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„Es ist unsere Pflicht, den Kampf zu einem siegreichen Ende zu führen“

Mit Swetlana Tichanowskaja, der Bürgerrechtlerin, die die demokratische Opposition in Belarus anführt, sprach Paulina Siegień.

Paulina Siegień: Innerhalb des letzten Jahres hat sich Ihr Leben radikal verändert. Das hat schon vorher begonnen, als Ihr Ehemann Sergej Tichanowski beschlossen hatte, für das Amt des Präsidenten von Belarus zu kandidieren. Wir wissen, wie das ausgegangen ist. Was ist für Sie die wichtigste Lehre aus dem vergangenen Jahr?

Swetlana Tichanowskaja: Seit anderthalb Jahren hört mein Leben nicht auf, sich zu verändern. Zuerst hatte Sergej beschlossen, für das Amt des Präsidenten zu kandidieren. Daraufhin wurde er festgenommen und konnte die notwendigen Unterlagen für die Registrierung seiner Initiativgruppe, die die Unterschriften für seine Kandidatur gesammelt hatte und bei der Wahlkommission vorlegen sollte, nicht einreichen. Mein Mann übergab diese Unterlagen stattdessen mir mit einer Vollmacht für genau den Fall, der eingetreten ist. Doch die belarusische Wahlkommission hat die Unterlagen von mir nicht angenommen, meine Vollmacht nicht anerkannt und behauptet, der Kandidat müsse selbst kommen und persönlich unterschreiben.

Am nächsten Tag habe ich beschlossen, die Unterlagen für mich einzureichen, das heißt, in meinem Namen. Ich wollte mich damit solidarisch mit meinem gefangenen Mann zeigen. Diese Entscheidung kam ganz unerwartet, sowohl für mich als auch für Sergej, aber ebenso für die belarusische Regierung. Von diesem Moment an haben die großen Veränderungen in meinem Leben begonnen. Es hat sich schnell herausgestellt, dass die Verantwortung, die ich gegenüber Sergej auf mich genommen hatte, nur eine Kleinigkeit war. Als ich sah, dass die Menschen in belarusischen Städten stundenlang in riesigen Schlangen anstanden, um ihre Unterschrift unter meine Kandidatur zu setzen, verstand ich, dass ich auch ihnen gegenüber Verantwortung trage.

Nachdem ich meine Kandidatur registriert hatte – was ich bis heute als einen Zufall betrachte, denn schließlich hätte ich irgendeinen beliebigen Vorwand für diese Registrierung finden können – sprach ich mit tausenden Menschen und verstand immer mehr, dass ich ihnen allen gegenüber Verantwortung trage. Und nachdem Wiktar Babaryka und Waleryj Zepkala nicht zugelassen wurden, wurde mir klar, dass ich für das ganze Land Verantwortung übernommen hatte. Unsere Wahlkampfteams haben sich zusammengetan und der Wahlsieg stand uns bevor.

Swetlana Tichanowskaja © Wikipedia/Serge Serebro, Vitebsk Popular News

Leider begann nach diesem fantastischen Sieg der Kampf mit dem Regime um die Anerkennung dieser Entscheidung der Belarusen und Belarusinnen. Dieser Kampf ist noch nicht beendet. Ich habe dabei viel gelernt, angefangen von der diplomatischen Etikette über die Grundlagen der Gesprächsführung und darüber, wie man einen politischen Kampf führt. Ich habe die Staatschefs vieler Länder kennengelernt und es hat sich gezeigt, dass es sich dabei mehrheitlich um sehr offene und wohlwollende Menschen handelt, deren Motivation die Fürsorge für die Bürger ihrer Länder ist. Natürlich sorgen sie sich auch um ihre politischen Interessen, aber bestimmt nicht auf Kosten der Interessen von Staat und Volk, die sie repräsentieren. Diese Haltung der Regierung fehlt uns in Belarus. Mir liegt daran, mir diese Haltung zu bewahren und gleichzeitig dabei zu bleiben, das Leben wie ein durchschnittlicher Mensch zu betrachten, der ich trotz allem geblieben bin und der ich bleiben will.

