Die Migrationskrise an der litauisch-belarusischen und polnisch-belarusischen Grenze scheint sich langsam zu entspannen. Gleichzeitig bleibt die Frage, ob dies das Ende der Krise oder nur eine Unterbrechung ist, vorerst unbeantwortet. Das liegt daran, dass wir nicht wirklich wissen, was Aljaksandr Lukaschenka und/oder Wladimir Putin vorhaben. Denn unabhängig davon, ob die Krise eine eigenständige Operation des belarusischen Diktators war, ob sie mit Russland koordiniert wurde oder ob sie letztlich von Anfang bis Ende eine russische Operation war, haben die Regime in Minsk und Moskau eines gemeinsam: Sie verfahren nach dem Variantenprinzip. Mit anderen Worten: Die Führer beider Länder können je nach Reaktion des Umfelds problemlos von Deeskalation zu Eskalation übergehen.
Es ist daher nicht möglich, Putins oder Lukaschenkas Absichten zu bestimmen, auch weil beide selbst wahrscheinlich heute noch nicht wissen, was sie im nächsten Monat oder in bestimmten Situationen sogar in der nächsten Woche unternehmen werden. Alles, was wir wirklich wissen, ist, was ihre allgemeinen taktischen Ziele sind. Sowohl Russland als auch Belarus agieren auf taktischer und nicht wie der Westen auf strategischer Ebene. Das bedeutet nicht, dass sie keine Strategie verfolgen, sondern nur, dass sie sich ihrer eigenen Schwäche bewusst sind und daher versuchen, die strategische Dimension durch kleine, taktische Siege zu beeinflussen. Diplomatische Beziehungen zu beiden ähneln daher eher einem Krisenmanagement als einer Außenpolitik im herkömmlichen Sinne.
Die Migrationskrise, sofern Aljaksandr Lukaschenka für diese verantwortlich ist, sollte neben der Rache am Westen – insbesondere an Polen und Litauen für deren Reaktion auf die belarusische Revolution im Sommer 2020 – nicht zuletzt dazu dienen, den Westen zu Gesprächen mit Lukaschenka zu zwingen, ohne die bisherige Vorbedingung der Freilassung politischer Gefangener erfüllen zu müssen. Möglicherweise war Lukaschenka auch davon überzeugt, der Westen würde die gegen Belarus verhängten Sanktionen auch dann nicht aufheben, wenn er die politischen Häftlinge entlassen würde. Höchstwahrscheinlich war das Ziel nicht auch nicht die offizielle Anerkennung seiner Herrschaft.
Während die Sowjetunion großen Wert auf Prestigefragen legte, scheinen heute nicht nur Belarus, sondern ebenso Russland (anders als zu Beginn der Herrschaft von Wladimir Putin) viel weniger an Prestigefragen interessiert zu sein als beispielsweise China. Aus Lukaschenkas Sicht ist die faktische Anerkennung wahrscheinlich alles, was er braucht.
Das Regime in Minsk, das jahrelang autoritär war, doch zugleich einem sanften Autoritarismus nahekam, hat sich nun eindeutig zu einer harten Diktatur, wenn nicht gar zu einer Militär- und Polizeijunta entwickelt. Unter den gegenwärtigen Umständen ist es kaum vorstellbar, dass das Regime die politischen Gefangenen freilassen könnte. Andererseits weiß Lukaschenka wahrscheinlich sehr wohl, in welch aussichtsloser Situation er steckt. Mit seinem brutalen Vorgehen gegen die Opposition im Sommer 2020 hat er die Option auf Äquidistanz zwischen Russland und dem Westen, die jahrelang die Grundlage seiner Herrschaft war, bereits vollständig verloren. Obschon unwahrscheinlich, kann dennoch nicht ausgeschlossen werden, dass der belarusische Diktator erneut versuchen wird, ein Spiel mit dem Westen aufzunehmen, um damit seine Beziehungen zu Moskau auszugleichen. Die Migrationskrise wäre in einem solchen Szenario nur ein Mittel, um ihm die Rückkehr in dieses Spiel zu ermöglichen.
Die wichtigste Frage, die sich dem Westen dann stellen würde, lautet, ob er dieses Spiel mitspielen sollte oder nicht. Die belarusische Opposition beteuert, ein solches Spiel dürfe nicht aufgenommen werden, nicht allein aus moralischen, vielmehr aus rein pragmatischen Gründen. Die Oppositionsführer behaupten, Lukaschenka sei bereits so tief in die Arme Russlands gefallen, dass die einzige Chance für die Belarusen, über die Zukunft ihres Landes mitzubestimmen und seine Unabhängigkeit zu bewahren, in harten Sanktionen bestehe. Allerdings sollte deren Ziel dieses Mal nicht darin bestehen, politische Gefangene zu befreien, sondern einen gesellschaftlichen Aufruhr herbeizuführen. Nach Ansicht der Oppositionsführer sollte dabei ignoriert werden, dass Sanktionen gegen Belarus stets mit dem Nebeneffekt einer größeren Abhängigkeit Belarus´ von Russland einhergehen. Das Problem dabei ist, dass wir im Falle einer solchen Politik keine Garantie haben, das angestrebte Ziel zu erreichen, und Lukaschenka, selbst wenn es zu einem sozialen Ausbruch käme, die Proteste nicht erneut niederschlagen würde.
