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Paris-Berlin-Warschau: Über das Nicht-Sein

Als ich anfing, über das Weimarer Dreieck zu schreiben, war ich etwas verwirrt. So viel ich auch über Außenpolitik zu wissen glaube, in diesem Fall muss ich einen Text an der Grenze zwischen Medizin und den letzten Dingen schreiben.

Denn formal existiert das Weimarer Dreieck noch, und die Außenminister Polens, Deutschlands und Frankreichs treffen sich weiterhin in diesem Format, doch faktisch ist das Weimarer Dreieck bereits tot. Unter den gegenwärtigen politischen Umständen darüber zu diskutieren, ist in etwa so, als würde man versuchen, einen kaum noch lebenden Patienten wiederzubeleben, oder darüber nachzudenken, wie man eine Leiche lebendig schminkt. Der Punkt ist der: Die heutigen Umstände sind morgen nur noch Geschichte.

30 Jahre Weimarer Dreieck
Warschau, Paris, Berlin: Was ist vom Weimarer Dreieck noch übrig?

Das Weimarer Dreieck ist aus zwei Gründen entstanden und hatte zwei Hauptziele für seine Existenz. Der erste Grund für seine Entstehung waren die ausgezeichneten Kontakte der damaligen Außenminister Polens, Krzysztof Skubiszewski, Deutschlands, Hans-Dietrich Genscher, und Frankreichs, Roland Dumas, die alle – das muss an dieser Stelle betont werden – ein höchstes Maß an intellektuellem Niveau repräsentierten.

Der zweite Grund war ein damals vorherrschendes Interesse für Mittel- und Osteuropa, welches die westlichen Länder nach fast 50 Jahren Kommunismus wiederentdeckten.

Die Ziele wiederum waren sehr einfach. Zunächst wurde eine Plattform für den Dialog geschaffen. Zwar war 1991 bei der Gründung des Weimarer Dreiecks von einer Integration Polens in die westlichen Strukturen noch keine Rede, aber den intellektuellen Eliten in allen drei Staaten war eines klar: Es müsse eine neue europäische Architektur konzipiert werden. Zweitens ging es besonders in der Bundesrepublik darum, das damals wirtschaftlich und politisch sehr schwache Polen aufzuwerten. Im Hintergrund stand die Frage der deutsch-polnischen Aussöhnung, die 1991 gerade erst begonnen hatte. Das Beispiel der deutsch-französischen Aussöhnung schien ein Modell zu sein, wie man die Traumata der Geschichte überwinden könne.

30 Jahre später ist das Interesse zunehmenden Spannungen und bisweilen völliger Desillusionierung gewichen. Die intellektuellen Eliten, auch wenn sie weiterhin gute Beziehungen unterhalten, prägen die politische Realität in allen drei Ländern in weitaus bescheidenerem Maße als früher. Leider finden selbst die feinsinnigsten Intellektuellen heute weitaus weniger Gehör als die Halbanalphabeten auf Twitter.

Unterdessen ist es ganz natürlich, dass alle Arten von Formaten, die eher zur Schaffung einer Gesprächsatmosphäre als konkreten Dingen dienen und deren Bedeutung nicht eindeutig zu definieren ist, heute eine viel bescheidenere Rolle spielen als noch vor 30 Jahren im Zeitalter der analogen Diplomatie. In gewissem Sinne (zugleich nur scheinbar) sind alle Dialogformate Schnee von gestern, denn nicht nur Diplomaten, sondern viele Regierungschefs und sogar Staaten treffen sich permanent in Brüssel und nehmen über Mobiltelefone und die darin installierten Messenger-Dienste Kontakt zueinander auf.

Einerseits hat die deutsch-polnische Aussöhnung bereits weitgehend stattgefunden, andererseits ist sie durchaus auf Hindernisse gestoßen, deren Überwindung mehr konkrete Maßnahmen als Gesten erfordert. Es ist also nicht wirklich klar, warum das Weimarer Dreieck wiederbelebt werden sollte.

Vor allem gibt es keine gute Atmosphäre für das Dreiländereck. Solange Polen von der zunehmend obsessiv antiwestlichen (neuerdings nicht nur antieuropäischen und antideutschen, sondern auch antiamerikanischen) Rechten regiert wird, erinnert das Weimarer Dreieck an eine Art Zombie – nicht ganz tot, allerdings auch nicht ganz lebendig. Die Herrschaft der Rechten wird freilich nicht ewig bestehen. Anders als von vielen angenommen, besteht das Problem jedoch darin, dass mit dem Ende der rechtspopulistischen Herrschaft in Polen die Interessenunterschiede zwischen Warschau und Berlin sowie Paris nicht verschwinden werden.