Seit den Präsidentschaftswahlen in Belarus ist ein Jahr vergangen. Nach der Wahl kam es zu einer Protestwelle, zum zivilgesellschaftlichen Aufbruch, aber leider kam es gleichzeitig zu einer Welle bisher nicht dagewesener Repressionen. Wie bewerten Sie das vergangene Jahr in Belarus aus politischer Sicht? Ist das, was passiert ist, eine politische Niederlage der Gesellschaft im Kampf gegen das Regime oder ist es im Gegenteil ein Erfolg und gibt Hoffnung für die Zukunft?

Bei meinem ersten Auslandsbesuch in Polen habe ich das Büro der Gewerkschaft „Solidarność“ besucht, ich habe die Köpfe der „Solidarność“ getroffen, unter anderem den Vorsitzenden Piotr Duda. Unsere polnischen Freunde haben uns von ihrem Kampf um die Freiheit erzählt und ihre Hoffnung ausgedrückt, dass dieser Kampf in Belarus wesentlich weniger Zeit in Anspruch nimmt als einst in Polen. Es ist wahr, dass wir damals im August einen wesentlich schnelleren Sieg erwartet haben. Jetzt wird uns klar, dass keine Wunder geschehen, man bekommt keine Freiheit ohne schweren Kampf.

Uns ist klar, dass unser Sieg bei den Wahlen 2020 erst der Beginn der Revolution ist, dass die Menschen ihren Willen ausgedrückt haben, aber ihre Entscheidung wurde von dem ehemaligen Präsidenten leider ignoriert. Es wäre ein Wunder gewesen, wenn nach 26 Jahren Diktatur der Diktator gesagt hätte „Ok, danke für alles“ und gegangen wäre. Obwohl das seinerseits das Vernünftigste gewesen wäre. Deshalb müssen wir außer den Wahlen auch noch den Kampf gegen den Versuch, illegal an der Macht zu bleiben, gewinnen. Der Sieg wird kommen, es wird kein leichter, aber mit Sicherheit ein verdienter Sieg. Zu leichte Siege werden einfach nicht gewürdigt.

Unser Land hat sich in dem letzten Jahr so sehr verändert, dass es mir nicht mehr möglich ist, zu dem zurückzukehren, was einmal war. Gründe, warum der ehemalige Präsident letztlich gezwungen sein wird abzutreten, gibt es viele, aber der wichtigste ist, dass er die Entwicklung des Landes bremst und die Menschen das Vertrauen in ihn verloren haben. Wir bauen schon jetzt ein Neues Belarus auf. Das Bürgerkomitee hat einen Entwurf für eine Verfassung vorbereitet, der derzeit in der Gesellschaft konsultiert wird. Wir arbeiten an Gesetzentwürfen und Reformen für das Neue Belarus.

Unter Beteiligung unseres Teams hat die Europäische Union den Umfassenden Plan zur Unterstützung der Belarusischen Wirtschaft für die Zeit nach dem politischen Wandel erarbeitet. Wir haben auch ein Team ehemaliger Mitarbeiter der uniformierten Dienste ByPOL, die wissen, wie man die gesetzliche Ordnung erneuert und sie in einer Übergangsphase erhält. Wir unterstützen die Arbeiterbewegung, die die Arbeiter verschiedener Betriebe in verschiedenen Städten von Belarus vereinigt. Unsere Auslandspolitik trägt Früchte: Es ist uns gelungen, Grundlagen für die Zusammenarbeit mit vielen Staaten auf der Welt zu schaffen.

Und vor allem kämpfen wir weiterhin für die Durchführung neuer Wahlen, weil uns klar ist, dass nichts von dem, was bisher geschehen ist, umsonst war. Es ist unsere Pflicht, unseren Kampf zu einem siegreichen Ende zu führen.

Ist es Ihrer Meinung nach möglich, dass das Lukaschenka-Regime in absehbarer Zukunft reelle Schritte in Richtung Zusammenschluss von Belarus und Russland macht?

