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Ungarns Sonderweg in der Visegrád-Gruppe

Die Visegrád-Gruppe (V4) ist eine informelle Plattform für die Zusammenarbeit vierer mitteleuropäischer Staaten. Ihr wichtigstes Instrument sind die Koordinierungstreffen vor den EU-Gipfeln. Bei diesen Gelegenheiten treten die jeweiligen Eigeninteressen in den Hintergrund, um die Interessengemeinschaft der V4 als Fürsprecher der Region Mitteleuropa herauszustellen. Wenn es um die V4 und ihre Rolle in Europa geht, fällt mir zuerst ein Treffen in der Warschauer Universitätsbibliothek 2009 ein, bei dem Viktor Orbán, damals Vorsitzender der oppositionellen Fidesz-Partei, von seiner Begegnung mit dem französischen Präsidenten Nicolas Sarkozy erzählte. Im Gespräch habe Sarkozy Orbán gefragt, wieso sich Mitteleuropa um jeden Preis mit dem Westen durch den Bau von Landverbindungen integrieren wolle, statt in Verkehrswege zu investieren, die zum Beispiel die nordsüdlichen Landverbindungen verkürzen würden. Der Ausbau der Nord-Süd-Verbindungen wurde seit 2010 zu einer Kernfrage der ungarischen Politik. Die ungarische Außenpolitik machte engere und pragmatische Beziehungen in Mitteleuropa zu einer Priorität, zumal diese die erwünschte Lockerung der Kontakte zu westlichen Partnern wie Deutschland und Frankreich ausgleichen sollten. Orbán betrachtete Polen als natürliche Führungsnation der V4, die daraus ihre Stärke gewinnen sollte. Seit der Migrationskrise von 2015 hat jedoch meines Erachtens Orbán begonnen, diese Sonderrolle seinem eigenen Land zuzuschreiben.

Besonders aus polnischer Sicht, und das muss eingeräumt werden, war es lange Zeit schwierig zu akzeptieren, die Visegrád-Gruppe sei ein kooperatives Format, in dem wir betonen, was die Partner verbindet, und mit Schweigen übergehen, was sie trennt. Die polnische Haltung änderte sich, als Ungarn zu einem der wichtigsten außenpolitischen Partner wurde. Es ist jedoch kein Geheimnis: Ungarn schätzt die Rolle Russlands in Mitteleuropa im Vergleich zu Polen diametral entgegengesetzt ein. Denn Ungarn sieht in Russland keine Gefahr für Europa. Mehr noch, Ungarn hat sich mit den Jahren zum Fürsprecher russischer Interessen in der Region gemacht. Auch Tschechien und die Slowakei unterhalten enge Beziehungen zu Russland. Des Weiteren ist die Migrationspolitik der EU ein Faktor, der die V4 zusammenschweißt, ebenso Fragen der Qualitätskontrolle bei Waren für die V4-Länder und Westeuropa sowie die Befürwortung der Integration der Länder des Westbalkan in die EU. Nicht zuletzt beim Thema institutionelle Reform der Europäischen Union vertreten die V4-Länder ähnliche Haltungen. Ihre Staats- und Regierungschefs haben wiederholt betont, sie hätten gemeinsam als Region größere Bedeutung für die deutsche Wirtschaft als Frankreich. Die V4-Länder sind vor allem bemüht, eine wirtschaftlich konkurrenzfähige und für Investoren attraktive Region zu bilden.

Gleichwohl bestehen zwischen den V4-Ländern gewisse Unterschiede in ihrer Sicht auf die europäische Integration. Die Slowakei gehört schon lange zur Eurozone, und nach Umfragen von Eurostat befürworten 60 Prozent der Ungarn die Einführung der Gemeinschaftswährung. Polen ist der EU gegenüber am positivsten eingestellt, die Tschechen dagegen am ablehnendsten. Mit Blick auf die wirtschaftliche Zusammenarbeit, das Know-how und die Basis an Arbeitskräften ist die Region allemal sehr interessant und wird immer noch unterschätzt. Ein Problem ergibt sich aber bei den politischen Herangehensweisen. Ich möchte mich hier auf den ungarischen Fall konzentrieren, mit dem ich mich schon lange beschäftige. Ich bin mir völlig im Klaren darüber, dass dies nur einen Ausschnitt aus der in sich sehr differenzierten Visegrád-Gruppe darstellt. Allerdings zeigt Ungarns Stellung in der V4 des Öfteren die Instrumentalisierung der Plattform zu innenpolitischen Zwecken. Meist geht es dabei darum, den eigenen Staat größer und wichtiger erscheinen zu lassen, als er tatsächlich ist.

