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Ende der Illusionen

Nach dem russischen Angriff auf die Ukraine liegt die auf Dialog und Konfliktvermeidung eingestellte deutsche Russlandpolitik in Trümmern. In einer ausweglosen Lage hat Berlin in der Außen‑ und Sicherheitspolitik eine abrupte Kehrtwende vollzogen. Ist dies ein auf Dauer gestellter Einschnitt?

Anstelle einer Einleitung drei kurze Episoden. Moskau, Anfang Dezember 2006. Der deutsche Außenminister Frank-Walter Steinmeier ist zu einem kurzen Arbeitsbesuch gekommen. Auf dem Weg vom Flughafen ist die Autokolonne des Ministers und seiner Delegation im Stadtzentrum in einen Stau geraten. Ohne lang zu überlegen, steigt Steinmeier mitten auf der Straße aus dem Wagen und erklärt, ganz in der Nähe mit Ministerpräsident Dmitrij Medwedew verabredet zu sein. Der Minister verschwindet in der Menge und taucht erst Stunden später wieder im Hotel auf.

Am nächsten Tag spricht der SPD-Politiker, abgesehen von einem Routinetreffen mit seinem Amtskollegen Sergej Lawrow, im Kreml unter vier Augen mit Präsident Wladimir Putin. Nur wenige Außenminister konnten sich damals solch enger Kontakte mit der russischen Machtelite rühmen. Während des Rückflugs nach Berlin legt Steinmeier Deutschlands Rolle als Vermittler zwischen Russland und dem Westen dar.

Zweite Episode: Berlin, 25. Februar 2022. Steinmeier, seit fünf Jahren Bundespräsident, ergreift in seinem Amtssitz Schloss Bellevue erstmals nach dem von Putin befohlenen Angriff Russlands auf die Ukraine das Wort. Ohne seine Empörung zu verbergen, appelliert er an den russischen Präsidenten, die Invasion augenblicklich zu beenden: „Stoppen Sie den Wahnsinn dieses Krieges – jetzt!“ Putin habe „unter lügnerischen Vorwänden einen Angriffskrieg gegen die Ukraine entfesselt.“ Die Ukrainer erführen „Tod und Verwundung, Zerstörung, Vertreibung, vieltausendfaches Leid“. „Wir wollen keine Feindschaft mit dem russischen Volk. Im Gegenteil. Aber dieses Unrecht kann nicht ohne deutliche Antwort bleiben.“ Mit einer Warnung an den russischen Präsidenten sagt er, dieser solle „die Stärke der Demokratien nicht unterschätzen“. Nicht ganz zwei Wochen zuvor, nach seiner Wiederwahl für eine zweite Amtszeit, appellierte Steinmeier verzweifelt an Putin: „Lösen Sie die Schlinge um den Hals der Ukraine!“ Doch die Zeiten, in denen seine Stimme im Kreml etwas zählte, sind unwiederbringlich vorüber.

Dritte Episode: Bundestag, 27. Februar 2022. Die Körpersprache von Bundeskanzler Olaf Scholz drückt Zielgerichtetheit und Entschlossenheit aus. Der Überfall auf die Ukraine markiere „eine Zeitenwende in der Geschichte unseres Kontinents“. Er verurteilt Putin für die Zertrümmerung der europäischen Sicherheitsordnung und kündigt schwere Sanktionen an, Waffenlieferungen an die Ukraine und eine Verstärkung der Bundeswehr. Für den Dialog brauche es zwei Seiten, aber auf russischer Seite sei keine Gesprächsbereitschaft zu erkennen.

Die drei Episoden markieren drei Entwicklungsetappen des deutschen Verhältnisses zu Russland. Von Hoffnung oder geradezu Euphorie über Enttäuschung und Ratlosigkeit bis zur radikalen Kurskorrektur.

Deutschland als Vermittler

Nach dem Ende des Kalten Krieges und dem Zerfall der Sowjetunion erhielt das wiedervereinigte Deutschland unter der Führung von Bundeskanzler Helmut Kohl und seiner Nachfolger Gerhard Schröder und Angela Merkel im Verhältnis zu Russland einen Sonderstatus. So gab Berlin die Richtung der europäischen Russlandpolitik vor, wobei es sich selbst die Rolle eines Mediators zwischen Russland und dem Westen zusprach. Darüber hinaus hofften die wechselnden Bundesregierungen, sie würden im Rahmen der „Partnerschaft durch Modernisierung“ in der Lage sein, Russland näher an Europa und die Demokratie heranzuführen. Die USA, deren Augenmerk sich immer mehr auf China richtete, überließen Berlin die russlandpolitische Führungsrolle. Kein anderer westlicher Politiker sprach derart häufig mit Putin wie Merkel.

