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Der Kreis schließt sich. Lehren aus historischen Revolutionen für die Zeit neuer Umbrüche

Mythenbildung und Manipulationen haben wieder Konjunktur. Kaczyńskis und Orbáns nationalistischer Populismus weckt im Westen alte Vorurteile gegenüber dem Osten. In der Mitte Europas verorten wieder viele eine „natürliche Grenze liberaler Demokratie“. Rechte Populisten verdammen die europäische Integration als einen Angriff auf den Nationalstaat. „Prezes“ Kaczyński verdächtigt die neue Bundesregierung, eigene Föderalismusvorstellungen in Europa durchsetzen zu wollen und damit ein „Viertes Reich“ zu gründen. Putin wiederum hat es geschafft, in den Köpfen vieler seiner Landsleute und anderer Europäer, den Mythos eines durch NATO- und EU-Osterweiterung betrogenen Staates zu etablieren. Distanz, Misstrauen, diplomatische Kälte dominieren.

Der besonnene Rückgriff auf europäische Erfahrungen, die uns zusammenführen und uns das Gefühl der kulturellen Nähe vermitteln, liegt heute nicht im Trend. Bedeutende europäische Jahrestage rauschen in diesen dramatischen Pandemiezeiten an uns unreflektiert vorbei. Der Schutz der eigenen Gesundheit, die Angst vor den gefährlichen Folgen der Pandemie lenken unsere Aufmerksamkeit auf jetzt und morgen. Die Zukunftsperspektive wird nicht mit einer Bilanz der Vergangenheit verknüpft.

30 Jahre deutsche Einheit, 30 Jahre deutsch-polnischer Nachbarschaftsvertrag, 30 Jahre Zusammenbruch der Sowjetunion, 40 Jahre Solidarność, 40 Jahre Kriegsrecht in Polen. Alle diese Jahrestage, Gründungsdaten unserer Demokratien in Mitteleuropa sind unreflektiert abgehakt worden.

Was nützt uns der Rückblick angesichts der globalen Zugluft, die durch Coronaviren, digitale Informationsinflation und die erdrückende Notwendigkeit einer revolutionären Klimapolitik verstärkt wird? Viel ist in dieser Zeit von Impfungen, gesundheitlicher Vorsorge die Rede. Der kritische Blick in die europäische Vergangenheit kann Europa vor nationalistischen, gewaltsamen Rückfällen schützen, kann quasi als eine antipopulistische Impfung wirken.

Lektionen aus Europas Geschichte

Historische Erfahrungen lassen sich nicht leicht auf die Zukunft übertragen, aber sie können uns Orientierung geben, betont der amerikanische Historiker Timothy Snyder. Geschichte wiederhole sich nicht, aber sie erteile uns Lektionen. Diese zu erkennen, schütze unsere Demokratien vor autoritären Rückfällen, so Snyder.

Oft hatte ich in letzter Zeit den Eindruck, als wenn sich ein Kreis schließen würde. Unerledigte Lektionen kommen zurück, sie kehren mit neuen Fragen, neuen Aufgaben zu uns wieder. Ein Kreis schloss und öffnete sich drei Jahrzehnte nach der deutschen Einheit, als trotz ökonomischer Erfolge auf dem Gebiet der ehemaligen DDR eine kulturelle Kluft zwischen alten und neuen Bundesländern sichtbar wurde, vor allem nach den letzten Bundestagswahlen. Populisten wurden im Westen gestoppt, die AfD triumphierte aber im postkommunistischen Deutschland. Zwar steht die absolute Mehrheit der Ostdeutschen auf der Seite der Demokratie und eines europäischen Deutschlands, doch ist die Faszination für autoritäres und nationalistisches Denken in Teilen der Gesellschaft der neuen Bundesländer deutlich erkennbar. Antiwestliche Stimmung breitet sich aus, wird zu einer wichtigen geistigen Haltung. Eine parallele Entwicklung zum Nachbarland Polen wird erkennbar, wo in Warschau Anfang Dezember 2021 die Regierungspartei PiS die europäischen Rechtspopulisten versammelt hat, um eine nationalistische, fremdenfeindliche Internationale ins Leben zu rufen.

