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Die polnisch-ungarische Achse in Europa

In lang vergangener Zeit pflegten sich die Herrscher von Polen und Ungarn in der mittelalterlichen Burg von Niedzica (in Kleinpolen, dicht an der Grenze zur Slowakei, dem damaligen Oberungarn) zu treffen. Im Januar 2016, nachdem die Partei „Recht und Gerechtigkeit“ (PiS) in Polen die Macht übernommen und eine Regierung gebildet hatte, trafen sich die Herrscher beider Länder, wenn auch nicht mehr mit Königs- oder Fürstentiteln versehen, Jarosław Kaczyński und Viktor Orbán, in der Pension „Zielona Owieczka“ (Grünes Lamm). Fast sechs Stunden lang sprachen sie hier miteinander, oder eher hielt Orbán, wie spätere Indiskretionen vernehmen ließen, Kaczyński einen Vortrag.

Polen und Ungarn in der EU
Das ungarische Parlament in Budapest (links) und der polnische Sejm in Warschau (rechts)

Dies war gleichsam der Grundstein eines neuen Bündnisses, das in den beiden Hauptstädten und in den regierungsnahen Medien gar als „Achse Budapest-Warschau“ bezeichnet wurde. Von Anfang an war klar, dass der im Regieren erfahrenere, wenn auch einem kleineren Land vorstehende und jüngere Viktor Orbán für die neue Regierung in Warschau Vorbild und Orientierung sein würde. Der über eine konstitutionelle, qualifizierte Mehrheit verfügende ungarische Ministerpräsident löste bei den Regierenden in Warschau gleichermaßen Neid und Entzücken aus. Denn er regiert genau so, wie wir gerne würden, hieß es anfangs noch ganz leise, später aber auch ganz unverhohlen in Kreisen der Warschauer Regierungskoalition.

Wie in Budapest, so in Warschau

Schließlich hatte doch Jarosław Kaczyński höchstpersönlich, unbestrittener Führer des rechten Lagers, bereits im November 2011 auf einer Massenversammlung ausgerufen: „Es wird noch der Tag kommen, an dem wir Budapest in Warschau haben werden.“ Als also im Herbst 2015 das um die PiS-Partei gescharte Lager an die Macht gelangt war, nachdem PiS zuvor bereits das Präsidentenamt übernommen hatte, stellte die Partei rasch unter Beweis, dass Regierungsstil und ‑weise von Budapest das Vorbild sei, dem es nachzueifern gelte. Dabei ging es um die Formel von der „illiberalen Demokratie“, die von Orbán selbst ins Spiel gebracht wurde, und zwar im Sommer 2014 auf dem jährlichen Treffen der Jugend der Székler, der in den rumänischen Karpaten lebenden magyarischen Gebirgsbewohner.

An die Stelle der bisherigen liberalen Demokratie und der vom Markt definierten Wirtschaft sollte eine Alternative treten. Allerdings ging die Idee keineswegs auf Orbán zurück, sondern war ursprünglich wiederum von Kaczyński aufgebracht worden. Denn es ist daran zu erinnern und hervorzuheben, dass die „nationale“ Koalition unter der Ägide von PiS vorher da war und bereits von 2005 bis 2007 regierte. Damals versuchte sie, unter der Parole einer „Vierten Republik Polen“ tiefgreifende Veränderungen an Verfassung und Rechtssystem durchzuführen. Nur erwies sich dieses Experiment als verfrüht. Denn die Führungsschichten wie insbesondere auch die junge Generation in Polen waren immer noch proeuropäisch und nicht völkisch-nationalistisch, wie sich das die damalige Regierung vorstellte. Das Experiment schlug fehl, die Liberalen unter dem charismatischen Donald Tusk übernahmen die Kontrolle.

In diesem Sinne wurde Orbán, der seit Mai 2010 die ungeteilte Macht besaß und begann, die politische und wirtschaftliche Verfassung seines Landes von Grund auf umzubauen, für die polnische Politik zum Orientierungsmaßstab schlechthin. Vom nationalen Lager wurde er geradezu vergöttert, während ihn Liberale und Linke immer heftiger ablehnten und schließlich zum Feind erklärten. Im immer stärker polarisierten Polen wurde das Verhältnis zu Ungarn zu einem weiteren Streitpunkt.

