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Vom Aufstieg und Niedergang der Weltreiche

DIALOG-Gespräch mit dem britischen Historiker Dominic Lieven

 

Jan Tokarski: Ihr Buch „Towards the Flame. Empire, War and the End of Tsarist Russia“ (2015) handelt von den ersten beiden Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts. Wie jedes wirklich gute historische Werk erzählt Ihr Buch nicht allein von den Ereignissen, sondern zeigt die umfassenderen, allgemeineren Zusammenhänge, die damals die Beziehungen zwischen den Ländern bestimmten. Herr Professor Lieven, Sie entwerfen das Bild eines Russlands, das auf den Krieg zustrebt, zugleich aber zuschaut, wie die internationale Ordnung erodiert, die schließlich vom Ersten Weltkrieg hinweggefegt wurde. War der Kriegsausbruch 1914 unvermeidlich?

Dominic Lieven: Der Ausbruch des Ersten Weltkrieges war nicht unvermeidlich, er passierte auch nicht zufällig. Die große Ironie des Konflikts bestand darin, dass der Krieg, dem die Rivalität zwischen den deutschen Reichen der Hohenzollern und Habsburger und dem Russländischen Reich zugrunde lag, alle drei Imperien in die Niederlage führte. Der Frieden von Versailles wurde ohne die Teilnahme Deutschlands und Russlands und gegen Deutschland und Russland geschlossen. Daher war die Architektur der neuen Ordnung von Anfang an brüchig. In diesem Sinne führte das Ende des Ersten Weltkrieges zwar nicht auf geradem Wege zum Zweiten Weltkrieg, doch machte es diesen zumindest sehr wahrscheinlich.

Was hat dann bloß dieses präzedenzlose Versagen der europäischen Politik ausgelöst? Hat der Niedergang der Imperien oder ihr strategischer Rückzug leere Räume hinterlassen, um die neue Mächte konkurrieren würden?

Ganz allgemein gesprochen, war das 19. Jahrhundert eine Epoche der Imperien. Nur eine solche politische Entität war aufgrund ihrer ungeheuren Rohstoffvorkommen und ihrer überlegenen militärischen Macht in der Lage, den Gang der Ereignisse zu diktieren und anderen während der ersten, damals vor sich gehenden Phase der Globalisierung die eigene Ordnung aufzuzwingen. Gleichzeitig war das wirksamste Instrument der inneren Konsolidierung von Staaten, der Legitimierung von Herrschaft und der diese ausübenden Eliten damals schon die Nation. Daher war meiner Auffassung nach das angespannte Verhältnis zwischen Imperium und Nation derjenige Faktor, der zum Zerfall der damaligen politischen Ordnung führte. Dieser Prozess war allerdings ausgesprochen komplex; er lässt sich nicht in die einfache Formel zwängen: „Die Imperien befanden sich in Stadium des Zerfalls, während die Nationen stärker wurden.“ Das traf zwar manchmal zu, trotzdem ist der Vorgang damit noch nicht hinreichend erklärt.

Lassen Sie uns einmal einen Blick auf unsere eigene Zeit werfen. Worin besteht Europas gegenwärtig schwierigstes Problem? Wenn es den Europäern nicht gelingt, irgendwie gemeinsam die Potentiale des gesamten Kontinents zu nutzen und eine Formel für erfolgreiches Regieren zu finden (die damit ebenso eine Legitimierung der Regierung einschließt), dann besteht ein beträchtliches Risiko für Europa, in der Weltpolitik in eine Randlage zu geraten. Fragen wie der Klimawandel werden ungeheuren Einfluss auf die Situation unseres Kontinents haben, besonders, wenn wir in Rechnung stellen, welches die möglichen Szenarien für Afrika sind. Weitreichende klimatische Veränderungen könnten dort dazu führen, dass die jüngste Migrationskrise sich nur als Vorbote dessen entpuppen wird, was uns noch erwartet. Deshalb liegt nationsübergreifende Gemeinschaft weiter im wohlverstandenen Interesse Europas. Bloß wie lässt sich das dort verständlich machen, wo die ethnisch-sprachliche nationale Gemeinschaft erdacht wurde? Diese Idee ist stets durch Partikularismus geprägt, der sich mit einem Gefühl der Nationalgrenzen überschreitenden Einheit nicht in Einklang bringen lässt. Und nichts weist darauf hin, dass sich diese Lage der Dinge ganz plötzlich ändern könnte. Ich möchte diese Zusammenhänge nicht mittels des marxistischen Begriffs der „Widersprüche“ beschreiben, doch sicher geht es hier um ein starkes Spannungsverhältnis.