Die Nähe zu Putin unter Kaczyńskis Gästen, wie Marine le Pen oder Viktor Orbán, stört die polnische Regierungselite nicht. Die PiS wirft ihren politischen Gegnern oft mangelnden Patriotismus vor. Dabei handelt sie seit Jahren gegen polnische Interessen, gegen politische Traditionen, die Polens Souveränität sichern. Die patriotischen PiS-Politiker wollen die europäische Integration zurückfahren, setzen auf die alleinige Stärke von Nationalstaaten, am besten ethnisch homogener.

Die Politik der PiS stellt polnische Traditionen auf den Kopf. Polen ist erst durch Krieg, ethnische Säuberungen und Vertreibungen nach 1945 zu einem ethnisch homogenen Staat geworden. Vor 40 Jahren träumte die antikommunistische Opposition vom Rückgriff auf die Vorstellung von Polen als einer politischen Nation. Auf dem ersten Kongress der Solidarność im Herbst 1981 wurde die Bedeutung nationaler Minderheiten und der religiösen Vielfalt in Polens Nationalgeschichte hervorgehoben. Die Haltung war eine deutliche Kritik gegen den Nationalismus und Antisemitismus der kommunistischen Machthaber. Mit ihrer fremdenfeindlichen Politik wollten sich die Kommunisten die Unterstützung der Gesellschaft sichern. Die Solidarność wollte mit einem toleranten, multiethnischen Polen sich dieser aggressiven Politik widersetzen.

Ein weiteres wichtiges Thema für die Solidarność-Revolutionäre war die Frage der Sicherung nationaler Souveränität. Nicht in nationalen Alleingängen, vielmehr in einer vertieften europäischen Integration sah die demokratische Opposition die Chance ihrer Wiederherstellung. Lech Wałęsa und seine Weggefährten unterstützten die schnelle Vereinigung Deutschlands im Rahmen der damaligen EWG. Und Schutz sollte der jungen polnischen Demokratie nicht nur die NATO, sondern genauso die EU bieten. Der legendäre polnisch-amerikanische Politikexperte Zbigniew Brzeziński betonte, wie sehr die deutsch-polnische Aussöhnung und die bilaterale Interessengemeinschaft den Frieden in Europa festigten. Die politische Weitsicht einer anderen Legende polnischer Patrioten, des polnischen Exilpräsidenten Edward Raczyński, während des Zweiten Weltkrieges Polens Botschafter in Großbritannien, sollte nicht unerwähnt bleiben. Seine Biografie symbolisiert die polnisch-britische Allianz. Doch seine Haltung zu imperialen Alleingängen der Briten war sehr kritisch. Schade, dass Raczyńkis Analysen von den heutigen polnischen Brexit-Sympathisanten nicht berücksichtigt werden. 2013, nur ein paar Jahre vor dem Brexit-Referendum, veröffentlichten wir im DIALOG Nr. 105 einen autobiografischen Text von Polens Exil-Präsidenten über seine Zusammenarbeit mit Churchill und die Erfahrungen mit britischer Außenpolitik. Ein Bild voller Widersprüche – Bewunderung für den britischen Premierminister, aber auch eine deutliche Distanz zur europäischen Politik der Briten. Ein pragmatisches Bündnis ohne viel Vertrauen nicht nur aus der Kriegszeit. Polens Exilpräsident bezeichnete das Bündnis mit England als für die Briten „exotisch“, Mitteleuropa sei nichts anderes als ein Gebiet imperialer Einflusszonen. Einen grundlegenden positiven Wandel für die Polen-Frage versprach sich der polnische Patriot Raczyński nur von der „Vereinigung Europas“.

Diese historische Lehre missachtet die PiS-Regierung. Sie fürchtet, dass die Rechtsgrundlagen der EU, vor allem die europäischen Kontrollmechanismen ihren nationalistischen Staatsumbau behindern. Ein mentaler und rechtlicher Polexit wurde begonnen. Der Angriff auf die Rechtsgrundlagen der EU ist geradezu absurd, denn der jetzige Lissaboner Vertrag wurde 2007 von der ersten Regierung von Jarosław Kaczyński ausgehandelt, in der Zeit der Präsidentschaft seines Bruders Lech. Kritisch gegenüber der EU waren beide Politiker schon damals, aber sie schienen die grundlegende polnische Lektion zu beachten: Ein souveränes Polen ist nur in einem starken Europa möglich.

