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Polen ist keine Insel. Noch nicht

Manchen Menschen fällt es leicht, mit andern in Kontakt zu kommen und Freundschaften zu schließen, sie zu hegen und zu pflegen. Manche Länder haben Chefs, die es in den Rang einer Kunst erhoben haben, diplomatische Lösungen für schwierige Lagen zu finden, selbst für ganz besonders schwierige und für völlig hoffnungslose. Und dann ist da Polen, das sich in den vergangenen Monaten offenbar darum beworben hat, im Ranking der isoliertesten Länder Europas ganz oben zu stehen. Vielleicht sogar im Ranking sämtlicher entwickelter Länder.

Es ist hier nicht die Frage, was zuerst da war, Ei oder Huhn. Es handelt sich nicht um eine harte Nuss, und doch ist es faszinierend und irgendwie irreal, dem nachzuforschen, wie das alles angefangen hat. Was war zuerst: Der Streit mit der Europäischen Union um die Unabhängigkeit der Gerichte, der Streit mit Israel und den USA um das Reprivatisierungsgesetz, der Streit mit Tschechien um das Kohlekraftwerk von Turów… Letzterer ist Polen wie eine Granate in der Hand explodiert, obwohl er sich doch schon jahrelang hingezogen hatte. Ganz wie Polen seit einigen Jahren, genauer gesagt die polnische Regierung unter „Recht und Gerechtigkeit“ (PiS), nicht besonders behutsam mit der Freiheit der Medien umgeht, was in den letzten Wochen zu Marek Suskis eigentümlicher Initiative unter dem Namen „Lex TVN“ geführt hat, die, stark vereinfacht gesprochen, auf den Versuch hinausläuft, den mächtigen, unabhängigen privaten Fernsehsender zu enteignen und ihn aus den Händen eines amerikanischen Konzerns „wiederzugewinnen“.

Ministerpräsident Morawiecki wendet sich an Präsident Andrzej Duda mit einem Appell zur Einführung des Ausnahmezustandes an der polnisch-belarusischen Grenze. 31.08.2021 © Wikipedia

Mit kühlem Blick betrachtet, ist der Vorgang ganz unglaublich, wenn wir in Rechnung stellen, dass in Polen Gesellschaft und Staat in der ganzen Europäischen Union am ausgeprägtesten proamerikanisch sind und die Vereinigten Staaten trotz ihrer Entfernung für Polen ein Garant von Stabilität und Frieden in der Region sind. Das, so ließe sich sagen, ist ein polnisches Laster: Sich seine Freunde in der Ferne zu suchen statt so nah wie möglich. Jetzt ist jedoch eine Zeit gekommen, in der wir nichtmals mit jenen Freundschaft halten können, von denen uns eine anscheinend sichere Distanz von tausenden Seemeilen trennt.

Der Herbst 2021 wartet Polen mit Konflikten an vielen Fronten auf: Deutschland nehmen wir die Nord Stream 2-Gaspipeline übel; den Vereinigten Staaten den Wahlsieg von Joe Biden; Tschechien Turów; Spanien die Richterin, die am Europäischen Gerichtshof (EuGH) eine gigantische Strafzahlung gegen Polen verhängt hat (obwohl diese immer noch um ein Vielfaches geringer war, als was die Tschechien forderten); der Europäischen Kommission, dass sie sich in unsere Angelegenheiten einmischt, was sie eigentlich nicht sollte, schließlich hatte Präsident Andrzej Duda schon vor etlichen Jahren auf einer Versammlung getönt, man werde es nicht hinnehmen, „sich in fremder Sprache sagen zu lassen, welche politische Ordnung wir in Polen haben und wie wir unsere Angelegenheiten erledigen sollen“. Wie eine Parodie darauf klangen die Worte des afghanischen Mullahs, der unlängst zur Wiedereinführung drakonischer Strafen bemerkte: Niemand wird uns Vorschriften machen, wie unser Recht auszusehen hat.

Eine ähnliche Logik, ein ähnlicher, sich selbst konterkarierender Ansatz, wenn auch natürlich ein anderer Kontext.

Es grenzt schon an ein Paradox, wenn die polnische Regierung selbst dann mit der EU in Konflikt gerät, wenn sie in deren Interesse und Namen zu handeln vorgibt. Da die polnische Ostgrenze zugleich die Ostgrenze der Europäischen Union ist, obliegt Polen deren Schutz. Die Regierung Mateusz Morawieckis wie auch die Regierungen der baltischen Staaten werfen dabei zweifelsfrei zurecht dem Lukaschenka-Regime vor, einen hybriden Krieg zu führen, Migranten zusammenzutreiben und an die EU-Außengrenze zu verfrachten.