Die Liste der Probleme, die Polen und Deutschland voneinander unterscheiden, ist bedauerlicherweise umfangreich. In einem der früheren Texte, die hier veröffentlicht wurden, habe ich über die in Polen regierende Rechte geschrieben, dass sie mit antideutschen Ressentiments spiele und offen feindselig gegenüber Berlin eingestellt sei. Dabei liegt das Problem in den deutsch-polnischen Beziehungen leider ebenfalls darin, dass Deutschland konsequent – und unabhängig davon, wer in Warschau an der Macht ist – polnische Interessen ignoriert (Beispiele dafür sind Nord Stream, der langjährige Widerstand der Bundesrepublik gegen die Stärkung der NATO-Ostflanke, die Durchsetzung einer für Polen äußerst ungünstigen Klimapolitik, die Einführung rechtlicher und steuerlicher Maßnahmen, die polnische Speditionsunternehmen treffen, die unausgewogene Behandlung nationaler Minderheiten usw.).

Die Liste der Themen, die Warschau und Paris trennen, ist noch länger und betrifft sogar grundsätzlichere Fragen. Frankreich bemüht sich ostentativ um eine Annäherung an Russland und scheint nicht zu bemerken, dass Moskau erst vor wenigen Jahren den ersten Krieg in Europa seit einem Vierteljahrhundert ausgelöst hat. Die Rede von Präsident Macron auf der diesjährigen Münchner Sicherheitskonferenz war sehr symptomatisch und bezeichnend, als er in Bezug auf Russland mit keinem Wort auf die Gefahren einging, stattdessen nach Lösungen zur Einigung mit Moskau aufrief. Der französische Präsident ging auch nicht auf die Forderungen von Präsident Joe Biden nach einer Koalition zur Blockade Chinas ein.

Für Polen, für das Russland eine Bedrohung und die Vereinigten Staaten der wichtigste Sicherheitspartner sind, bedeutet dies nur, die Unterschiede sind absolut grundlegend. Paris hat durchaus ein Recht darauf anzunehmen, seine Interessen in Afrika würden weitgehend ignoriert werden, in diesem Fall übrigens sowohl von Warschau als auch von Berlin. Aber Frankreich wird dabei von keinem afrikanischen Land bedroht.

Paris ist, so scheint es, ein freies Atom, das sich weder Berlin noch Washington, geschweige denn Warschau nähern kann. Im Übrigen ist es eine Überlegung wert, ob Frankreich, wie fast ganz Europa mit Berlin an der Spitze (aber bereits ohne Warschau), nach Donald Trumps Niederlage aufatmet. Meiner Meinung nach hat Frankreich in vielerlei Hinsicht Trump gegenüber Biden bevorzugt. Die Ambitionen von Paris wurden nämlich nicht durch Trumps geschäftsmäßigen Pseudoimperialismus bedroht, vielmehr durch Bidens traditionellen amerikanischen Großmachtimperialismus, der geostrategische Folgen hat.

Die Schwächung der transatlantischen Beziehungen unter Trump war in Wirklichkeit die Umsetzung des französischen Traums, Europa von den USA zu befreien, und damit eine Gelegenheit, eine Art Konzert der Mächte in Europa zu schaffen, welches Frankreichs Ansehen automatisch erhöhen würde und gleichzeitig die Präsenz Moskaus auf dem Schachbrett erforderte. Selbstverständlich steht Biden den französischen Eliten ideologisch näher als Trump, doch die französischen Eliten denken meiner Ansicht nach in den Kategorien des Interessenspiels der Supermächte und waren nur nach außen hin glücklich über Bidens Sieg.

Frankreichs offene Sympathien für Russland (im Gegensatz zu Deutschlands Spiel mit Russland) in Verbindung mit seiner Abneigung gegen die USA (im Gegensatz zur engen Zusammenarbeit zwischen Berlin und Washington) sollten Polen und Deutschland theoretisch einander näherbringen. Das Problem ist, dass Polen von einer Mannschaft regiert wird, die glaubt, Polen könne den Platz Deutschlands auf der amerikanischen Interessenkarte einnehmen; außerdem interpretiert die polnische Regierung die Entscheidung der Biden-Administration bezüglich Nord Stream 2 nicht als Interessenspiel, sondern als eine endgültige Festlegung („Verrat des Westens“). Schlimmer noch: Die Sehnsucht nach Trump veranlasst Warschau, Joe Biden fast direkt als Feind zu behandeln. Der Präsident der USA ist für die rechte Partei, die in Polen regiert, zum Feind geworden, weil er auf Berlin setzt, aber auch, weil er (und darin unterscheidet er sich eigentlich in nichts von Trump) ein Verfechter von Rechten der LGBT-Gemeinschaft und – wie die polnische Rechtspartei glaubt – ein „Neomarxist“ geworden ist.