Wenn wir uns einmal die heutige Lage aus der Sicht von China anschauen – ich verbringe viel Zeit gerade in Ostasien –, dann lässt sich sagen, wir haben es mit einem analogen Dilemma zu tun wie dem von 1914, nur eben von der anderen Seite her gesehen. Die Intellektuellen, die sich vor mehr als einhundert Jahren mit weltpolitischen Problemen befassten, lagen keineswegs alle völlig daneben. Weshalb sehen wir heute in China, den Vereinigten Staaten und möglicherweise auch in Indien die wichtigsten Akteure der zukünftigen Weltordnung? Vor allem, weil wir wissen: Unter ihrer Kontrolle befinden sich ungeheure Ressourcen. Daher sollte an eine unangenehme Wahrheit erinnert werden. Es ist nämlich naturgemäß sehr schwierig, Weltreiche zu lenken: Weil sie so weitgespannt, kompliziert und in sich vielgestaltig sind. In früheren Zeiten, ich denke dabei an das 18. Jahrhundert und die vorangegangenen Jahrhunderte, mussten die Regierungen lediglich die damaligen Eliten wirklich berücksichtigen. Das war höchstens ein Prozent der gesamten Gesellschaft. Heute ist es viel schwieriger, ein Weltreich zu beherrschen. Gleichwohl wird von den genannten Staaten abhängen, wie die vor unseren Augen entstehende internationale Ordnung aussehen wird. Wenn uns eine Krise ähnlich derjenigen des Juli 1914 bevorstünde, was mir mit Blick auf Ostasien durchaus möglich erscheint, sehen sich die Staatenlenker ähnlich wie vor hundert Jahren mit einer Verlaufslogik konfrontiert und mit einer ungeheuer großen Verantwortung, sich für oder gegen aktive Maßnahmen zu entscheiden. Eines erscheint mir in diesem Zusammenhang äußerst wichtig: Die Staats- und Regierungschefs sind heute ganz gewiss nicht intelligenter oder anständiger als ihre Vorläufer von 1914. Das macht einen nicht gerade optimistisch.

Sie haben erwähnt, die europäischen Nationen müssten gemeinsam handeln, ein wenig wie ein Imperium, um den Herausforderungen der heutigen Welt zu begegnen. Meines Erachtens weckt diese Sichtweise bei den Europäern ärgste Befürchtungen; läuft sie nicht auf etwas hinaus, was wir lieber mit aller Gewalt vermeiden würden?

Mir fällt dazu augenblicklich Deutschland ein, die von der Natur vorgegebene europäische Führungsmacht des 20. Jahrhunderts. Anscheinend haben die Deutschen mehr als andere Nationen mit den Sünden ihrer Vergangenheit abgerechnet. Wobei zuzufügen ist, dass ihre Sünden größer waren als diejenigen irgendeiner anderen europäischen Nation. Damit stellt sich aber auch die Frage, welche Schlussfolgerung Berlin aus dieser historischen Überlegung ziehen muss. Sie läuft auf den tiefsitzenden Widerwillen der Deutschen hinaus, auf der internationalen Arena die Rolle eines entschlossenen Anführers zu übernehmen.

