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Was nicht verborgen bleiben darf

Iwona Krupecka: Ich denke, wir fangen am besten mit der Feststellung an, dass wir beide der Generation der Enkelkinder angehören – Enkelkinder von Opfern, einige auch von Tätern. Menschen, die noch die Gelegenheit hatten, sich mit den Opfern zu treffen und deren Geschichte unmittelbar kennenzulernen. Zugleich zählen wir zu jenen, die sich durch den Geschichtsunterricht, aus Schulbüchern und verschiedenen offiziellen Darlegungen ein bestimmtes Wissen darüber angeeignet haben, was damals geschehen ist. Ich möchte Dich zunächst bitten, Deine Erfahrungen mit dem kleinen Wäldchen neben dem ehemaligen KZ-Stutthof phänomenologisch zu beschreiben. Die Geschichte Deines Kampfes mit der Museumsleitung des Lagers Stutthof wurde bereits in dem ausgezeichneten Buch Rzeczy osobiste [Persönliche Sachen] von Karolina Sulej beschrieben, daher wollen wir darauf nicht näher eingehen. Mir geht es um die Beschreibung Deiner Erfahrungen, Emotionen, dessen, was in Dir vorging, als Du in dem Wäldchen auf Spuren des Lagerlebens gestoßen bist.

Grzegorz Kwiatkowski: Du hast das Buch erwähnt… Ja, es ist großartig, und die Aussage des Direktors ist, gelinde gesagt, skandalös. Für mich war es ein Schock, denn die ganze Sache zieht sich nun fünf oder sechs Jahre hin… Als wir in dem Wäldchen diese Schuhe entdeckten, von denen es anfangs nur wenige gab, aber in Wirklichkeit waren es Tausende, war das natürlich ein Schock. Also gingen mein Freund und ich zu dem Direktor des Lagermuseums und sagten, dass er mehrere hunderttausend Schuhe direkt vor seinem Zaun gäbe. Er konnte das zwar bestätigten, aber sagte zugleich, dass es sowieso Müll sei. Wir sagten ihm, dass er sechs Monate Zeit habe, um den „Müll“ zu beseitigen, denn es handelte sich keinesfalls um Müll, und wenn er das nicht täte, würden wir die Medien informieren.

Ich schrieb ihm jeden Monat, aber nichts geschah, und nach einem halben Jahr kamen dann die Medien und die Sache wurde öffentlich. Ich war mir sicher, dass dies das Ende war, dass der Direktor wegen seiner Fahrlässigkeit zur Verantwortung gezogen werden würde und dass diese Schuhe gesäubert, katalogisiert und gesichert werden würden, weil es sich um Artefakte des Holocaust, des Völkermords handelte, und all die Jahre lang nichts damit geschah. Die Sache wurde laut, es gab viel Pressematerial, jedes Mal gab die Museumsleitung eine andere Version der Ereignisse wieder, verstrickte sich in Lügen, sagte, sie wisse nicht, wer die Schuhe gefunden habe, es seien irgendwelche Touristen… Ich tat mir beinahe selbst schon leid, dass ich gezwungenermaßen Teil dieses Theaters war.

Unter dem Druck der Medien wurde schließlich eine große archäologische Untersuchung auf dem Gelände des ehemaligen Lagers in Auftrag gegeben, bei der viele Dinge gefunden wurden, diese Schuhe lagen weiterhin dort… Ich habe von Zeit zu Zeit nachgehakt – dieser Ort hat eine persönliche Bedeutung für mich, mein Großvater war dort inhaftiert, auch dessen Schwester. Schließlich wurden fast alle Schuhe ausgegraben. Und der Direktor ließ sie auf dem Museumsgelände wieder vergraben, was mich schockiert hat. Er hat etwas versteckt, das eigentlich hätte offengelegt werden müssen. Für mich ist dies auch eine Metapher für die polnische Erinnerung, ein Kampf um die polnische Erinnerung. Viele der Opfer von Stutthof waren jüdische Frauen aus Ungarn, die 1944 dorthin gebracht und ermordet wurden, während es sich in der polnischen Erinnerung vor allem um ein Lager für die polnische Elite Pommerns handelt.