Das ist eine sehr komplexe Situation. Lukaschenka klammert sich an die Macht und ihm ist klar, dass er eigentlich verliert, wenn Russland das Steuer übernimmt. Andererseits übt Russland Druck auf ihn aus, denn ohne russische Unterstützung hat Lukaschenka nicht ausreichend Mittel, um an der Macht zu bleiben. Ich möchte betonen, dass die Bürger von Belarus sich mit absoluter Mehrheit für die Erhaltung der Unabhängigkeit von Belarus aussprechen. Deshalb verstehe ich Lukaschenkas und Putins sogenannte Roadmaps als Spiel von Beamten, die die Interessen der Menschen ausgeblendet haben.

Ich weiß, dass die Belarusen freundschaftliche Beziehungen zu allen ihren Nachbarn haben wollen, auch zu Russland, dessen Volk sie sich nahe fühlen. Deshalb wäre es besser, wenn die russische Regierung die Entscheidung des belarusischen Volkes respektieren und aufhören würde, sie zu ignorieren. Eine Vereinigung von Belarus und Russland kann nichts anderes als Konflikte bringen, denn eine solche Vereinigung wollen unsere Bürger nicht. Wir wollen befreundet sein und zusammenarbeiten, und nicht zu einem Verwaltungsbezirk des Nachbarstaates werden.

Sie treffen sich oft mit Chefs westlicher Staaten. Welche Unterstützung erwarten Sie von ihnen?

Innerhalb des letzten Jahres ist deutlich geworden, dass die Menschen in Belarus und Staatschefs anderer Länder genau wissen, wofür sich das belarusische Volk entschieden hat. Das weiß auch Lukaschenka, denn wenn er es nicht wüsste, hätte er seine Inauguration nicht heimlich veranstaltet, sondern offen, mit dem Applaus seiner Anhänger. Doch es ist ihm nur eine Handvoll Anhänger geblieben, während tausende Menschen in Belarus gegen Lukaschenka auf die Straße gegangen sind.

Das weiß auch die russische Regierung. Deshalb ist es mir ein Rätsel, warum sie einen Usurpator unterstützt. Ich bin der Meinung, dass das ein großer Fehler ist. Schließlich ist in den meisten Ländern die Entscheidung des belarusischen Volkes bekannt und anerkannt. Bei meinen Gesprächen mit den unterschiedlichen Staatschefs besprechen wir immer die Situation in Belarus, wir sprechen über Unterstützung für die Zivilgesellschaft und für die Medien und über den Schutz der Menschenrechte. Wir diskutieren auch über unsere zukünftige Zusammenarbeit nach den Veränderungen, die unausweichlich sind. Ich spüre immer die Solidarität der Regierungen und Völker dieser Länder.

Wie können ganz normale Menschen wie ich die Freiheitsbestrebungen der Belarusen und Belarusinnen unterstützen? Was braucht die belarusische Gesellschaft derzeit am dringendsten?

Für die Belarusen ist das Gefühl sehr wichtig, dass die Menschen sich mit ihnen solidarisieren, insbesondere jetzt, wo wir es sehr schwer haben. Wir sind allen sehr dankbar, die Solidaritätsaktionen organisieren, die in ihren Ländern die Belarusen aufnehmen, die gezwungen sind, ihr Land zu verlassen. Wir sind den Menschen dankbar, die ihre Regierungen und Parlamente immer wieder auf den Freiheitskampf in Belarus aufmerksam machen und um Unterstützung für diesen Kampf bitten. Wir danken denjenigen, die Gelder sammeln und Familien politischer Häftlinge helfen. Das alles und vieles mehr machen ganz normale Menschen aus verschiedenen Ländern.

 

Aus dem Polnischen von Antje Ritter-Miller

Das Interview ist im Magazin New Eastern Europe Nr. 5/2021 auf Englisch erschienen.

New Eastern Europe 5/2021: Belarusians. One year in protest.

 

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