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„Ich habe getan, was ich konnte.“ Zum literarischen Werk von Stanisław Lem

Der letzte Text, den Stanislaw Lem in seinem Leben geschrieben hat, heißt Doktrin und Praxis (Doktryna i praktyka). Genauer gesagt, er hat ihn nicht geschrieben, sondern im Alter von 84 Jahren am 9. Februar 2006 dem Journalisten Tomasz Fiałkowski des Tygodnik Powszechny diktiert, jenem katholischen „Allgemeinen Wochenblatt“ aus Krakau, das jahrzehntelang die einzige unabhängige Zeitung im sozialistischen Osteuropa war und dem Stanisław Lem von Anfang seiner schriftstellerischen Karriere an als Autor immer die Treue gehalten hat. Dieser nur drei Absätze lange Text wurde zehn Tage später veröffentlicht, am 19. Februar, als Lem bereits im Krankenhaus mit Nieren- und Lungenproblemen lag, wo er gut fünf Wochen später am 27. März 2006 auch sterben sollte.

Dieses kurze Feuilleton Doktrin und Praxis ist kein spektakuläres Abschiedswort oder Testament von Lem, sondern eher eine tagespolitische Glosse, die die so genannte Doppelherrschaft der Zwillingsbrüder Kaczyński scharf kritisiert. Doppelherrschaft heißt sie, weil im Oktober 2005 der ältere Zwilling Lech zum Präsidenten Polens gewählt worden war, während der jüngere Jarosław im Hintergrund die politischen Geschäfte seiner Regierungspartei „Recht und Gerechtigkeit“ im Parlament lenkte, was er ja heute – nach einer Unterbrechung durch die Regierungszeit von Donald Tusk von 2007 bis 2014 – weiterhin tut.

Lem empört sich über die „verhängnisvolle“ „Überzeugung von ihrer Unfehlbarkeit, dank derer man nicht einmal ein bisschen Selbstreflexion in ihren politischen Entscheidungen erkennen kann.“ Pointiert weist er auf den Dilettantismus der PiS-Regierung hin und warnt vor ihrem Populismus, der durch „ein Netz von Verleumdungen und Beschimpfungen“ die „legitime gesellschaftliche Autorität“ untergrabe – auch das eine Diagnose, die heute noch zutrifft, ehe er mit einem Aphorismus schließt: „Die derzeitige Politik lässt sich in zwei Worten zusammenfassen: Es wird alles getan, was nicht getan werden muss, und die dringenden Aufgaben werden nicht erledigt.“

Matthias Schwartz: Zum literarischen Werk von Stanislaw Lem
Stanisław Lem © Wikipedia

Auch das ist eine prägnante Formulierung, die 15 Jahre später nichts von ihrer Richtigkeit verloren hat. Von Kritikern werden diese und andere gegen die Kaczyńskis und die politische Klasse Polens insgesamt gerichteten Aphorismen Lems noch heute gerne zitiert, was wohl auch ein Grund ist, weswegen sich Jarosław Kaczyński mit keinem Wort öffentlich zum 100. Geburtstag des Schriftstellers äußerte.

Kaczyński ist damit aber auch so in etwa das genaue Gegenteil von dem, was Lem für sich in Anspruch nahm. Denn für Lem galt, als er diesen Satz kurz vor seinem Tode diktierte, genau das Gegenteil: Er hatte damals schon längst alles getan und geschrieben, was er schreiben wollte. Auf seinem Grab ließ er die lateinische Inschrift anbringen: „FECI QUOD POTUI. FACIANT MELIORA POTENTES“ („Ich habe gemacht, was ich konnte, mögen die, die dazu imstande sind, es besser machen.“)

Alle dringenden und drängenden Aufgaben hatte er schon lange vor seinem Tod, ganze 20 Jahre zuvor für erledigt erklärt, als er 1986 seinen letzten Roman Fiasko fertigstellte und daraufhin verkündete, von nun an keine Belletristik und keine Science-Fiction mehr schreiben zu wollen. Daran hat er sich, von ganz wenigen Ausnahmen abgesehen, auch gehalten und sich die letzten Lebensjahre nur noch mit weniger dringenden Aufgaben beschäftigt, mit all dem, was nicht unbedingt getan werden musste: Er diktierte kleine Feuilletons wie den oben genannten, verfasste Essays und Glossen, mischte sich in die Politik ein, gab viele Interviews und sammelte mehrere Ehrendoktorwürden ein.