Im Allgemeinen weiß ich auch, wie man mit Schwierigkeiten „umgeht“, daher bin auch froh, dass ich tiefer in die Welt der Geschichte, der Geschichtsmanipulation, des Geschichtsbildes eingetaucht bin, der Frage nachgehe, wer das Recht hat, über Geschichte zu sprechen, und zeige, dass es Menschen gibt, die dieses Recht ausschließlich für sich in Anspruch nehmen wollen. Ich reagiere sehr empfindlich auf so etwas. Das hängt mit meiner persönlichen Geschichte und Familie zusammen. Mein erstes Gedicht heißt Dom [Zuhause oder Haus] und handelt von einem Haus, in dem mein Großvater von meiner Großmutter Margarine bekam, aber alle so taten, als äßen sie Butter, und in diesem Gedicht kommt meine Mutter auf mich zu und sagt: „Schreibe nicht darüber, schreibe nicht so über meine Mutter“. Dies ist meine erste poetische Geschichte, dass ich etwas bemerke, aber jemand mich dazu überredet, für ein höheres Gut zu lügen, nur um irgendeinen Status quo nicht zu gefährden.

Dieses Gedicht ist beeindruckend und spiegelt die Erfahrung vieler wider, die eine Lüge reproduzieren, um den Schein zu wahren. Vielleicht, um den Schein für unsere Familien zu wahren, um eine Geschichte wiederzugeben, die dann zur offiziellen Version wird und nichts damit zu tun hat, wie wir uns an bestimmte Ereignisse tatsächlich erinnern und wie es wirklich war. Und ich fürchte, dass solch eine Lüge nach einiger Zeit realer wird, realer als das, was unsere Erinnerung uns sagt. Sie wird zu einer Fassade der Realität, die wir zwar noch als Fassade erkennen, aber wird sie mit der Zeit, etwa zwei Generationen später, immer noch als solche erkennbar sein oder wird es gelingen, sie niederzureißen?

Ich stimme Dir absolut zu und denke, dass dies eine Art kollektive Erfahrung ist. Gleichzeitig habe ich niemandem jemals Vorwürfe gemacht, keine Ressentiments gehegt oder andere beschuldigt. Generell decke ich in meinen Werken das auf, was verdeckt ist, aber ich kann die Gründe nachvollziehen, weshalb manche den Drang zur Aufrechterhaltung des Scheins verspüren. Ich habe Gewalt und Hass immer als Verteidigungsform von schwachen, ausgelaugten Menschen angesehen, die sich in einer extremen Lage befinden. Für mich ist eine vielstimmige Gesellschaft wichtig. Ich bewundere Edgar Lee Masters und seine Gedichtsammlung Die Toten von Spoon River, ich mag Collagen, verschiedene Tonarten, Stimmen und Situationen. Auch meine Band Trupa Trupa hat zwei Sänger, zwei Personen schreiben die Songtexte, die Band ist demokratisch organisiert, alles ist vielfältig.

Um jetzt noch einmal auf die Begebenheit mit dem Gedenkort Stutthof zurückzukommen: Das war alles eine sehr persönliche Erfahrung, denn als ich das ehemalige Lager erstmals mit neun oder zehn Jahren besuchte, war ich mit meinem Großvater dort, der ein ehemaliger Häftling des KZs war. Er war das erste Mal seit dem Krieg dort, weinte, rekonstruierte die Vergangenheit, verdrängte, wankte, und ich konnte all das mit ansehen. Das war eine der wichtigsten Erfahrungen in meinem Leben, denn ich befand mich in einem ehemaligen Konzentrationslager, eine der beklemmendsten Einrichtung schlechthin, war dort mit meinem Großvater, einem Opfer dieses Lagers, mein Vater stand daneben und war ratlos. Die ganze Sicherheitshierarchie der Familie und meiner Autoritäten fielen in sich zusammen, denn ich sah nur ratlose Menschen um mich herum.

Die Geschichte meiner Familie ist durch diese Erfahrung gekennzeichnet. Mein Großvater war im Grunde ein gebrochener Mensch, der geradezu ein obsessives Verhältnis zur historischen Wahrheit hatte. Auch mein Vater vermag es nicht, seine Gefühle zu offenbaren, er zählt zur zweiten traumatisierten Generation. Meine, die dritte Generation, versucht das Schweigen zu brechen. Manchmal geht das schief, etwa wenn ich dem zu entfliehen versuche, was mir die Natur als Erbe hinterlassen hat. Ich würde gerne aus diesem tragischen Erbe weise Schlüsse ziehen. Auf der anderen Seite ist die Wirklichkeit voller solcher Traumata, die wir verdrängen und denen wir uns nicht stellen wollen. Unter diesem Aspekt ist es faszinierend, gerade in Polen zu leben. Und wie schaut es mit deinen Erfahrungen aus?