Einen eigenartigen Sinn für historisches Bewusstsein bewies jüngst Polens Regierung, als sie 40 Jahre nach der Einführung des Kriegsrechts durch General Jaruzelski einen Ausnahmezustand im Osten des Landes beschloss, um gegen Migranten vorzugehen. Durch brutale Pushbacks werden elementare, europäische Menschenrechte verletzt. Die Möglichkeit des Asyls wurde außer Kraft gesetzt, Migranten werden durch die Regierungspropaganda als Gefahr für die Sicherheit des Landes stigmatisiert. Medien und humanitären Organisationen wird der Zugang zur Grenze verwehrt. Groß ist die Angst in der Regierung vor menschlicher Solidarität der Polen mit den Migranten. Empathie für den anderen könnte entstehen, wenn objektiv über das Schicksal von Menschen berichtet wird. Deshalb verweigert die Regierung unabhängigen Medien den Zugang zum Grenzgebiet.

Europas demokratische Standards gefährden zudem westliche Politiker, die Polens Pushback-Strategie an der östlichen Grenze unterstützen, wie es Bundesinnenminister Horst Seehofer getan hat. Vor 40 Jahren sahen einige westliche Politiker, darunter deutsche Staatsmänner, in einer Politik, die Menschenrechte außer Kraft setzt, ein Vorgehen, das den Frieden in Europa gewährleistet. General Jaruzelski stilisierte sich zum Friedensretter, zum Patrioten, was einigen Politikern im Westen imponierte. Die öffentliche Debatte zum Kriegsrecht in Polen war im Westen gespalten: Angst um das Schicksal der 10.000 internierten Solidarność-Aktivisten, Solidarität mit Solidarność, doch ebenso ein Aufatmen nach dem militärischen Coup in Polen. Jaruzelski gelang es zwar, die Solidarność zu zerschlagen, dennoch konnte er die friedliche Revolution mit Gewalt nicht stoppen, den Wunsch nach Freiheit, Rechtsstaatlichkeit, Demokratie, Europa.

Europäische Revolutionen und ihre Folgen

Die europäische Revolution der Bürger umfasste vor drei Jahrzenten ganz Europa, sie endete aber nicht 1989, sondern setzte sich fort und führte vor genau 30 Jahren zu einer unvorstellbaren Entwicklung, dem Zusammenbruch der Sowjetunion im Dezember 1991. Nicht nur ökonomische und ökologische Krisen führten zum Niedergang des Sowjetimperiums. Stark war der Wunsch nach Unabhängigkeit von Moskau, nach der Schaffung unabhängiger Nationalstaatlichkeit. Denn nicht allein alte Nationalfragen brachen auf, wie die der baltischen Staaten, auch Kommunisten erkannten in der nationalen Dynamik die Chance zur politischen Erneuerung und Sicherung ihrer Macht. Ein gutes Beispiel hierfür ist die Ukraine. Parteichef Leonid Krawczuk bekämpfte zunächst die ukrainische Unabhängigkeitsbewegung, setzte sich aber schließlich 1991 an deren Spitze, wurde erster Präsident der Ukraine und war mit Boris Jelzin entscheidend an der Auflösung der Sowjetunion beteiligt.

Wie groß die Unterstützung für die Abspaltung von Moskau damals in der Ukraine war, zeigte das Ende 1991 in der Ukraine durchgeführte demokratische Unabhängigkeitsreferendum. Selbst in von Russen dominierten Gebieten, der Krim oder in Donezk, sprach sich die Mehrheit für einen unabhängigen ukrainischen Staat aus. Renommierte Sowjetexperten warnten schon in den 1990er Jahren, dass die Loslösung der Ukraine zu einem Problem für das nationale Selbstbewusstsein Russlands und damit für eine stabile Entwicklung in Europa werden könnte. Ukrainische Politiker nahmen die russischen Befindlichkeiten ernst und gingen auf Moskau zu. Die sowjetische Schwarzmeerflotte durfte in Krims Häfen stationieren. Die Ukraine verzichtete auf Atomwaffen. Im Gegenzug wurde der Ukraine die Nichtantastbarkeit ihrer Grenzen garantiert.