© Zygmunt Januszewski

Um auf Ihre Frage zurückzukommen, gebe ich offen zu: Sie haben recht, wir stehen vor einer großen Herausforderung. Ich fürchte, selbst in unseren Zeiten würde das protestantische Nordeuropa es nicht eilig haben, dem katholischen Südeuropa im Krisenfall Hilfe zu leisten. Insbesondere im Falle einer Flüchtlingswelle aus Afrika, die noch größer ausfiele als die von 2015. Außerdem lehnen offenbar nicht nur die Deutschen, sondern eigentlich alle europäischen Nationen es ab, gewisse Bestandteile der Logik imperialen Handelns zu akzeptieren, wie sie erforderlich sind, um solchen Krisen erfolgreich zu begegnen. Ich möchte trotzdem nicht ganz wie ein Pessimist klingen. Zum Glück besitzen politische Systeme die Fähigkeit, sich zu erneuern, die sich schon des Öfteren immer dann besonders bewiesen hat, wenn es galt, auf eine unerwartete Herausforderung zu reagieren. Selbst wenn Europa heute keine gute Antwort auf solche Probleme hat, dann gilt das bei genauer Betrachtung weltweit auch für andere Akteure.

Sie legen in Ihrem Buch dar, wie das System der Mächtebalance 1914 zerfiel. Dies war die Schlussetappe eines langen Prozesses, der bereits Ende des 19. Jahrhunderts begonnen hatte, ein Prozess der allmählichen Bildung zweier geschlossener geopolitischer Blöcke. In unserer Zeit sind wir ebenfalls Zeugen tektonischer Verschiebungen der Weltordnung, vor allem beobachten wir eine sukzessive Schwächung der Dominanz des Westens. Immer klarer bildet sich eine neue, multipolare Ordnung heraus, hauptsächlich unter dem Einfluss der ostasiatischen Mächte, allen voran Chinas. Wie nehmen Sie diesen Umbruch wahr?

Das 1815 geschaffene europäische System des Gleichgewichts der Mächte wurde zuerst von der industriellen Revolution beschädigt, genauer genommen, von deren Übertragung von West- nach Osteuropa. Diese Übertragung geschah schrittweise über das gesamte 19. Jahrhundert hinweg. Im Ergebnis trat die industrielle Revolution Anfang des 20. Jahrhunderts am deutlichsten in Russland in Erscheinung, das den größten Gewinn daraus bezog. Eingedenk der Tatsache, dass Russland damals das Gebiet von so ziemlich ganz Osteuropa bis zum Pazifik unter seiner Kontrolle hatte, war die Einschätzung völlig berechtigt, es werde mit der Zeit zur einzigen europäischen Supermacht aufsteigen. Ganz einfach gesagt, war Russland offenbar das einzige europäische Land, das in der Lage war, ein so weitgespanntes Imperium aufrechtzuerhalten.

Womit wir es heute zu tun haben, erinnert in gewissem Sinne an die Lage im 19. Jahrhundert. So, wie die industrielle Revolution nichts besonders Englisches an sich hatte, hat die aktuelle Phase der Globalisierung nichts besonders Westliches an sich. Daher ist es nicht zu verwundern, dass zum Beispiel Japan es geschafft hat, sich die europäische Moderne erfolgreich anzueignen. In vieler Hinsicht erinnert Japan stark an Europa. Aber ganz wie im 19. Jahrhundert verlagert sich der Schwerpunkt des Wandels von der Insel auf den Kontinent, damals von Großbritannien nach Osten, heute von Japan in Richtung China und Kontinentalasien. Ein wichtiger Unterschied sollte dabei nicht übersehen werden. Im Falle Ostasiens schlägt, anders als in Europa, die postindustrielle Wirtschaftsrevolution Wurzeln in einem Land, das nicht allein in Bezug auf seine Einwohnerzahl das größte ist, sondern überdies die am weitesten zurückreichende imperiale Tradition besitzt.