In einem Szenario, in dem die Migrationskrise auf Anweisung oder auf Anfrage von Wladimir Putin ausgelöst wurde, wären drei Ziele möglich:
Erstens, eine Situation zu schaffen, in der Polen und die baltischen Länder, die die russische Politik am widerwilligsten und zugleich am realistischsten einschätzen, lächerlich gemacht und damit politisch geschwächt werden. Die Russen gingen zu Recht davon aus, dass Polen, das sich in einem kalten Bürgerkrieg befindet und dessen Staatsverwaltung schwach ist, nicht in der Lage sein würde, die Grenze zu sichern. Es ist jedoch ein spezifisch polnisches Phänomen, dass Warschau manchmal in der Lage ist, gerade in Gefahrensituationen ziemlich effizient zu handeln. Die Reaktionen der russischen Medien haben sehr deutlich gezeigt: Die Russen waren von der Effizienz der Maßnahmen sowohl Polens als auch Litauens überrascht.
Der zweite Alternativszenario bestand darin, eine Krise zu provozieren, um dann, im Gegenzug für Zugeständnisse des Westens in einer ganz anderen Frage anzubieten, diese zu lösen. Diese Angelegenheit könnte zum Beispiel die Ukraine sein, um die sich bekanntlich immer mehr russische Militäreinheiten scharen.
Ein drittes alternatives Szenario wäre, eine Krise solchen Ausmaßes zu provozieren, welche Russland einen Vorwand für die Einrichtung ständiger Militärstützpunkte in Belarus liefern würde. Ein solcher Vorwand könnte zum Beispiel ein Schusswechsel an der Grenze sein. Die Verlagerung russischer Einheiten auf belarusisches Gebiet hätte für Putin drei Vorteile:
Erstens wäre es ein gigantischer Propagandaerfolg, den der Kreml ganz offensichtlich braucht. Der russischen Staatsmacht ist es gelungen, die Russen von einer nationalistischen Droge abhängig zu machen, was wie bei jedem Drogenkonsum zur Folge hat, von Zeit zu Zeit eine neue Dosis bereitzustellen. Die Besetzung der Krim hat schon lange zu wirken aufgehört.
Zweitens würde Russland durch die Verlegung seiner Streitkräfte in die unmittelbare Nachbarschaft zu Polen und den baltischen Staaten nach russischer Ansicht ein stärkeres Druckmittel bei Verhandlungen mit dem Westen erhalten.
Drittens würde die mögliche Verlagerung der russischen Streitkräfte in Belarus die Lage der Ukraine dramatisch verändern. Die Hauptstadt Kiew könnte in einem solchen Szenario nicht nur aus dem Osten, sondern genauso aus dem viel näher gelegenen Belarus angegriffen werden.
Unabhängig davon, worum es im Kern geht, steht eines fest: Russland bleibt ein aggressiver, neoimperialistischer Staat, der sich am Westen rächen will. Seine Verbündeten wiederum sind Leute wie Aljaksandr Lukaschenka oder Baschar al-Assad. In Europa unterstützt Russland Marine le Pen in Frankreich, die katalanischen Separatisten in Spanien und die extreme Rechte und Linke in Deutschland.
Vertreter der polnischen Regierung warfen Bundeskanzlerin Angela Merkel vor, die Krise auf angeblich unrechtmäßige Weise und ohne ein entsprechendes Mandat für solche Handlungen lösen zu wollen. Die Anschuldigungen der PiS-Politiker waren natürlich Ausdruck ihrer antideutschen Phobien. Vor allem aber waren sie Ausdruck eines absolut mangelnden politischen Realismus. Warschau, das durch die erfolgreiche Verteidigung der Grenze dazu beigetragen hat, dass der Westen das Spiel mit Minsk und/oder Moskau nicht verloren hat, musste zugleich eine Niederlage kassieren. Polen hat nicht verstanden, dass es ohne Gesprächskanäle nach Minsk und Moskau, noch verstärkt durch durch die öffentliche Erklärung, weder mit Minsk noch Moskau überhaupt sprechen zu wollen, die Krise alleine nicht beenden kann. Nebenbei haben die Regierenden in Polen der Welt gezeigt, was eigentlich in Moskaus Interesse liegt, nämlich wie unbedeutend Warschau ist.