Die Visegrád-Gruppe spielt eine erhebliche Rolle in der ungarischen Politik, weil sie es erlaubt, sich hinter der Politik der anderen Partner zu verstecken. Dafür liefern die EU-Vereinbarungen zur Migrantenverteilung ein gutes Beispiel, die sogenannte „Flüchtlingsquote“. Obwohl die ungarische Regierung lautstark bekundete, die Sache vor den Gerichtshof der Europäischen Union (EuGH) bringen zu wollen, wartete sie doch damit, bis zuerst die Slowaken die Initiative ergriffen. Erst am Folgetag reichte Ungarn seine Klage ein, was kein Zufall war. Das Urteil des polnischen Verfassungsgerichts, dem Landesrecht (dem Grundgesetz) Vorrang vor den EU-Verträgen zu geben, wie auch der Rechtsvorbehalt auszuwählen, welche Urteile des EU-Gerichtshofs in die polnische Rechtsordnung aufgenommen werden und welche nicht, wurde in Ungarn begrüßt. Viktor Orbán verkündete sogar einen freilich nicht bindenden Sonderbeschluss der Regierung. In diesem Dokument, veröffentlicht im ungarischen Gesetzblatt, bekundet Orbán sein Verständnis für das polnische Vorgehen und unterstreicht, die europäischen Institutionen überschritten zunehmend ihre Kompetenzen, wogegen sich Ungarn schon lange zur Wehr setze (faktisch aber ohne irgendwelche Maßnahmen zu ergreifen). Der ungarische Ministerpräsident verweist darauf, die EU-Staaten hätten in den Verträgen sehr präzise festgelegt, welcher Teil ihrer Kompetenzen an die europäischen Institutionen übergehe. Das Dokument endet mit einem Appell an die europäischen Institutionen, die Mitgliedsstaaten respektvoll zu behandeln.

Obwohl das die logische Schlussfolgerung wäre, hat sich das ungarische Verfassungsgericht bis heute nicht mit der Überordnung der eigenen Verfassung über das europäische Recht befasst. Noch wichtiger – Budapest hat bisher alle Urteile des EU-Gerichtshofs umgesetzt, selbst wenn diese Ungarns politischen Interessen zuwiderlaufen. Die letzten Urteile betrafen nämlich wichtige Rechtsakte wie die Unvereinbarkeit mit dem EU-Recht, auf die Entscheidung zu ihren Einwanderungsanträgen wartende Migranten, auf der serbischen Grenzseite festzuhalten wie auch illegal die Grenze überschreitende Personen im sogenannten push-back wieder nach Serbien zurückzuschicken; dito die Unvereinbarkeit mit EU-Recht des Gesetzes über die Nichtregierungsorganisationen und ihrer Pflicht finanzielle Zuwendungen von außerhalb Ungarns registrieren zu lassen. Die Umsetzung der EuGH-Urteile lässt schließen, dass die ungarische Regierung bei aller Kritik und Europaskepsis diese Urteile anerkennt, was eine durchaus vorbedachte Strategie ist.