Es ist unschwer vorauszusagen, dass daraus mehr oder minder gefährliche Turbulenzen entstehen werden. Bereits der historische Vergleich sollte Anlass zu einer gewissen Besorgnis geben. Wenn die in erheblichem Maß von den Engländern dominierte politische Ordnung von vor 1914 nicht in der Lage war, einen liberalen und europäischen Staat wie Deutschland zu integrieren, stehen die Chancen schlecht, China in das heutige System zu integrieren, ein Land, das wegen seiner Größe und seiner über Jahrhunderte zurückreichenden Tradition einzigartig ist. Außerdem sollten wir noch weitere, heute wichtige Aspekte berücksichtigen, etwa die Entwicklung der Technologie. Vor 1914 ermöglichte die Technologie den damaligen Mächten, in Gebiete vorzustoßen, für die sich bis dato zum einen niemand wirklich interessiert hatte, und zum anderen, diese in Konkurrenzobjekte zu verwandeln. Das geschah vor allem mittels der Eisenbahn, die das Schwungrad der imperialen Entwicklung war und den Imperien erlaubte, bis ins Innerste der Kontinente vorzustoßen, sie zu unterwerfen und auszubeuten. Heute spielt sich eine ähnliche Konkurrenz auf dem Grund der Meere und Ozeane ab, aber auch im Weltraum. Es bestehen zudem Analogien zwischen dem Deutschland des frühen 20. Jahrhunderts und dem heutigen China; gemeinsam ist ihnen vor allem ein autoritäres System, das die Ideologie des Nationalismus als zuverlässigstes Legitimierungsinstrument verwendet; auch ist in beiden Fällen anzuerkennen, wie schwierig die Bestie zu zähmen ist, ist sie erst einmal auf diese Weise geboren.

Doch werfen wir einen Blick auf die Sachverhalte, bei denen eine optimistischere Sichtweise gestattet ist. Das wilhelminische Deutschland entschloss sich zum Krieg, weil es meinte, die Zukunft werde Russland gehören. Offenbar ist die heutige Führung Chinas dagegen überzeugt, die Zukunft sei ihr schon sicher. Wenn es jemandem so scheint, als ob er die Welt erben werde, wird er sie nicht in die Luft jagen. Das ändert nichts daran, dass immer noch weiter Raum für fehlerhaftes Kalkül und ganz profane Irrtümer vorhanden ist; es sei nur an Taiwan erinnert.

Ferner ist es wichtig, dass die internationalen Beziehungen heutzutage unter dem Einfluss von etwas stehen, was es vor einem Jahrhundert noch gar nicht gab, nämlich der ökologischen Krise. Änderungen im Zugriff auf natürliche Ressourcen bildeten immer schon eine Ursache politischer Spannungen. Was wird geschehen, wenn in China und in Indien zeitgleich Wassermangel eintritt? Die Chinesen treffen jetzt schon Maßnahmen, gegebenenfalls Dämme zu bauen oder einige Flüsse umzuleiten, die jetzt noch das nördliche Indien oder andere Gebiete von Südostasien mit Wasser versorgen. Die ersten Folgen dieses Wandels werden sich sehr bald zeigen. Europa wird vielleicht mit demselben Problem in Gestalt von drei Milliarden Afrikanern zu tun bekommen, die versuchen werden, ihrem Kontinent zu entfliehen, der wegen der Trockenheit mit der Zeit unbewohnbar werden mag, also aus Wassermangel. Mit einigen dieser Probleme hatten wir schon vor 1914 zu tun, mit anderen nicht. Mit etwas Glück werden die Probleme nicht allesamt gleichzeitig auf uns einstürzen.