Eine gute Überleitung zurück zur Frage was es bedeutet, Großeltern zu haben. Was mich besonders geprägt hat, ist, dass meine beiden Großväter, als die Zeit reif war, um mir etwas zu erzählen, ganz unterschiedliche Strategien hatten. Es geht mir um jene Strategien, die verletzte und traumatisierte Individuen selbst als die wirksamsten auswählen. Als kleiner Junge wurde mein Großvater in einem der Lager in der Woiwodschaft Kujawien-Pommern gefangen gehalten. Ihm und einem Freund gelang die Flucht aus diesem Lager. Dies ist also die Geschichte der großen Flucht, der Tage, die sie im Fluss verbrachten, der erfolglosen Durchsuchung ihres Dorfes auf der Suche nach ihnen, und des Versteckens. Aber das habe ich nicht von meinem Großvater erfahren. In unserer Großvater-Enkelin-Beziehung tauchte das Thema Krieg nicht auf, niemals. Ich erfuhr von seiner Geschichte erst dann, als mein Großvater bereits gestorben war. Wir fuhren in seinen Heimatort und sein Freund, der damals bereits schon ein alter Mann war, ließ mich rufen, um mir seine Geschichte zu erzählen. Ganz so, als wollte er, dass sie nicht vergessen wird.

Mein Großvater kehrte in seinen Erinnerungen nie in die Kriegszeit zurück, er war ein geradezu übermäßiger Optimist, als wäre nichts Schlimmes geschehen. Meine Großmutter hingegen war am Tag des Kriegsausbruchs acht Jahre alt gewesen, gemeinsam mit ihren Eltern flüchtete sie aus ihrem Dorf bei Kolomyja. Von Lemberg aus wurden sie nach Deutschland gebracht, waren in mehreren Lagern untergebracht, mussten anschließend Zwangsarbeit verrichten und waren am Ende Zeugen der Bombardierung Dresdens. Und ihre Geschichte, die sie immer wieder erzählte, war erschütternd. Jedes Mal, wenn meine Großmutter über den Krieg sprach, so tat sie es auf eine Art, als seien ihre Erinnerungen im kindlichen Bewusstsein eingefroren.

Sie hat diese Erinnerungen nie aus der Sicht eines Erwachsenen uminterpretiert. Bei ihrer Beschreibung der Bombardierung von Dresden etwa, war eines der Hauptmotive der Vergleich von Phosphor mit kleinen, leuchtenden Weihnachtsbäumen, die Opfer hingegen verglich meine Großmutter mit Puppen. Ganz so, als wären diese Erinnerungen im kindlichen Geiste eingeschlossen worden, in Schubladen, in denen Spielzeug-Vergleiche möglich waren, deren Öffnung hingegen die völlige Desintegration des Subjekts nach sich ziehen könnte. Ganz so, als hätte sie sich von ihrem kindlichen Ich, das all jenes erlebt hat, von ihrem Erwachsenen-Ich getrennt, als hätten beide nichts miteinander gemein.

Die Welt des Kindes ist ungemein wichtig. Mein Großvater war als junger Mensch im Lager, er war noch ein Kind. Er erzählte mir – auch kurz vor seinem Tod – eine Geschichte, bei der er immer weinte, weil er darüber erschrocken war, wie er damals alles auf eine Karte gesetzt hat. Im Lager erkrankte er an Ruhr und lag im Lazarett. Ein deutscher Arzt kam und sagte, er sei wieder gesund. Mein Großvater wusste, dass diese Diagnose sein Todesurteil bedeutete, dass der Arzt ihn nicht behandeln wollte. Dann sagte mein Großvater auf Deutsch zum Arzt: „Wenn ich gesund bin, dann sind Sie krank“. Letztlich gab ihm der Arzt ein Medikament und mein Großvater war gerettet. Dies zeugt von der ständigen Wiederkehr zu solch einer eingefrorenen Erinnerung. In solchen Fällen haben wir es mit Menschen zu tun, die nicht normal aufwachsen konnten, sie blieben Kinder, das Trauma hat ihre natürliche emotionale Entwicklung unterbunden. Dies übertrug mein Großvater auf seinen Sohn, meinen Vater, und dieser dann auf mich. Daher wollte ich lange Zeit selbst nicht Vater werden. Heute bin ich es und weiß, wie viel Liebe man seinem Kind schenken kann.