Damals begannen die Clubs der „Gazeta Polska“ (Polnische Zeitung), des Leib‑ und Magenblatts des nationalen Lagers, jedes Jahr Ausflüge („Pilgerfahrten“) mit Bussen und Bahnen zum Begängnis des ungarischen Nationalfeiertags am 15. März zu organisieren, dem Jahrestag der Revolution von 1848. Gelegentlich wurden weitere Fahrten zum Stephanstag am 20. August veranstaltet, dem zweiten ungarischen Nationalfeiertag. In keinem anderen Land wäre irgendjemand auf einen solchen Gedanken verfallen. Wie wichtig die Ausflüge dagegen in Polen genommen wurden, wird daran deutlich, dass Ministerpräsident Mateusz Morawiecki zweimal die Schirmherrschaft übernahm, bevor sie von der Covid-19-Pandemie unterbrochen wurden.

Zwei Länder, ein System: Kriterien der illiberalen Demokratie

Welchem Zweck dienen nun diese Pilgerfahrten von Polen nach Ungarn? Die Antwort findet sich vor allem in dem Katalog gemeinsamer Werte, welche die Regierungslager beider Länder propagieren und als „national“ und „christlich“ definieren. Dieser, wenn auch in sich nicht ganz konsistente Katalog, ist wirklich beeindruckend, kann einen aber auch schon einmal ins Grübeln versetzen. Denn er enthält Prinzipien, die offen die liberale Demokratie und deren als „Kopenhagener Kriterien“ bekannten Grundlagen untergraben. Wer dem Club, genannt Europäische Union, beizutreten beabsichtigte, hatte die Kopenhagener Kriterien zu akzeptieren. Doch jetzt scheint die Zeit gekommen, sie aus den Angeln zu heben.

Worum geht es also wirklich? Wir wollen einmal versuchen, die wichtigsten gemeinsamen Kriterien des illiberalen Systems zusammenzustellen, wie es in Warschau und Budapest erdacht wurde. Die illiberale Demokratie, die ihre Gegner nichts anders denn als „Autokratie“ sehen, wird offenbar durch folgende Gesichtspunkte bestimmt:

  • Überordnung der Exekutive über Legislative und Judikative; mit dem Unterschied, dass in Ungarn der allmächtige Premier das Sagen hat, während in Polen eine ausgesprochen unklare Situation besteht. Denn hier ist der Chef des Ministerpräsidenten… der Stellvertretende Ministerpräsident, da der Vorsitzende der größten Koalitionspartei die Zügel aus der hinteren Reihe der Regierungsbank in den Händen hält.
  • Beseitigung der Gewaltenteilung, der checks and balances, zugunsten der Regierungsmehrheit, und innerhalb dieser wiederum eine immer klarere Führungsrolle der Chefs der Regierungslager.
  • Zentralisierung der Regierung, Monopolisierung und Oligarchisierung des Besitzes; dies ist in Ungarn deutlich stärker ausgeprägt, wo Orbán vielfach unter Beweis gestellt hat, nicht allein die Macht zu lieben, sondern auch das Geld (die von oben geförderte Korruption bestimmt die Funktionsweise des Gesamtsystems immer stärker).
  • Öffentliche Medien haben formal den Staatsinteressen zu dienen und in Geist und Wort die gesamte Nation abzubilden, sind jedoch faktisch parteiisch, sind der Regierung zu Diensten und empfangen von dieser ihre Weisungen.
  • „Geschichtspolitik“, der gemäß sich beispielsweise Ungarn als Opfer des Vertrags von Trianon von 1920 sieht; unter den für diese nationale, traumatische Katastrophe genannten Verantwortlichen befinden sich jetzt Franzosen, Briten und neuerdings gerne auch die Freimaurer. Polen wiederum hat sich mit den großen Nachbarn überworfen, mit Russland und Deutschland, ein wenig aber auch mit der Ukraine und sogar mit Tschechien.
  • Die „nationalen Werte“ werden dem „kosmopolitischen“ Föderalismus entgegengestellt, der mit der EU identifiziert wird, und gegen die offene Gesellschaft (dazu zählt die in Ungarn lautstark geführte Kampagne „Stop Soros“), die nationalen Kräfte prallen auf die übernationalen und bewirken eine tiefe Polarisierung der Gesellschaft.
  • Vorrang eines übergeordneten Prinzips: Die einmal errungene Regierungsmacht ist nie wieder herzugeben, auch weil das Prinzip der Rechtstaatlichkeit nicht mehr gilt.
  • Die Staatsmedien machen nicht einmal einen Hehl aus den angestrebten Zielen, darunter dem Prinzip, die „anderen“ zurückzuweisen (Migranten, islamische Terroristen, Angehörige der LGBTQ-Community). Manchmal kommen auch antisemitische und rassistische Motive ins Spiel, so beim Spiel Ungarn-England, als die schwarz gekleideten und paramilitärisch organisierten Fans von der Karpatenbrigade Affengebrüll ausstießen, immer wenn ein schwarzer Spieler ein Tor schoss oder auch nur an den Ball kam.