Diese globale Verschiebung ist außerdem von der anderen Seite her zu erkennen – aus chinesischer Sicht. Noch bis vor kurzem setzte Peking unnachgiebig die von Deng Xiaoping formulierte „Doktrin der 24 Zeichen“ um, die auf den diskreten, aber konsequenten Aufbau der eigenen Macht hinausläuft, ohne groß die Muskeln spielen zu lassen. Unter der Herrschaft von Xi Jinping hat sich das geändert. China merkte, dass seine Zeit gekommen war, und wünschte, alle internationalen Akteure mögen es als Weltmacht anerkennen. Ist diese große Rückkehr des Reichs der Mitte auf die internationale Bühne nicht das Ergebnis innerer Anspannungen, gleichsam der Versuch einer Flucht nach vorn? In Ihrem Buch schreiben Sie, das heutige China habe mehr gemeinsam mit dem zarischen Russland als mit dem Deutschen Reich von vor 1914.

Die wichtigste und auch offenkundigste Ähnlichkeit zwischen dem heutigen China und dem damaligen Russland besteht in den Herausforderungen, die sich damals wie heute vor jedem der beiden Staaten auftürmen. Eine politische Einheit derartig riesenhafter Ausmaße zu leiten, ist ein wahrer Albtraum. Beide Länder fürchteten beziehungsweise fürchten mangelnde Stabilität im Innern, nähren aber zugleich die Überzeugung, die Zukunft gehöre ihnen. Selbstverständlich bestehen auch wichtige Unterschiede.

Von außen betrachtet, macht China den Eindruck, seiner selbst sehr sicher und gefährlich zu sein. Wenn jemand wie ich in Tokio lebt, ist eine solche Sichtweise vollauf gerechtfertigt. Ich habe zudem den Verdacht, Xi Jinping sieht diese Dinge ganz anders und nimmt eine fundamentale Bedrohung für die Stabilität des chinesischen politischen Systems wahr, teils gestützt auf historische Erfahrungen.

Der unvermeidliche Wuchs und anschließende Niedergang des dynastischen Imperiums liegt seit sehr langer Zeit chinesischen weltpolitischen Konzeptionen zugrunde. Die Geschichte scheint diese Auffassung empirisch zu bestätigen. Die chinesische Führung ist geradezu vom Zerfall der Sowjetunion besessen. Sie sieht sich diesen historischen Fall sehr genau an – vor allem, um es den sowjetischen Genossen nicht gleichzutun. Und das bedeutet, sie werden ganz sicher nicht auf Leute vom Schlage eines Michail Gorbatschow hören, die versuchen, alle davon zu überzeugen, Liberalismus lasse sich mit traditionellem Autoritarismus und dem Fortbestand des Imperiums vereinbaren.

Noch eine weitere Parallele zwischen der heutigen Zeit und damals erscheint mir sehr bezeichnend. 1917 betraten die Vereinigten Staaten mit Aplomb als neuer großer Akteur die internationale Bühne. Washington wollte von Anfang an nicht einfach eine weitere von vielen Großmächten sein, sondern hatte den Ehrgeiz, neue Regeln aufzustellen, welche die internationale Politik beherrschen sollten. US-Präsident Woodrow Wilson wünschte nicht nur einen stabilen Frieden, sondern auch die Setzung von Prinzipien, die alle Akteure der internationalen Politik verpflichten sollten und sich mit einem grundlegenden Gerechtigkeitsgefühl vereinbaren ließen. Das Jahr 1917 war also der Schlüsselmoment, in dem die Vereinigten Staaten ihren gewohnten Isolationismus aufgaben und in die Rolle einer Weltmacht traten. Beobachten wir heute nicht etwa den umgekehrten Vorgang? Macht sich nicht nach einem Jahrhundert der mehr oder minder aktiven internationalen Politik in den USA erneut die Versuchung bemerkbar, sich zurückzuziehen, sich nach außen abzuriegeln und ganz auf sich selbst zu konzentrieren?