Der Europäische Union wird allmählich klar, dass Polen mit der vorläufig durch den belarusischen Satrapen ausgelösten Flüchtlingskrise auf sehr besondere Weise umgeht. Die Strategie, die Migranten nach Belarus zurückzuschicken, ist nämlich nur teilweise begründet im Schutz der Grenze vor den von Minsk (und vermutlich auch von Moskau) getroffenen Maßnahmen. Es ist anzunehmen, dass sich Polen genauso verhalten würde, wenn sich wirkliche Flüchtlinge an der Grenze befänden. Vielleicht oder doch eher ganz sicher mit Zustimmung Brüssels, das Griechenland mit seiner Landgrenze mit der Türkei wiederholt zu verstehen gegeben hat, nicht alles in seiner Macht Stehende zu tun, um den Flüchtlingszustrom zu begrenzen. Denn es sind zwei verschiedene Dinge, keine Boote an Land zu lassen, zumal die auf dem Meer treibenden Wracks, und einfach zuzusehen, wie durch Evros hunderte oder tausende von Migranten ziehen.

Die Europäische Union hat nichts dagegen, Iraker, Kongolesen oder Afghanen nach Belarus abzuweisen, doch möchte sie an ihren Grenzen keine Todesfälle sehen. Heuchelei? Gewiss. Das salomonische Urteil des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte, demnach Polen und andere Länder das Recht haben, ihre Grenzen zu schützen, aber die an der Grenze lagernden Migranten mit dem Lebensnotwendigen versorgen müssen, ist wohl das beste Beispiel dafür. Als die ersten Todesfälle eintraten – ob auf polnischer oder belarusischer Seite, ist strittig – ordnete der Europäische Gerichtshof jedoch an, Polen müsse Anwälten Zutritt zu den Migranten gewähren. Damit diese ordnungsgemäß um internationalen Schutz bitten könnten, obwohl sie das bereits Wochen zuvor getan hatten. Europa wird jedoch weiter so tun, als ob es nichts davon wisse. Als ob es zum ersten Mal davon höre. Unterdessen versinken Menschen in den Sümpfen von Podlachien. Erfrieren. Sterben.

Und sie werden weiter versinken, erfrieren, sterben, ob das der EU nun gefällt oder nicht. Denn Polen beabsichtigt nicht, die Anordnungen des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte umzusetzen. Genauso wenig beabsichtigt es, die Lage in Usnarz zu verbessern und überall dort, wo Menschen versuchen, die Grenze zu überqueren. Darüber hinaus haben die für die Sicherheit des Landes zuständigen Minister, der Innen‑ und der Verteidigungsminister, die Autorität des Staats auf die Waagschale geworfen und in den Hauptnachrichtensendungen, also in aller Öffentlichkeit die angeblich auf Telefonaten von einigen Dutzend Migranten fußende Behauptung verbreitet, diese stünden mit terroristischen Organisationen in Verbindung und hätten abnormale sexuelle Vorlieben.

Bemerkenswerterweise nahm der PiS-Vorsitzende Jarosław Kaczyński in seiner Eigenschaft als stellvertretender Ministerpräsident mit dem Aufgabenbereich Sicherheit nicht an der Konferenz teil. Der mächtigste polnische Politiker, der 2015 mit der Äußerung notorisch wurde, Polen vor den Flüchtlingen schützen zu müssen, die Krankheiten und Schädlinge verbreiten würden, hält sich bei offiziellen Anlässen überhaupt ziemlich zurück, um sich Spielraum zu verschaffen und seine Meinungen in Interviews mit handverlesenen Journalisten auszubreiten.

Die Abweisung der Migranten, die sich wohl schwerlich Flüchtlinge nennen lassen, weil sie durch die Umtriebe des belarusischen Präsidenten und seines Geheimdienstes an die Grenze gelangt sind, wird wahrscheinlich früher oder später zum neuen Konfliktfeld der PiS-Regierung mit Brüssel, das die Grenze gerne dagegen absichern würde, ohne dass es zu solchen wenig erbaulichen Zuspitzungen wie dem Tod eines Sechzehnjährigen kommt. Für den innenpolitischen Gebrauch sind dergleichen Zwischenfälle aber geradezu Manna vom Himmel: Laut Umfragen bewerten die meisten Polen die Maßnahmen von Regierung, Militär und Grenztruppen positiv. Was sich nur zum Teil der Art zuschreiben lässt, wie die Medien darüber berichten; diese schüren schon seit Wochen die Angst vor den anrollenden Heerscharen von Flüchtlingen.