Viele Polen haben eine gewisse emotionale Kühle vererbt bekommen. Bei einer jüngst stattgefundenen Veranstaltung an der University of Chicago über meine Poesie war Professor Katarzyna Schier, eine Expertin in Sachen Traumavererbung und Kindheitstraumata, unter den Teilnehmern. Sie sagte, was mich freute, dass sie meine Poesie vor allem als Mittel zur Verarbeitung von Traumata ansehe, dass die darin auftauchenden dunklen Bilder ein Weg seien, mit dem Trauma zusammenzuprallen, was eine Voraussetzung für eine Art Katharsis ist. Doch sie sagte auch, dass die meisten Menschen in Polen ein kriegsähnliches Trauma haben und an posttraumatischem Stress leiden würden. Es lohne sich daher, nach verschiedenen Werkzeugen zu suchen, um sein Trauma aufzuarbeiten, und dazu eignet sich nicht nur die Kunst an sich, sondern vor allem Diskussionen und Gespräche. Es ist wichtig, eine heterogene Gemeinschaft zu bilden, die zwar nicht mit einer Stimme spricht, aber eine Art Optimismus und Hoffnung aufrechterhält – das kann eine heilende Wirkung haben.

Bleiben wir noch beim Kern unserer Erfahrungen. Auf der einen Seite haben wir viel Wissen darüber, wie es gewesen ist: Wir haben Bücher, die uns vom Ausmaß der Verbrechen berichten, die Funktionsweise der Maschinerie des Todes erläutern, den Verlauf des Holocaust, die die Situation rekonstruieren, in der all das geschehen ist. Auf der anderen Seite sind wir überfordert damit, das Grauen zu verstehen, wenn wir uns mit dem Thema als menschliche Wesen auseinandersetzen. Es übersteigt unsere Vorstellungskraft. Sich die gewaltige Dimension der Verbrechen bewusstzumachen führt zu einer Art intellektuellen und emotionalen Lähmung.

Ich habe das Gefühl, dass Deine Gedichte und deren minimalistische Form eine Konfrontation damit auf rein existenzieller Ebene ermöglichen, zur Fusion von Verständnishorizonten führen. Dies gelingt, weil Du einen kleinen Ausschnitt der Realität herausnimmst und diesen aus einer klaren, emotional gefestigten Perspektive zeigst. Als ich darüber nachdachte, weshalb Deine Gedichte unter moralischen Gesichtspunkten derart aufbauend sind, kam ich zu dem Schluss, dass sie eine konkrete Situation, aber auch eine herauspräparierte Emotion zeigen. Dadurch wird es möglich, den Blick von der Todesmaschinerie, der den Verstand in Ohnmacht verfallen lässt, hin zu dem zu lenken, was sich auf der Ebene des moralischen und existenziellen Verständnisses abspielt.

Ich hoffe, dass es so ist, wie Du es beschreibst. Mich lähmt das Ausmaß der Verbrechen auch. Bei mir sind es immer winzige Szenen. Ich orientiere mich nicht an Theorien, Methoden und habe kein Programm. Diese winzigen Szenen sind Momentaufnahmen von wichtigen und fragwürdigen moralischen Entscheidungen, die eine Neuordnung von Werten nach sich ziehen. Ich fange diese Schlüsselmomente intuitiv ein.

In diesem Zusammenhang ist das Gedicht Richard Glazer interessant. Es ist deshalb so erschütternd, weil darin die Erfahrung einer konkreten Emotion eingefroren wird. Es entsteht zugleich ein Bild der Hoffnung und einer in der beschriebenen Situation geradezu unmöglichen Ruhe. Wir wissen, wie aussichtslos diese Hoffnung war. Das ist ein gutes Beispiel dafür, was Du als absurd, ich hingegen als paradox bezeichne: Etwas, das erst nach der Fusion verschiedener Verständnishorizonte – derjenigen, die wissen, was geschehen wird und derjenigen, die einen Moment der Hoffnung erleben – wahrgenommen werden kann. Dies ist die expressive Kraft dieses Gedichtes.

Wenn ich mich mit Kunst beschäftige, bin ich sehr affiziert, ich identifiziere mich stark mit einem Werk und mein Moralempfinden wird geweckt. Ich frage mich immer, wie ich reagiert hätte, und meist komme ich zu keinem guten Schluss. Ich bin mir meines mörderischen, normal menschlichen Potentials bewusst, dass ich einfach ein Mensch, d.h. ein Raubtier bin, und das bin ich seit über 100.000 Jahren. Das ist das Paradoxe, dass nämlich die Kultur unsere animalischen Eigenschaften maskiert, sie – also die Kunst – zugleich aber das abgründig Böse in mir aufdeckt. Dass ich im Grunde doch gut sein will, das ist das moralische Erweckungsmoment, das dann einsetzt. Es geht nicht darum, ob ich gut oder böse bin, sondern um den Prozess der moralischen Selbstverbesserung, was wiederum mit Empathie zusammenhängt.