Damit bastelte er aber auch an dem Bild, das noch heute, zu seinem 100. Geburtstag, die mediale Berichterstattung und die Festveranstaltungen zum Jubiläum dominierte: Demnach gilt Lem als genialer Wissenschaftsprophet, der das Internet, das Smartphone, den 3D-Drucker und die biogenetische Optimierung des Menschen vorausgesagt habe. Er wird aber genauso als der große Skeptiker angesehen, der vor den Gefahren der Technik und Wissenschaften warnte und Auswege zeigte, wie das Verhältnis von Fortschritt und Gesellschaft, Innovation und Zufall, der Gattung Mensch und der Erschließung des Weltraums neu bestimmt werden könne.

Doch beschäftigt man sich näher mit Lem, dann waren all diese tagespolitischen und prognostischen Dinge für ihn lediglich Lappalien und Eitelkeiten, denen er zwar gerne und auch mit Leidenschaft frönte, die aber nicht sein eigentliches Werk ausmachen.[1] Dieses war stark geprägt von der Erfahrung des Zweiten Weltkriegs. Denn für den am 12. September 1921 in einer assimilierten jüdisch-polnischen Familie in Lwów (dem ehemals galizischen Lemberg und heutigen ukrainischen Lwiw) im unabhängigen Polen der Zwischenkriegszeit geborenen Lem war insbesondere die deutsche Besatzungszeit 1941 bis 1944 traumatisch, als er und seine Eltern nur mit gefälschter Identität außerhalb des Ghettos überleben und dem Holocaust entgehen konnten. Die weitgehende Vernichtung der Lemberger Juden und vieler Verwandter und Freunde durch die Deutschen prägte sein Denken und Schreiben fortan.

Allerdings hat er über seine persönlichen Erlebnisse, nachdem er aufgrund der Grenzverschiebungen 1945 seine Heimatstadt hatte verlassen müssen und nach Krakau umgesiedelt war, ungern gesprochen. Lem sah sich immer als ein universeller Autor und schwieg lange über seine jüdische Herkunft, wobei sicher auch der grassierende Antisemitismus in der Volksrepublik Polen eine entscheidende Rolle spielte. Erst in den frühen 1980er Jahren bringt er seine Herkunft vermehrt zur Sprache. In seiner kurzen Autobiographie Mein Leben (1983) hat er einmal geschrieben, dass er Jude sei, habe er erst durch die Deutschen schmerzlich erfahren müssen, diese hätten ihn erst dazu gemacht.

Auch in seinem literarischen und essayistischen Werk berührt er das Thema nur in Episoden und Andeutungen. Das sind die großen Romane Solaris (1961) und Der Unbesiegbare (1964), Die Stimme des Herren (1968) und Der futurologische Kongress (1971), Golem XIV (1973/1981) und Lokaltermin (1983). Das sind aber auch seine unübertroffenen Erzählzyklen, die ihn insbesondere bei seinen Lesern so beliebt machten: Die fantastisch-grotesken Robotermärchen (1964) und Kyberiade (1965), die verspielt-ausschweifenden Rezensionen und Vorworte zu nicht existierenden Büchern Die vollkommene Leere (1971) und Imaginäre Größe (1973), die abenteuerlichen Geschichten des Piloten Pirx (1968) und nicht zuletzt die unglaublichen Sterntagebücher des Weltraumreisenden Ijon Tichy, dessen erster Reisebericht bereits 1954 publiziert wurde und dessen letzte Reise im Mai 1999 ausgerechnet in der Männerzeitschrift Playboy erschien, eine Ironie, die Lem sich wohl nicht verkneifen konnte.