Die Polen wollen keine „Fremden“. Oder eher: die meisten Polen wollen keine „Fremden“. In Polen waren weder 2015 noch sind heute Bilder möglich, wie sie das Fernsehen in Deutschland und Österreich zeigte, von normalen Menschen, die Butterbrote und Warmgetränke an unzählige Migranten verteilten, die sie auf den Bahnhöfen begrüßten. Nein, Polen stand damals und steht auch heute noch Ungarn näher, das Stacheldrahtzäune errichtete. Polen und Ungar sind wie zwei Vettern, nicht allein, wie es im Sprichwort heißt, bei Zank und Trank, sondern auch bei der Errichtung von Drahtverhauen zur Abwehr von Migranten.

Die Opposition hat ein Problem. Sie gewinnt nichts damit, die Regierung für die Verletzung, ja die Vergewaltigung der Menschenrechte anzugreifen. Noch Ende August schrieb Donald Tusk, der alt-neue Vorsitzende der Bürgerkoalition (KO), der Schutz der polnischen Grenze beruhe nicht auf antihumanitärer Propaganda, doch Mitte September kanzelte er KO-Politiker ab, die sich persönlich für die Migrantenhilfe engagierten (die bekannte überfallartige Aktion des Abgeordneten Franciszek Sterczewski, der versuchte, eine Kette von Uniformierten zu durchbrechen, um den Menschen im Lager Nahrungsmittel zukommen zu lassen, wird in die Geschichte eingehen, obwohl sie nach Auffassung von Tusk der Opposition geschadet hat). Das ist ein der griechischen Tragöde würdiges Dilemma: Wie soll man den eigenen Idealen in Sachen Menschenrechten und Solidarität treu bleiben und trotzdem nicht in den Meinungsumfragen abgestraft werden?

Donald Tusk und die anderen führenden Oppositionpolitiker werden also im Gleichklang mit der Europäischen Union so tun, als würden sie das Drama nicht bemerken, dass sich in einem Gebiet abspielt, über das der Ausnahmezustand verhängt worden ist. Der PiS-Partei autoritäre Neigungen vorwerfen und gleichzeitig den eigentlichen Sachverhalt übersehen, nämlich die polnische Isolation bei der früher oder später unausweichlichen und sehr realen Migrationskrise.

Die Menschen, die Lukaschenka an die Grenze bringen lässt, haben den größten Teil ihres Weges in eine bessere (?) Welt bequem im Flugzeug zurückgelegt. Doch Europa weiß ganz genau, dass bald, nämlich eher in wenigen Jahren als in Jahrzehnten, an seine Grenzpforten im Süden und Osten möglicherweise nicht hunderte und tausende, sondern hunderttausende, wenn nicht Millionen Menschen anklopfen werden, die vor Armut und bewaffneten Konflikten fliehen. In naher Sicht, und hier geht es wiederum um die Süd‑ und Ostflanke der EU, werden an Europas Türen in größerer Zahl, als wir zuzugeben bereit sind, Afghanen anklopfen, alleingelassen und verraten von denen, die ihnen zwanzig Jahre lang einen Staat aufgebaut haben, der dann zusammengebrochen ist wie ein Kartenhaus.

Uns geht das auch an. Polen ist keine Insel. Und das gilt, auch wenn sich manche Politiker so anhören, als würden sie diesen Sachverhalt am liebsten ändern. Die Ostsee ist ein idealer Nachbar. Jedenfalls hat sie Polen noch nicht vor Gericht gezerrt.

 

Aus dem Polnischen von Andreas R. Hofmann

Małgorzata Solecka

Małgorzata Solecka

Małgorzata Solecka, Journalistin beim Internetportal Medycyna Praktyczna (Praktische Medizin) und der Monatszeitschrift„Służba Zdrowia“ (Gesundheitsdienst), 1998 bis 2007 Journalistin und Redakteurin bei der Tageszeitung „Rzeczpospolita“, arbeitete auch für „Życie“ (Leben), die Polnische Presseagentur (PAP) und die Wochenzeitschrift „Newsweek Polska“.

Ein Gedanke zu „Polen ist keine Insel. Noch nicht“

  1. Natürlich, Belarus und Russland könnten der Migranten stoppen. Bleibt aber eine Frage: wozu Putin und Lukaschenko sollten das machen? (Mit Erdogan war lange Handeln und im Endeffekt EU bezahlt dem Erdogan das Geld um die Grenze dicht zu haben

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