Das Berliner Axiom: Frieden und Sicherheit nicht ohne Russland

Zum Axiom der deutschen Außenpolitik wurde das von Politikern aller Richtungen wiederholte Mantra: „Sicherheit und Frieden in Europa sind möglich nur mit Russland, niemals gegen Russland.“

Diesem seinem Kurs folgend, initiierte Berlin den 1997 eingerichteten NATO-Russland-Rat und verhinderte gemeinsam mit Paris auf dem Bukarester NATO-Gipfel 2008 die Aufnahme der Ukraine in die Staatenassoziation „Partnerschaft für den Frieden“, was dem Land den Weg zur Aufnahme in das Verteidigungsbündnis eröffnet hätte. Russland hatte ferner Deutschland seine Aufnahme in die elitäre Gruppe der einflussreichsten Staaten zu verdanken, wodurch die G7 zu den G8 erweitert wurden.

Diese Russlandpolitik sei von den Nachfahren derjenigen Deutschen betrieben worden, die die Sowjetunion überfallen und gegen sie einen Vernichtungskrieg geführt hatten, wie es der Spiegel-Redakteur Tobias Rapp formuliert.

Putin brilliert im Bundestag

Zwanzig Jahre lang war für die deutschen Befürworter der Zusammenarbeit mit Russland der Auftritt Putins im Bundestag vom 25. September 2001, zwei Wochen nach dem Angriff islamistischer Terroristen auf das New Yorker World Trade Center, ständiger Orientierungspunkt. In seiner auf Deutsch („der Sprache Goethes, Schillers und Kants“) gehaltenen Rede sagte Putin, Europa könne ein starkes Zentrum der Weltpolitik werden, wenn es sein Potential mit den demographischen, territorialen und natürlichen Ressourcen Russlands und dessen wirtschaftlichem, kulturellen und militärischen Potential verbinde.

Die Gaspipeline Nord Stream wurde zum Grundstock der deutsch-russischen Zusammenarbeit. Die ersten beiden Abschnitte der Ostseepipeline wurden mit großem Pomp 2012 in Betrieb genommen. Jedes Jahr strömen durch diese Pipeline 55 Milliarden Kubikmeter Gas nach Deutschland. Warnungen vor einer zu starken Abhängigkeit Deutschlands vom russischen Gas schlugen deutsche Politiker mit positiven Beispielen aus der Vergangenheit in den Wind. Denn die energiewirtschaftliche Kooperation zwischen der Bundesrepublik und UdSSR geht bis in die frühen 1970er Jahre zurück. Westdeutsche Konzerne lieferten Stahlröhren in den Osten, die sowjetische Seite zahlte dafür mit Gas und Erdöl. Während des gesamten Kalten Krieges wagte es Moskau kein einziges Mal, diesen Handel als Druckmittel einzusetzen.

Trotz entgegenstehender Tatsachen verteidigte Bundeskanzlerin Merkel die Entscheidung, die nächsten beiden Pipelineabschnitte zu bauen, nämlich Nord Stream 2, mit der Behauptung, es handle sich dabei um ein reines Wirtschaftsprojekt. Erst gegen Ende ihrer letzten Amtszeit bekannte sie öffentlich, die Pipeline besitze auch geopolitische Bedeutung.

Putin, der „lupenreine Demokrat“?

Das Schuldgefühl wegen der in der UdSSR begangenen Kriegsverbrechen, das sich allerdings meist auf die russischen Opfer bezieht und Ukrainer und Belarusen ignoriert, die sentimentale Schwäche für die russische Kultur und Kunst sowie die Dankbarkeit für die Ermöglichung der deutschen Wiedervereinigung waren für viele Deutsche zusätzliche Faktoren, dem Putin-Regime nicht so genau auf die Finger zu schauen. Sehr charakteristisch für diese Einstellung war, wie Bundeskanzler Schröder nicht zurückschreckte, Putin einen „lupenreinen Demokraten“ zu nennen.

Merkel und Steinmeier seien weder naiv noch korrupt gewesen, wie Robin Alexander schreibt, stellvertretender Chefredakteur der „Welt“. Doch habe ihre Russlandpolitik mit dem Angriff Putins auf die Ukraine in einem historischen Fiasko geendet. Tobias Rapp vom „Spiegel“ spricht von Idealisierung Russlands und Verlogenheit.

Erst Putins Überfall auf die Ukraine und seine abfälligen Bemerkungen, die er sich bei der Gelegenheit über die Deutschen erlaubte, löste in der deutschen Politik eine Welle der Selbstkritik aus. „Wir waren zu leichtgläubig. Wir haben Putins Brutalität und Skrupellosigkeit unterschätzt,“ bekannte Christoph Heusgen, Angela Merkels außenpolitischer Chefberater. „Wer Oppositionsführer vergiftet, wer vor unseren Augen seinen Gegner ermordet, wer den Massenmörder Assad in Syrien unterstützt und erlaubt, dass russische Söldner in Afrika Tod und Verderben anrichten, der schreckt auch vor einem Angriff auf seine Nachbarn nicht zurück,“ sagte Heusgen in einem Interview für die „Bild“.