Viktor Orbán stellt seit langem die europäische Integration in Frage und widersetzt sich der Idee der „vereinigten Staaten Europas“, der er seine Konzeption starker und souveräner Nationen entgegensetzt, die auf ausgewählten Feldern zusammenarbeiten und eigene Befugnisse nur in minimalem Umfang an dritte Institutionen abtreten. Interessanterweise ist die ungarische Gesellschaft seit Jahren unverändert proeuropäisch eingestellt, es gibt jedoch keine Umfragen zu den in Ungarn vertretenen Meinungen über mögliche zukünftige Entwicklungspfade der Europäischen Union. In Budapest ist Kritik an der EU-Migrationspolitik an der Tagesordnung, die weiterhin nicht in Gänze hat verabschiedet werden können, obwohl der Anfang der Flüchtlingskrise bereits mehr als sechs Jahre zurückliegt. Ein weiteres Thema ist die Rechtsstaatlichkeit. Die ungarische Regierung stellt nämlich nicht so sehr die Rechtsstaatlichkeit an sich infrage als vielmehr ihre Definition und die damit einhergehenden Kontrollmechanismen, die zurzeit vor dem EuGH eingeklagt werden, es geht um die sogenannte Rechtsstaatsbedingung. Hier ist zu erwähnen, dass die ungarische Justizministerin Judit Varga an dem Tag, da der EuGH das Verfahren zur polnischen und ungarischen Klage eröffnete, sagte, die UE beginne den Wahlkampf zu den ungarischen Wahlen von 2022. Äußerungen wie diese machen klar, wie das Verhältnis von Rechtsstaatlichkeit und Mittelauszahlung aus dem Wiederaufbaufonds wahrgenommen wird, nämlich als Versuch, auf die ungarische Politik zugunsten der Opposition Einfluss zu nehmen.

Der vormalige ungarische Justizminister und prospektive ungarische Präsident László Tróczányi schreibt in einem seiner Beiträge, der Schutz der Rechtsstaatlichkeit sei „vor allem von den landeseigenen allgemeinen und Verfassungsgerichten zur gewähren. In den letzten Jahren zeichnet sich in Europa immer mehr die Tendenz ab, politischen Druck auszuüben und dieses Prinzip als ein einheitliches und homogenes aufzufassen.“ Vorwürfe wegen Verletzung der Rechtsstaatlichkeit richteten sich häufig gegen die ungarische Regierung und wurden regelmäßig von dieser zurückgewiesen. In diesem Zusammenhang war Orbáns Reaktion vom Juli 2020 besonders interessant, als es um die Verhandlungen zum EU-Budget für 2021 bis 2027 ging. Orbán meinte damals, wenn ein Staat nicht rechtsstaatlich sei und gegen die EU-Prinzipien verstoße, sei er aus der Gemeinschaft auszuschließen.

Diese Ausführung war insofern überraschend, als Orbán in hinterhältiger Weise den EU-Institutionen sagte, „ich teste euch“, während diese weiterhin nicht in der Lage waren, eine Antwort auf die ungarische Politik zu finden. Diese ist nämlich nicht einfach gegen die EU gerichtet, aber bis zur Schmerzgrenze europaskeptisch und von Eigeninteressen geleitet. Vor den Wahlen zum Europäischen Parlament von 2019 bemühte sich die Koalition aus Fidesz und Christlich-Demokratischer Volkspartei (KDNP), den Eindruck zu erzeugen, es prallten zwei verschiedene Visionen von Europa aufeinander, die von Orbán vertretene (christlich, konservativ, immigrationsfeindlich, familienfreundlich) und die dagegen gerichtete des französischen Präsidenten Emmanuel Macron (immigrationsfreundlich, laizistisch, multikulturell). Kurz nach den Wahlen zeigte sich: Orbáns Europavision würde keine Mehrheit finden, und der Austritt von Fidesz aus der Europäischen Volkspartei (EVP) bereitete ihr das endgültige Ende. Die Europaabgeordneten von Fidesz gingen zur Gruppe der Fraktionslosen über. Obwohl kurz darauf ein neues Bündnis im Europäischen Parlament gebildet wurde, an dem sich polnische, italienische, französische und ungarische Abgeordnete beteiligten, hat es mehrere Monate bei diesem Thema keine Bewegung gegeben, und Fidesz ist dabei, Kommissionssitze zu verlieren.