In gewissem Sinne ja, aber mir will scheinen, hier geht es um mehr. Das Problem mit dem Eintritt der Vereinigten Staaten in den Ersten Weltkrieg bestand darin, dass ihr Einsatz zunächst den Krieg zugunsten der Alliierten entscheiden und einen Frieden vorgeben konnte; anschließend kehrte Washington jedoch zu seinem traditionellen Isolationismus zurück. Damit wurden der Versailler Ordnung die Fundamente entzogen, was, wie wir nur zu gut wissen, auf lange Sicht verheerende Folgen hatte.

Nachdem es die Westeuropäer zum zweiten Mal zugelassen hatten, den gesamten Kontinent in einen chaotischen Krieg zu stürzen, kamen die Amerikaner zurück und retteten ihnen die Haut. In sehr prinzipieller Weise garantierten die Vereinigten Staaten seither die europäische Sicherheit. Die Amerikaner übernahmen es, sich allen wichtigen weltpolitischen Herausforderungen zu stellen, sie gaben in den internationalen Beziehungen den Ton an. Das ändert sich jetzt. Die amerikanische Macht, die vor 75 Jahren die liberale Demokratie rettete, tritt offenbar in eine Phase des Niedergangs ein, sie ist im Innern erschüttert. Wir sollten darüber aber nicht in rigiden Determinismus verfallen. Die Amerikaner haben schon mehr als einmal eine großartige Fähigkeit bewiesen, sich selbst neu zu erfinden. Es ist trotzdem nicht zu übersehen, mit welchen erheblichen Problemen sie kämpfen. Ein ganz besonders wichtiges, doch nicht ausschließlich amerikanisches Problem ist das Auseinanderfallen von liberaler Demokratie und globalem Kapitalismus. Diese beiden Kräfte lebten mindestens seit dem Ersten Weltkrieg miteinander unter anderem deshalb in verhältnismäßiger Eintracht, weil die sogenannte Erste Welt den größten Nutzen aus der Globalisierung bezog, während die Dritte Welt die meisten der damit verbundenen Lasten zu tragen hatte. Die Verschiebung des weltweiten Kräftesystems bringt es mit sich, dass diese Kosten-Nutzen-Aufteilung immer weniger der Realität entspricht. In der Ersten Welt verlieren die Mittelschicht und die vormalige Arbeiterklasse ihre Stellung. London, um einmal vom Beispiel einer einzigen Stadt auszugehen, erinnert heute an eine weitläufige Enklave von Händlern, die engere Beziehungen zur Weltwirtschaft pflegen als zum englischen Hinterland.

Nicht weniger wichtig ist, dass in früheren Stadien der Globalisierung deren Opfer praktisch keine Stimme hatten. In unserer Welt ist ihre Stimme hingegen deutlich zu vernehmen, etwa, wenn sie sich gegen die Eliten oder die Immigranten ausspricht. Selbst wenn uns das nicht gefällt, müssen wir nun begreifen, woher das kommt. Wenn man in Cambridge wohnt, sind zwei von drei Taxifahrern asiatischer Herkunft. Wenn wir diese Tatsachen berücksichtigen, ist es leicht zu verstehen, wieso Einwanderer aus anderen Ländern beispielsweise von den Taxifahrern nicht mit offenen Armen aufgenommen werden. Dabei geht es nicht allein darum, die teurere Arbeitskraft durch billigere zu ersetzen. Das Problem reicht sehr viel tiefer und betrifft nicht nur die industrielle Produktion, in der Automatisierung und Internationalisierung in gleichem Maße voranschreiten. Die Stimmabgabe für den Brexit kommt mir wie eine nicht sonderlich kluge Reaktion auf diese Problemlage vor, doch lässt sich nachvollziehen, welche Denkweisen und Gefühle dahinterstecken. Um es ganz knapp zu sagen, es spricht vieles dafür, dass die etwa seit 250 Jahren andauernde Dominanz des angloamerikanischen Westens ihrem Ende entgegenschreitet. Derartig umfassende Umgestaltungen verlaufen selten ohne Konflikte.

