfung des Vertrauens, das den etablierten Kräften entgegen gebracht wird, zeigt sich auch das: Ein Land, das nicht weiß, was es will und wohin es will, bekommt eine Politik, die es auch nicht weiß.