Auseinandersetzungen und Verhandlungen mit der Europäischen Kommission

Kaum zu verwundern, dass ein solcher Katalog, der hier keineswegs vollständig und in allen Details vorgestellt wurde, Spannungen, Missverständnisse und Zwistigkeiten mit der EU auslöst. Beide Länder haben im Verhältnis zu Brüssel ihre Probleme. Es laufen Verfahren zur Überprüfung der Rechtsstaatlichkeit auf Grundlage von Artikel 7 des EU-Vertrags, gegen Polen auf Initiative der Europäischen Kommission, gegen Ungarn aufgrund einer Abstimmung im Europäischen Parlament.

In beiden Ländern scheint die Meinung zu überwiegen, die EU sei ein besseres Sparschwein und nur dazu da, beide Regierungen mit Geld zu versorgen. Das wurde Ende 2020 besonders deutlich, als Viktor Orbán aus Angst vor Korruptionsvorwürfen und der Verweigerung von EU-Mitteln aus dem nächsten langfristigen Haushalt (2021–2027) Warschau geschickt in sein taktisches Spiel einschaltete und mit Brüssel und Berlin verhandelte. Das heißt mit Bundeskanzlerin Angela Merkel, weil Deutschland gerade die EU-Präsidentschaft innehatte, und die Bedingungen für beide Mitgliedsstaaten gemeinsam aushandelte. Bekanntlich hatte er im Großen und Ganzen damit Erfolg und konnte nach Warschau fliegen, um der Regierung dort die fertige Abmachung vorzulegen.

Trotz der vorherrschenden, nach Geist und Buchstaben europaskeptischen Regierungspropaganda, in der von der „Unterjochung“ durch die EU die Rede ist, sind beide Länder weiterhin proeuropäisch, wie Umfragen mit 70 bis 80 Prozent EU-Befürwortern belegen, doch ist der Glaube in weiten Kreisen stark erschüttert, Europa könne die Lösungen für brennende Probleme liefern. Allgemein werden die offenen Schengen-Grenzen positiv bewertet, die Möglichkeit, im EU-Ausland zu studieren oder Arbeit zu finden, aber regierungsseitig wirft man der EU vor, eine zu liberale Migrationspolitik zu betreiben, offene Grenzen zu wollen und Bedingungen vorzuschreiben, die nicht unbedingt mit denen übereinstimmen, die beide Regierungen bevorzugen.

Wie viele Divisionen und wo?

Die Politik nach dem Motto „Stärkung der nationalen Souveränität“ bekam während der Präsidentschaft Donald J. Trumps zusätzlichen Auftrieb. Orbán war der einzige Regierungschef eines Mitgliedslands der EU, der unverblümt auf einen zweiten Wahlsieg Trumps hoffte. Warschau ging noch ein Stück weiter, indem es erst die Anerkennung des Wahlergebnisses und dann die Gratulationsdepesche an den neuen Präsidenten hinauszögerte. Im Ergebnis sind zu den ständigen Spannungen im Verhältnis zu Moskau, den unablässigen Kontroversen mit Brüssel und gelegentlich mit Berlin und Paris und neuerdings auch noch mit Prag um das grenznahe Kohlekraftwerk Turów jetzt auch noch Auseinandersetzungen mit der Biden-Administration dazugekommen. So stellt sich der Eindruck ein, der einzige verbliebene Verbündete Warschau sei Viktor Orbán.