Gleichzeitig haben die Regierenden in Polen offenbar in einem Punkt recht. Für die Krise ist Wladimir Putin verantwortlich. Auch wenn Lukaschenka die direkte Verantwortung zufallen mag, sollte man nicht vergessen: Lukaschenka ist nur deswegen an der Macht, weil er von Putin unterstützt wird. Unabhängig davon, wer die Krise ausgelöst hat, tragen also Wladimir Putin und Russland auf die eine oder andere Weise Verantwortung dafür. Russland wiederum behandelt den Westen so und nicht anders, weil der Westen gegenüber Moskau eine Beschwichtigungspolitik betreibt.
In meinen in Polen oft erscheinenden Publikationen schreibe ich darüber, dass wir Polen vergessen, wie sehr sich unsere Sichtweise von der deutschen oder amerikanischen Wahrnehmung Russlands unterscheidet, wo Russland immerhin als Global Player angesehen wird. Der Punkt ist aber, dass nicht nur unsere polnische Wahrnehmung schief ist.
Auch die deutsche Wahrnehmung Russlands sollte überdacht werden. Polen ist der viertgrößte Lieferant auf dem deutschen Markt, und wenn man die Ausfuhren wie Einfuhren zusammennimmt, sogar der fünftwichtigste Handelspartner Deutschlands. Der deutsche Handelsumsatz mit Polen ist dreimal so hoch wie mit Russland (über 120 Milliarden Euro im Jahr 2020 gegenüber knapp über 40 Milliarden). Bezieht man Rumänien, die Tschechische Republik, die Slowakei, Ungarn, Litauen, Lettland, Estland und die Ukraine mit ein, so ist der Handel Deutschlands mit diesen Ländern achtmal größer als der mit Russland.
Es wäre gut, wenn die polnische Regierung nicht jede Gelegenheit nutzen würde, um die antideutsche Karte zu spielen. Es wäre jedoch auch gut, wenn sich Deutschland keine Illusionen in Bezug auf Russland machen und stattdessen besser einmal einen Blick auf die Handelsstatistiken werfen würde.
In den letzten Jahren ist immer wieder gesagt worden, ohne Deutschland und ohne Bundeskanzlerin Merkel persönlich wäre es nicht zu Sanktionen gegen Russland gekommen. Das Problem liegt darin, dass die Sanktionen gegen Russland, das immerhin einen Krieg in Europa entfacht hat, in etwa so hart sind wie die Sanktionen gegen Aljaksandr Lukaschenka wegen der Befriedung oppositioneller Demonstrationen. Schwache Sanktionen sind wahrlich keine große Strafe. Vor allem aber sollten diejenigen, die die Verdienste Deutschlands betonen und den Nationen Mittel- und Osteuropas zu verstehen geben, Deutschland habe „ernsthafte Interessen“ in Russland, endlich eine einfache Wahrheit begreifen. Nun, Deutschland hat ernsthafte Interessen, bloß nicht in Russland, sondern in Mittel- und Osteuropa, insbesondere in Polen. Und das wird die Russen nicht davon abbringen, auch weiterhin Maybach, S-Klassen und Porsches kaufen.
Die Migrationskrise kann für mich nur aus dem Kreml kommen. Angesichts der spaltenden Wirkung, die die Masseneinwanderung über den Weg Flucht und Immigration in der EU hat , siehe Brexit, fragte ich mich schon lange, warum Putin das nicht schon längst macht. Aber da Russland keine direkte Grenze mit der EU hat, müsste er die Migranten von Russland aus selber nach Kaliningrad fliegen. So bietet sich einfacher der von ihm abhängige Lukaschenko an. Dieser wird in der Welt auch sowieso nicht hoch bewertet, und für Putins internationale Statur wäre der Migrantentransit durch Russland ein no go. Der Fehler, der zu dieser dem Kalten Krieg ähnlichen Lage führte, wurde nach der Wende 1989 gemacht, als verpasst wurde, Russland in den demokratischen europäischen Orbit zu lotsen. Hauptsächlich durch die Amerikaner, die Russland nicht als neuen Partner sondern Verlierer des Systemwettbewerbs behandelten. Was die normalen Russen sehr beleidigte, und dadurch die alten Spieler des Machtpoker wieder nach oben spülte. Es bleibt nur zu hoffen, dass Europa standhaft bleibt und nicht zerbricht. Für Europa wäre das die größte anzunehmende Katastrophe. Für Putin wäre es der größte Erfolg, wieder viele kleine Staaten, die sich gut gegeneinander ausspielen lassen, vor sich zu haben. Und man sollte die Migranten nicht vergessen, die wie in ihrer Heimat, hier auch wieder Opfer eines politischen Spiels sind.