Dies ist in gewissem Sinne auch meine private Geschichte, mein Weg zu einem besseren Ich, den ich mithilfe der Poesie, meiner Familie, Edgar Lee Masters beschreite. Dabei lerne ich immer, wie wichtig Demut und Zurückhaltung bei moralischen Urteilen sind, dass man nicht in Schwarz-Weiß-Kategorien denken darf. Auch hinsichtlich des Völkermords. Neben dem natürlichen und angebrachten Protest gegen das Böse und die Verteidigung der Opfer ist es doch so, dass die meisten Menschen, die Böses tun, der Meinung sind, sie selbst seien gut.

Beim Lesen Deiner Gedichte frage ich mich auch oft, was ich getan hätte. Ich habe natürlich ein idealisiertes Selbstbild von mir, in dem ich als Heldin und nicht als jemand erscheine, die alles tun würde, um zu überleben. Deine Gedichte konfrontieren mich damit, dass auch ich in Grenzsituationen – wenn das eigene Leben in Gefahr ist und die ganze Umwelt sich einer elementaren Moral entledigt hat – höchstwahrscheinlich Schwierigkeiten damit hätte, mich gegen die emotionale Betäubung zu wehren. Deine Gedichte zeigen ein ganzes Spektrum derartiger Reaktionen in Extremsituationen. Es sind nicht solche Reaktionen, die wir uns wünschten, sondern solche, wie sie in Wirklichkeit sind.

Für mich ist auch ganz wichtig, dass Poesie keine Geschichtswissenschaft ist, sondern ein geistiges Erlebnis, das sich aber auf einem Minenfeld bewegen kann, auf der tragischen Geschichte des Holocaust. Es besteht immer die Gefahr der Relativierung, was mir bereits vorgeworfen wurde. Man kann doch Opfer und Täter nicht nebeneinanderstellen. Grzegorz Kwiatkowski relativiert das Böse. Das mache ich absolut nicht, solch eine eindimensionale Interpretation verwundert mich.

Für mich sind die Stimmen der damaligen Generation am wichtigsten, etwa die Stimme von Michał Głowiński, der den Holocaust überlebt hat und einer der herausragendsten Literaturwissenschaftler Polens ist. Oder die Stimme von Jacek Bocheński. Für sie handelt es sich nicht nur um eine literarische Erzählung, zugleich aber doch um eine, die an ihre Erfahrungen anknüpft. Wenn die alten Meister mir ihre Freigabe zusichern, dann empfinde ich eine Art innere Ruhe.

Ich weiß, dass ich mich auf ein Minenfeld begebe, aber das tun die meisten Polen. Dieses Minenfeld ist meine Familie, die Familie meiner Frau, deren Geschichte viel tragischer ist als meine Familiengeschichte. Polen ist ein einzig großer Friedhof, auf polnischem Boden haben Deutsche den größten Völkermord in der Weltgeschichte begangen. Aber ich habe das Gefühl, dass diese tragische, böse Geschichte in Verbindung mit der Kunst und gewisser Sensibilität nicht zu einem nihilistisch-relativierenden Ergebnis führen muss, sondern eine Art Plattform, eine Pforte zum Licht sein kann.

Und gleichzeitig heißt eines Deiner durchdringendsten Gedichte Świat [Welt]. Ein Gedicht, in dem wir erfahren, dass wir als Eltern die Verantwortung für das Schicksal unserer Kinder übernehmen sollten, dass Kinder Wesen sind, für die wir eine ganz neue Art der Liebe – die Elternliebe – entwickeln. Auf der anderen Seite erfahren wir, dass Kinder manchmal in schrecklichen Situationen zur Welt kommen, sodass diese Liebe sich mit Furcht und Todesangst vermengt. Deine Gedichte verweisen oft auf den Zusammenhang von Liebe und Trauer, Leben und Tod.