Wenn wir schon einmal beim Brexit sind: Das Motto der Kampagne für das Verlassen der Europäischen Union lautete: „Take back control“. Anscheinend erfasst diese lapidare Formel ganz gut das, was im Gemüt vieler Bewohner des Westens im Verlauf der letzten zehn oder fünfzehn Jahre vor sich gegangen ist. Ich denke an das Gefühl, meine Wahlstimme hätte im Grunde keine Bedeutung, weil ich nur die Wahl zwischen zwei sich kaum voneinander unterscheidenden Varianten derselben Sache habe. Wenn solche Denkweisen sich verbreiten, dann ist es verlockend, gleich das ganze System zum Einsturz zu bringen. Nach dem Prinzip: „Lasst uns alles einreißen, und anschließend werden wir schon sehen, was wird.“

Ja doch, das alles kommt daher, dass anscheinend der Kapitalismus stärker ist als die Demokratie – zumindest der globale Kapitalismus. Diese ungleiche Verteilung der Kräfte hat allerdings schwerwiegende Konsequenzen für das System, in dem wir leben. In welchem Umfang der Kapitalismus die Politik beeinflusst, war schon vor einem Jahrhundert deutlich zu erkennen und führte übrigens schon damals zu unterschiedlichen Konflikten. Hier sei allein auf das Beispiel der ethnischen Grenzen in Österreich-Ungarn verwiesen. Um 1840 gehörten dem Stadtrat von Prag fast ausschließlich Stadtverordnete deutscher Herkunft an. Fünfzig Jahre später gab es in demselben Gremium keinen einzigen Deutschen mehr. Dabei sollte eines nicht vergessen werden: Die österreichische Obrigkeit wurde vor 1914 mit den Spannungen in der Bevölkerung des Reiches sehr viel besser fertig als die Briten in derselben Zeit; sicher auch besser, als irgendjemand sonst. Wieso? Aus einem einfachen Grund. Die Anspannungen zwischen den einzelnen ethnischen Gruppen waren in Österreich-Ungarn täglich Brot. Dagegen war im Falle Großbritanniens zum Beispiel das Irlandproblem etwas völlig Unerhörtes und Einzigartiges.

Wenn man heute in Europa schon vergessen hat, was in den internationalen Beziehungen Macht bedeutet, dann ist doch Putins Russland ganz bestimmt noch ein Land, welches das ganz genau weiß. Ich bitte um Entschuldigung, sollte meine Frage ein wenig nach polnischer geopolitischer Hypersensibilität klingen: Wie sehen Sie die imperiale Tradition Russlands? Viele Historiker und Kommentatoren meinen, der Imperialismus bilde gewissermaßen den Kern der russischen Identität. Großbritannien besaß ein Imperium, Russland war eines.

In vielerlei Hinsicht scheint mir diese Auffassung zuzutreffen. Ich betone aber, es ist leichter, die Unterscheidung zwischen nationaler und imperialer Identität beizubehalten, wenn das Imperium sich von der Metropole weit entfernt befindet, also paradoxerweise weit vom eigenen Zentrum. Doch auch dann werden sich die Probleme unvermeidlich akkumulieren. Einer der weniger beachteten Gründe für den Brexit ist die unzweifelhafte Nostalgie für das vormalige Empire und die Arroganz, die eine solche Mentalität charakterisiert.

Dies verhält sich im Falle der großen kontinentalen Imperien anders. Bei diesen ist die Trennlinie zwischen nationaler und imperialer Identität sehr viel unklarer. Das ist nicht nur am Beispiel Russlands deutlich zu erkennen, sondern genauso Chinas. Das Reich der Mitte, wie wir es heute kennen, unterscheidet sich diametral vom alten China der Song- oder Ming-Dynastie. Das war ein imperiales China, das durch die Eroberungszüge der Qing-Dynastie geschaffen worden war. Die riesigen Gebiete des islamischen Zentralasien, das heutige Xinjiang, wurden 250 Jahre nach der Ankunft der Spanier in Mittel- und Südamerika annektiert. Gleichwohl sind wir es gewohnt, bei China an ein „ewiges“ Imperium zu denken. Immerhin sollten wir derartige Fragen berücksichtigen, wenn wir uns Gedanken zum Problem der russischen Identität machen.