In den beiden Majdan-Revolutionen 2004 und 2014 bekräftigte die ukrainische Bevölkerung ihren Willen zur Schaffung eines demokratischen Staates, der sich dem Westen verbunden fühlt. Akteure der Majdan-Revolutionen waren einerseits ethnische Ukrainer, andererseits ukrainische Russen. Die Ukraine entwickelte sich zu einer politischen Nation, die sich Hochachtung und Akzeptanz bei russischen Demokraten erwarb. Die Strahlkraft der ukrainischen Demokratie wurde zunehmend eine Gefahr für Putin und auch Lukaschenka. Putin entwickelte sich im letzten Jahrzehnt von einem mit dem Westen flirtenden Autokraten zu einem neoimperialen Herrscher. Er nutzt Kriege aus (Syrien, Bergkarabach) und löst neue Kriege aus (Ukraine), um seine Macht zu sichern. Durch Destabilisierung internationaler Ordnungen steigert er Russlands außenpolitische Rolle. Durch Kriege legitimiert er seine autoritäre Politik, die Außerkraftsetzung von demokratischen Standards. Das dabei bestehende Gefühl von Russland als einer von Feinden umzingelten Festung verspricht nationale Einheit. Putins Russland stilisiert sich zum Opfer des Westens. Der Imperialismus, die Nostalgie nach historischer Größe soll von sozialen und ökonomischen Problemen im Land, insbesondere von der Korruption eigener Machteliten ablenken.

Gefährlich ist Putin, weil er nicht nur imperiale Propaganda betreibt, sondern seine Drohungen verwirklicht. Der Einmarsch in die Ukraine schien noch 2014 unvorstellbar, genauso wie gewaltsame Grenzveränderungen im postkommunistischen Europa. Heute ist es Realität. Gefährlich ist die Entwicklung im Osten des Kontinents nicht nur, weil sie wichtige internationale Vereinbarungen der Zeit nach 1991 bricht. Putin setzt vor allem auf die Zerstörung der politischen Einheit des Westens. Seine offenen Verbündeten sind die Gegner vertiefter europäischer Integration. „Die EU muss sterben, damit Europa leben kann“, so ein politischer Slogan eines jungen AfD-Aktivisten, mit dem sich viele Rechtspopulisten in Europa identifizieren.

Die wichtigste Aufgabe der neuen Bundesregierung ist es, gegen das Auseinanderdriften Europas vorzugehen. Orientierung kann dabei ein starkes historisches Bewusstsein geben. Welche Erfahrungen helfen? Ich will nur einige andeuten. Ein Gefühl der kulturellen Nähe zwischen den Nationen muss gestärkt werden. Daher reicht es nicht, wenn sich internationaler Dialog nur auf die Regierungsebene beschränkt. Der Dialog mit den Regierenden ist wichtig, doch sollten Brücken in die Gesellschaft geschlagen werden. Heutige gesellschaftliche Akteure sind Regierungspartner von morgen. Polens Zivilgesellschaft ist ein wichtiger Partner, um den Polexit und damit die Destabilisierung Europas aufzuhalten. Die Treue zu Erhaltung der universellen Menschenrechte sichert die Glaubwürdigkeit demokratischer Politiker. Kompromisse in diesem Bereich stärken autoritäre Politik. Jede Macht verschwindet irgendwann. Auch Putin werde irgendwann abtreten, betonte vor wenigen Tagen in Danzig Jan Raczyński, der Vorsitzende der russischen Menschenrechtsorganisation Memorial. Russland brauche keine aggressive imperiale Politik, um sich als Nation zu entwickeln, zu stärken, zu modernisieren. Russland brauche keine neuen Gebiete, es habe genug zu tun in der Weite der Russischen Föderation, beteuerte der russische Patriot und Bürgerrechtler Alexej Nawalny in einem Gespräch mit Adam Michnik und zollte dabei den ukrainischen Demokraten Respekt. Eine unabhängige, demokratische Ukraine ist Grundlage der nach 1991 entstandenen europäischen Friedensordnung.

 

Dieser Beitrag erschien zuerst in der Ausgabe Nr. 137 unseres Deutsch-Polnischen Magazins DIALOG

 

 

Basil Kerski

Basil Kerski

Basil Kerski ist Direktor des Europäischen Solidarność-Zentrums in Danzig, Chefredakteur des zweisprachigen Deutsch-Polnischen Magazins DIALOG und Vorstandsmitglied des polnischen PEN-Clubs. Er lebt in Danzig und Berlin.

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