Obwohl die ungarische Regierung sehr viel von der Notwendigkeit einer EU-Reform spricht, belässt sie es bei bloßer Rhetorik vorwiegend für innenpolitische Zwecke. Denn bisher hat sie keinen detaillierten Plan für die EU-Reform vorgebracht, was sich unterschiedlich interpretieren lässt. Zum einen führt der Austritt von Fidesz aus der EVP dazu, dass Budapest nun überhaupt keinen Einfluss mehr auf die laufende europäische Politik hat, wodurch Fidesz nicht mehr per parlamentarischer oder institutioneller Mehrheit einen Vorschlag auf den Weg bringen kann. Andererseits könnte ein Grund sein, dass sich mit dem Versuch, Reformen einzubringen, die tatsächliche Stellung der ungarischen Regierung in der EU offenbaren würde, und diese darf schon einmal erheblich in Zweifel gezogen werden. Ein weiterer Aspekt ist, dass sich in den Staaten der Region politischen Veränderungen vollziehen und neue Regierungen nicht die europaskeptische Politik ihrer Vorgängerinnen fortsetzen; dasselbe kann auch in Ungarn passieren.

Erstmals scheint ein weiterer Wahlsieg von Fidesz bei den Parlamentswahlen nicht mehr ganz so sicher wie bisher; die nächsten Wahlen sind auf das Frühjahr 2022 terminiert. Darüber hinaus befürchtet die Fidesz-KDNP-Koalition erstmals seit einem Jahrzehnt nicht so sehr den Machtverlust als ein sehr viel schlechteres Wahlergebnis als diejenigen, welche die Koalition bei den Wahlen von 2010, 2014 und 2018 erzielen konnte. Das ist auf die Einigung der ungarischen Opposition und die Durchführung von Vorwahlen zurückzuführen, an denen mehr als eine halbe Million Menschen teilnahmen. Den Bürgern selbst zu überlassen, wie sich die Wahllisten zusammensetzen sollen, war nicht nur in Ungarn ein absolutes Novum, sondern in der gesamten Region. Nach außen hin sieht Fidesz-KDNP die Opposition nicht als wirkliche Konkurrenz, und die regierungsnahen Medien berichteten praktisch nicht über die Vorwahlen. Doch ein Beleg für die Befürchtungen der Regierungskoalition besteht darin, dass dem Parlamentspräsidium eine Gesetzesnovelle zur Wahl des Generalstaatsanwalts vorliegt. Die Antragsteller schlagen vor, die zur Besetzung des Amtes erforderliche Mehrheit zu ändern, und zwar von einer einfachen Mehrheit zu einer qualitativen, das heißt zwei Drittel der anwesenden Abgeordneten. Die Entscheidung der Parlamentsmehrheit ist kein Zufall, denn eine der ersten und wichtigsten Ankündigungen der Opposition ist, nach einem Sieg bei den Wahlen im Frühjahr nächsten Jahres eine Abrechnung mit den mehr als zehn Jahren der Fidesz-KDNP-Regierung durchzuführen, gestützt auf die nationale und europäische Staatsanwaltschaft.

Programmatische Änderungen in der Europäischen Union werden erst nach 2024 durchgeführt werden können, abhängig von der endgültigen Regierungsbildung in Deutschland und dem Ausgang der Präsidentschaftswahlen in Frankreich. Eine wirkliche Revolution ist jedoch kaum zu erwarten. Budapest möchte sicher gern beizeiten bei diesen Änderungen mitreden, doch vorläufig gibt es keine Aussicht, eine gemeinsame Linie der V4 zu entwickeln und dieser Resonanz in anderen europäischen Regionen zu verschaffen. Die ungarische Politik in der Visegrád-Gruppe ist spezifisch und auf das nationale Interesse orientiert. Doch damit entfernt sie sich immer weiter von den übrigen Ländern, besonders der Slowakei und sicher auch Tschechiens, wie die dortigen Wahlergebnisse erkennen lassen. Die bevorstehenden Monate dürften sicherlich etliche interessante politische und ideologische Auseinandersetzungen bringen, ganz in Abhängigkeit vom Ausgang der Wahlen in den einzelnen Ländern.

 

Aus dem Polnischen von Andreas R. Hofmann

Dieser Beitrag erschien in der aktuellen Ausgabe unseres Deutsch-Polnischen Magazins DIALOG

 

 

Dominik Héjj

Dominik Héjj

Dominik Héjj ist promovierter Politikwissenschaftler und Chefredakteur des Portals www.kropka.hu, das sich mit ungarischer Politik befasst.

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