Zu seinem maßgeblichen Oeuvre gehören aber fraglos auch die großen wissenschaftsphilosophischen Abhandlungen: zuerst die Dialoge (1957), als Lem noch eine kybernetische Optimierung nicht nur der sozialistischen, sondern auch der kapitalistischen Gesellschaft für möglich hielt, und dann vor allem die Summa Technologiae (1964), in der er die wissenschaftlich-technischen Zukunftsoptionen einer zu rekonstruierenden Menschheit auslotete, sowie die literaturtheoretischen Schriften Philosophie des Zufalls (1968) und Phantastik und Futurologie (1970).

Im sozialistischen Osteuropa, das noch traumatisiert war von Krieg, Holocaust und den Repressionen der Stalinzeit, hatte er damit immensen Erfolg, bereits Anfang der 1960er Jahre erreichte er Millionenauflagen. Denn erstmals wurden bei Lem in den fiktiven Welten der fernen Zukunft und anderer Planeten all jene Fragen und Probleme spannend, witzig und immer klug und ohne jegliche sozialistischen Dogmen angesprochen und verhandelt, die auf Erden unter den Nägeln brannten. Wobei die intellektuellen Eliten in Polen für diese populäre Genreprosa seinerzeit wenig übrig hatten. Lem hat einmal gesagt, dass damals eigentlich allein die Leser der Sowjetunion sich wirklich für ihn interessiert und ihn verstanden hätten, wohingegen er im eigenen Land lange vom Literaturbetrieb vollständig ignoriert wurde, und auch sein späterer Erfolg im Westen war von vielerlei Missverständnissen geprägt.[2]

Ein durchgängiges Thema von Lems Werk ist dabei die Frage, ob technisch-wissenschaftliche Entwicklungen zum Nutzen oder Nachteil der Menschheit gebraucht werden könnten, vor allem aber auch, wie sie den Menschen überfordern, er in seiner geistigen Begrenztheit und emotionalen Beschränktheit ständig bahnbrechende Entdeckungen und Errungenschaften missbraucht und verkennt. Statt konstruktiv etwas aufzubauen, treffen Mensch und Maschine immer wieder auf Chaos und Unordnung, Vernichtung und Krieg, heißen sie nun Tichy und Pirx oder Klapauzius und Trurl.

In einem Gespräch mit Raimond Federman sagte Lem einmal, dass der gesamte Boom der Nachkriegs-Science-Fiction seiner Ansicht nach eine Folge des Holocaust sei. Lems Einzigartigkeit liegt aber womöglich auch gerade darin: für den „Zivilisationsbruch“ (Dan Diner) wissenschaftlich-fantastische Darstellungsformen gefunden zu haben, die auf vielfältige Weise ausloten, wie die Verbrechen gegen die Menschheit auch das moderne Verständnis von Mensch und Wissenschaft selber grundlegend erschüttert haben.

 

Der Text geht auf einen Vortrag zurück, den ich am 28. September 2021 zur Eröffnung der Ausstellung »Stanisław Lem – ein polnisch-jüdischer Science-Fiction-Autor und sein universelles Werk« in der Volkshochschule Heidelberg gehalten habe.

 

[1] Zu den biographischen Details siehe: Tomasz Lem: Zoff wegen der Gravitation. Oder: Mein Vater, Stanisław Lem (Dt. von Peter Oliver Loew), Wiesbaden 2021; Alfred Gall: Stanisław Lem. Leben in der Zukunft, Darmstadt 2021.

[2] Siehe hierzu: Franz Rottensteiner: Zu Stanisław Lems Stellung in der Welt, in: Jacek Rzeszotnik (Hg.): Ein Jahrhundert Lem. 1921–2021. Dresden: Neisse Verlag 2021, S. 185-193; Matthias Schwartz: Prosa der Verstörung. Zum 100. Geburtstag von Stanisław Lem, in: ZfL Blog, 2.9.2021.

Matthias Schwartz

Matthias Schwartz

Dr. Matthias Schwartz ist Slawist und Historiker am Leibniz-Zentrum für Literatur- und Kulturforschung in Berlin. Seine Forschungen beschäftigen sich unter anderem mit sozialistischer und postsozialistischer Science Fiction und Abenteuerliteratur, der Kulturgeschichte der Raumfahrt sowie osteuropäischen Populärkulturen, Jugendkulturen und Erinnerungskulturen.

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