Dem ist so. Die Vergänglichkeit hat etwas Andächtiges an sich, auch die Wahrheit über die Vergänglichkeit und dass alles nur notgedrungen akzeptiert wird, weil der Tod ein Ende setzt. Es ist aber falsch, sich nur auf die dunkle Seite der Vergänglichkeit zu konzentrieren, weil zwischen der Geburt und dem Tod ein Raum besteht und eine ultradunkle, düstere Kunst ohne Ironie und Volte, sei sie auch nur banal, schlicht und einfach langweilig ist. Selbst in den schrecklisten Situationen, sogar während der Shoa, der größten Tragödie, wurden manchmal – leider sehr selten – Menschen gerettet. Es wäre einfach zu sagen, alles stirbt und nichts habe Sinn, aber es ist in Wahrheit viel komplizierter. Ich hole aus meinen Erfahrungen in Polen alles heraus, was ich nur kann. Gerade wir Danziger haben solch eine Eigenschaft, da der Krieg bei uns ausgebrochen ist.

Du hast recht, diese Stadt prädestiniert uns dazu, sich mit dem Thema auseinanderzusetzen. Ich hingegen besuchte die Schule, in die einst Günter Grass ging. Ein wichtiges Thema war damals, sich mit dem deutschen Erbe auseinanderzusetzen und zu lernen, wie man damit umgehen könne.

Danzig ist einzigartig. Etwas habe ich bislang nicht erwähnt, es ist aber auch kein Geheimnis. Mein Großvater war im KZ inhaftiert, aber später diente er auch in der Wehrmacht. Natürlich wurde er Zwangsrekrutiert. Ihm gelang die Flucht und er schloss sich der polnischen Exilarmee an und war Sanitäter während der Schlacht um Monte Cassino. Mein Großvater war Kaschube und viele Kaschuben hatten damals die sog. Volksliste unterzeichnet. Als ich im Lagermuseum Dokumente untersuchte, fand ich heraus, dass er Bürger des Dritten Reiches war, ein Volksdeutscher der dritten Kategorie, man nannte das eingedeutscht. Mein Vater ist bis heute der Meinung, das sei nicht wahr, auch wenn ich ihm die Unterlagen vorlege.

Ich finde es großartig, dass wir darüber sprechen, denn diese moralische Kategorie, diese moralische Komplexität, diese Vielfalt ist in Danzig etwas ganz Natürliches. Und eine gewisse Art von Trauma ist in Danzig auch ganz natürlich, weil die meisten Danziger von anderen Orten hierhergekommen sind, zum Beispiel aus dem Osten. Moralische Probleme braucht man nicht zu suchen, sie sind da. Nehmen wir etwa Günter Grass: Danziger Bürger, Schriftsteller, Mitglied der SS. Es liegt auf der Hand, dass er den Nobelpreis nicht gewonnen hätte, wenn seine SS-Mitgliedschaft früher ans Tageslicht gekommen wäre.

All dies ist immer noch lebendig, und im Laufe der Zeit haben wir Kenntnis von der zunehmenden Skandalisierung und Verkomplizierung der Welt; von ihrem Bösen, aber nicht nur vom Bösen, sondern gerade von ihrer Verkomplizierung, denn alles auf das Böse und den Pessimismus zu reduzieren, ist für mich privat nicht ehrlich. Und da wir in Gdańsk leben, haben wir eine großartige Perspektive auf dieses Thema.

 


Grzegorz Kwiatkowski – Dichter und Musiker, Sänger, Gitarrist und Texter der Band Trupa Trupa, Autor von Gedichtsammlungen, u.a. „Eine Kleine Todesmusik“ (2009) und „Karl-Heinz M.“ (2019), dessen Buchveröffentlichung mit der Veröffentlichung von Trupa Trupas hochgelobtem Album „Of the Sun“ (2019) zusammenfiel. Die Songs von Trupa Trupa werden regelmäßig in Radiosendungen von Iggy Pop und Henry Rollins gespielt. Die Band wurde auch zur Teilnahme an der legendären NPR Tiny Desk Session eingeladen. Ihre Musik wird von Plattenlabels wie Sub Pop, Glitterbeat Records, Ici d’ailleurs und Lovitt Records veröffentlicht.  Das neueste Album B FLAT A erscheint am 11. Februar 2022.


Iwona Krupecka – Philosophiehistorikerin, Assistenzprofessorin am Institut für Philosophie der Universität Danzig; Autorin u.a. des Buches „Don Quijote im Land der Philosophen“ (2012), von Artikeln über die Geschichte der modernen Philosophie, die Beziehung zwischen Philosophie und Literatur, kulturübergreifende Philosophie; ihr neues Buch „Descartes und die Kannibalen“ wird demnächst veröffentlicht (im Druck).

 

 

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