Das Imperium bildet ein äußerst wichtiges Element der russischen Tradition und Identität. Noch heute ist es eng verknüpft mit dem (historisch begriffenen) Ausschließungskomplex, mit dem Gefühl, vom aufgeklärten Europa verachtet zu werden, also mit der Vorstellung, Russland sei kein vollberechtigtes Mitglied der europäischen Zivilisation. Die Macht bildet ein Gegengewicht gegen diesen Minderwertigkeitskomplex. Das geht mit einer simplen Überzeugung einher: Der Westen wird uns nur dann wertschätzen, wenn er sich vor uns fürchtet. Diese Denkweise wurde von den Vorgängen der 1990er Jahre sehr bestärkt. Mir ist klar, warum meine Einschätzungen in den Ohren vieler wie eine Rechtfertigung klingen, es lohnt sich dennoch, diesen bei den Russen verbreiteten Standpunkt nachzuvollziehen. Der Fall der Sowjetunion war für sie das, was für viele Briten hypothetisch der Zerfall des britischen Empire in den 1930er Jahren gewesen wäre, als die britische Herrschaft über die Welt noch als Teil einer unveränderlichen Weltordnung galt. Man muss sich vorstellen, Schottland und Wales wären gleichzeitig befreit worden (wobei das natürlich ein unzulänglicher Vergleich ist, weil die Wurzeln des britischen Christentums nicht nach Edinburgh reichen, die des russischen dagegen sehr wohl nach Kiew). Dazu träte noch die Zerschlagung der konstitutionellen Monarchie und des parlamentarischen Systems hinzu, wie sie dem Zerfall der kommunistischen Partei und des gesamten Herrschaftssystems der UdSSR gleichkäme. Schließlich noch Rezession und Massenarbeitslosigkeit, in vieler Hinsicht schlimmer als das, was bei uns in den 1930er Jahren passierte. So sollte es niemanden wundern, dass eine solche Krise heute in Russland ihren Niederschlag in einem nationalistischen Schluckauf und in Nostalgie für die alte Macht des Imperiums findet.

Wir sprachen vom Fall der Weltreiche und der Erosion der internationalen Ordnung. Zum Schluss möchte ich Sie daher gerne nach der Kehrseite dieser Geschichte fragen: Nach dem Aufkommen der großen Mächte. Wie entstehen sie? Und unter welchen Bedingungen kann sich das, was anscheinend zerfällt, erneuern?

Die Antwort auf diese Frage würde ein gesondertes Gespräch erfordern. In den internationalen Beziehungen ist Macht nämlich stets ein relativer Begriff. Das Aufkommen neuer Imperien geht einher mit der Schwächung der alten Imperien. So oder so weiß ich aus der Geschichte, das Imperien, die Parolen irgendeiner universalen Religion oder einer höheren zivilisatorischen Form auf ihren Fahnen führten, sehr viel länger überdauern können als diejenigen, die sich auf nackte Gewalt und eine Ökonomie von Brot und Spielen stützten.

 

Aus dem Polnischen von Andreas R. Hofmann


Dominic Lieven ist britischer Historiker. Für seine Untersuchung Russia Against Napoleon wurde er 2009 mit dem Wolfson History Prize ausgezeichnet.

 


 

Jan Tokarski ist Philosoph und Ideenhistoriker. Er ist Redaktionsmitglied der Vierteljahreszeitschrift Kronos und des Przegląd Polityczny. 

 

 

 

Das Gespräch erschien in Ausgabe Nr. 134 des Deutsch-Polnischen Magazins DIALOG

 

 

 

 

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