In der Annahme, Polen werde eines Tages von einer anderen, vernünftigeren Mannschaft regiert, könnte Berlin die Rolle spielen, von der der jetzige Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier im Jahr 2015, damals noch als Chef der deutschen Diplomatie, sprach. In Anspielung auf Bismarcks Erbe nannte er Deutschland den „ehrlichen Makler“. Deutschland, das einerseits Streitigkeiten mit Polen und andererseits schon mehrfach die Initiativen von Präsident Macron abgelehnt hat, befindet sich in gewissem Sinne im Idealfall zwischen zwei extrem weit voneinander entfernten Erzählungen. Denn Warschau und Paris unterscheiden sich wie nur wenige andere in der Europäischen Union nicht allein in ihrer Haltung gegenüber den USA, Russland und der Sicherheitspolitik, sondern in ihrer Vision von der Zukunft der EU.

Die Reaktivierung des Weimarer Dreiecks scheint angesichts so großer Interessenunterschiede ein sehr riskantes Unterfangen zu sein. Darüber hinaus kann es sehr sinnvoll sein und eine Chance für Deutschland darstellen. Vorausgesetzt natürlich, dass Berlin es sich leisten kann, zu führen, und das bedeutet auch, Zugeständnisse zu machen. Schließlich ist ein ehrlicher Makler einer, der Interessen ausgleicht, und zugleich, als der Stärkste, manchmal etwas von seinen eigenen aufgibt. Wer, wem und worin den Vortritt lassen sollte, ist ein Thema für einen umfangreichen, separaten Text, aber es lohnt sich, daran zu erinnern, dass es für jeden Staat eine gewisse Abstufung von Interessen gibt, von denen die Sicherheitsinteressen immer die wichtigsten sind. Mit anderen Worten: Wenn überhaupt an einen Kompromiss zu denken sei, so sollte man Polen in dem Punkt nachgeben, der sich auf Russland bezieht.

Die Reaktivierung des Weimarer Dreiecks ist nur dann von Bedeutung, wenn in allen drei Hauptstädten der politische Wille vorhanden ist, dieses Format zu einem Ort für ernsthafte Kompromissgespräche zu machen, und nicht für einen „Dialog um des Dialogs willen“. Das Weimarer Dreieck sollte, wenn es um grundsätzliche Fragen geht, ein Format der analogen Diplomatie sein, also ein intensiver Elitendialog, der nicht via Smartphone geführt wird. Im Rahmen dieses Dialogs muss eine Antwort auf die Frage gefunden werden, wie ein gerechter Interessenausgleich erreicht werden kann und wie gleichzeitig die Anziehungskraft des europäischen Traums wiederhergestellt werden kann. Das derzeitige Modell des „Interessenausgleichs“ führt angesichts des Drucks der antieuropäischen Kräfte in Polen und Frankreich, aber auch – obwohl in viel geringerem Maße – in Deutschland, nur dazu, dass dieser Traum zerplatzt.

Das europäische Projekt leidet und verwelkt immer dann, wenn die Menschen die Kluft zwischen schönen Worten über die Zusammenarbeit auf der einen Seite und wachsenden nationalen Egoismen auf der anderen Seite sehen. Das Weimarer Format, das von Natur aus mit schönen Worten gespickt ist, wird nichts nützen, wenn es nur wiedereingeführt wird, damit die Staats- und Regierungschefs und die Diplomaten von Zeit zu Zeit rituelle Treffen abhalten, die nichts beitragen und nichts verändern. Wenn die Regierenden Polens, Deutschlands und Frankreichs in den kommenden Jahren lediglich versuchen, eine effektivere Version der heutigen Politiker zu sein, ohne sich auf ihre großen Vorgänger zu beziehen, ist es besser, die Leiche nicht lebendig zu schminken.

Wenn man sich jedoch vorstellt, dass die Politiker in unseren Ländern eines Tages wieder das Niveau erreichen, die ihnen ihre Vorgänger von vor 30 Jahren vorgegeben haben, dann lohnt es sich vielleicht, auf die Idee des Weimarer Dreiecks zurückzukommen. Das Weimarer Format ist nur dann sinnvoll, wenn die Teilnehmer selbst Politiker eines entsprechenden Formats sind. Und das ist vielleicht die größte Herausforderung, nicht so sehr die Interessenunterschiede.

Witold Jurasz

Witold Jurasz

Journalist bei der Onlineplattform Onet.pl und der Tageszeitung Dziennik Gazeta Prawna, Vorsitzender des Zentrums für Strategische Analysen, ehemaliger Mitarbeiter der Investitionsabteilung der NATO, Diplomat in Moskau und Chargé d’affaires der Republik Polen in Belarus.

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