Einen bekannten Satz Stalins über den Papst paraphrasierend, sollten wir jedoch die Frage stellen: Aber wie viele Divisionen oder Erdölfelder hat er denn, um auf ihn zu setzen? Orbán hat sich wie üblich etwas besser in Stellung gebracht, denn zwar sind seine Beziehungen zu Brüssel und Washington ebenso angespannt wie diejenigen Warschaus, doch betreibt er schon lang die Strategie einer „Öffnung nach Osten“ (Keleti nyitás), so dass er in Wladimir Putins Russland, in Xi Jinpings China und in Recep Tayyip Erdoğans Türkei stets eine offene Tür findet. Zumal Orbáns Hinwendung zu autoritären Regimen sehr viel offenkundiger ist.

Selbst ein von der Rückkehr zu seinen Glanzzeiten träumendes Ungarn ist und wird keine Großmacht sein, soviel ist klar. Die ideologische und politische Nähe der beiden Führungsriegen hat jedoch dafür gesorgt, dass kraft eines Gesetzes vom 8. Februar 2018 in Warschau ein Institut für Polnisch-Ungarische Zusammenarbeit ins Leben gerufen wurde, benannt nach dem bekannten und um die beiderseitigen Beziehungen sehr verdienten Historiker Wacław Felczak. Die oppositionellen Medien erheben jedoch gegen das Institut den Einwand, es diene mehr den Parteiinteressen von PiS und der ungarischen Regierungspartei Fidesz als der Stärkung der bilateralen Freundschaft. Vielleicht ist aus diesem Grund eine weitere Idee bislang nicht umgesetzt worden, die im September 2020 bei einem Treffen der beiden Regierungschefs aufgebracht wurde, nämlich ein gemeinsames Institut für Rechtsstaatlichkeit einzurichten, das selbstverständlich eine Gegenposition zum europäischen Recht und dem Gerichtshof der Europäischen Union beziehen würde.

Eine unbestreitbar positive Folge der Annäherung Polens und Ungarns sind jedoch die Handelsumsätze. Polen bekleidet als Exporteur nach Ungarn die dritte Stelle nach Deutschland und China und liegt mit Österreich im Wettbewerb um diese Position. Umgekehrt ist Ungarn für Polen der elftwichtigste Handelspartner. Der Handelsaustausch wächst ständig und bewegt sich jetzt schon jährlich bei um die zehn Milliarden Euro in beide Richtungen, mit einem großen Saldo auf polnischer Seite bei um die 2,5 Milliarden Euro. Polnische Agrarprodukte und Lebensmittel, Baustoffe, Textilien und sogar Kosmetika sind in Ungarn überall im Handel erhältlich. Das hat es früher in diesem Ausmaß nicht gegeben.

Ist das aktuelle polnisch-ungarische Bündnis stabil? Glaubt man dem in beiden Sprachen gebräulichen Sprichwort, „Pole und Ungar sind zwei Geschwisterkinder“, dann schon. Was aber, wenn in einer der beiden Hauptstädte die „illiberale“ Regierung die Macht abgeben muss? Wie werden sich dann die Beziehungen gestalten? Das ist eine offene Frage. Es gibt, zumindest hypothetisch, noch eine weitere. Im Juni 2020 wurde zum 100. Jahrestag des Vertrags von Trianon gegenüber dem ungarischen Parlamentsgebäude ein Denkmalsmausoleum aufgestellt, auf dessen Wänden sämtliche Orte der Stephanskrone eingetragen sind, das heißt diejenigen des gesamten Königreichs Ungarn, wie es innerhalb der Doppelmonarchie nach dem Stand von 1914 bestand. Dort findet sich auch Nedec, will sagen das am Beginn dieses Textes erwähnte polnische Niedzica. Denn die dortige Burg befand sich lange in der Hand ungarischer Adliger, und der letzte dieser Reihe aus dem Geschlecht der Salamons verließ den Ort erst 1945. Sollte dieser Umstand etwa für die Zukunft Verwicklungen bedeuten, vielleicht gar Ansprüche, sofern beide Länder ihre Form von Geschichtspolitik weiterführen sollten? Das weiß zurzeit niemand.

 

Aus dem Polnischen von Andreas R. Hofmann

Bogdan Góralczyk

Bogdan Góralczyk

Professor Bogdan Góralczyk ist Politologe, Sinologe, ehemaliger polnischer Botschafter und ehemaliger Direktor des Europäischen Zentrums an der Universität Warschau.

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