Verspätete Selbstkritik

„Ich bin mit mir selbst wütend, weil wir versagt haben. Nach Georgien, der Krim und dem Donbas haben wir nichts auf den Weg gebracht, um Putin tatsächlich abzuschrecken“, sagte die vormalige CDU-Chefin und Verteidigungsministerin Annegret Kramp-Karrenbauer. Auch Angela Merkel, die sonst öffentliche Auftritte vermeidet, ergriff das Wort: „Es gibt keine Rechtfertigung für einen solchen offenen Bruch des Völkerrechts, ich verurteile diesen auf das schärfste.“ Und selbst „Gospodin Schröder“, wie ihn ein Kommentator des „Tagesspiegel“ nannte, ließ sich herbei, seinen Freund Putin zu kritisieren. Der vormalige Kanzler antwortete jedoch nicht auf die Anfrage, ober er nicht seine lukrativen Positionen in russischen Energiekonzernen aufgeben wolle.

Die durch die Moskauer Unterstützung für die Separatisten im Donbas verursachte Krise in der Ukraine war ein Test, den das deutsch-russische Verhältnis nicht bestanden hat. Berlin bemühte sich lange um die Lösung des Konflikts im Donbas; erst im Dreieck mit Frankreich und Polen, seit Juni 2014 im Rahmen des Normandieformats mit Frankreich, der Ukraine und Russland. Dank des Engagements Merkels und Steinmeiers wurde im Februar 2015 nach sechzehnstündigen Verhandlungen in Minsk ein Abkommen geschlossen, dass eine kriegerische Eskalation verhinderte.

Die deutsche Politik gab sich jedoch bis zum letzten Augenblick der Illusion hin, sie könne Einfluss auf Putin nehmen und ihn von einem Angriff auf die Ukraine abhalten. Bundeskanzler Scholz und Außenministerin Annalena Baerbock sprachen Mitte Februar in Moskau mit Putin und Sergej Lawrow und erreichten die, wie sich herausstellte, falsche Zusicherung, es werde keinen Krieg geben.

Enttäuschte Sozialdemokraten

Das völlige Scheitern der Politik, Russland zu bezähmen, traf die Sozialdemokraten besonders schwer. Die SPD, bis heute stolz auf die unter dem Stichwort „Ostpolitik“ betriebene Entspannungspolitik Willy Brandts, versuchte die Konzeption einer „Neuen Ostpolitik“ durchzusetzen, ignorierte dabei aber den Umstand, dass die weltpolitische Situation sich grundsätzlich verändert hat. Im Gegensatz zur Lage im Kalten Krieg, als Moskau am Erhalt des Status quo interessiert war, strebt Putin die Veränderung der gegenwärtigen Kräfteverhältnisse an.

Er hat das langjährige Fundament der deutschen Russlandpolitik in einen Scherbenhaufen verwandelt. Diese ging davon aus, dass selbst in komplexen Streitfragen ein Kompromiss mit Moskau möglich sei, große Geduld vorausgesetzt, Verständnis für die Sichtweisen des Kreml und Vermeidung jeder Provokation, wie Berthold Kohler von der FAZ schreibt. Russland habe sich über Deutschland lustig gemacht, so meinte die ARD-Kommentatorin Tina Hassel.

Kehrtwende in der Russlandpolitik

Nach dem Scheitern der bisherigen, dialogbasierten Politik hat die Bundesregierung erstaunlich schnell eine Revision ihrer früheren Handlungsoptionen vollzogen. Scholz’ Rede vom Sonntag, den 27. Februar, auf einer Sondersitzung des Bundestags und die Diskussion über sein Exposé zeigten, dass ein gewaltiges Wachrütteln durch die deutsche politische Klasse gegangen ist.

Im Verlauf weniger Tage wurde möglich, was über Jahrzehnte als Tabu gegolten hatte: Harte Sanktionen, verbunden mit dem Ausschluss russischer Banken aus dem SWIFT-Finanzsystem, Lieferung von Waffen und militärischer Ausrüstung an die Ukraine, Aufstockung des Wehretats auf mehr als zwei Prozent des Bruttoinlandsprodukts, zusätzlich die Einrichtung eines Sondervermögens von 100 Milliarden Euro für die Bundeswehr. Wirtschaftsminister Robert Habeck kündigte an, die Bundesrepublik rasch von russischen Gas‑ und anderen Rohstofflieferungen unabhängig machen zu wollen.

Bei der Bundestagsdebatte überboten sich die Redner aller demokratischen Parteien in ihrer Verdammung Putins; Oppositionsführer Friedrich Merz von der CDU nannte ihn einen „Kriegsverbrecher“. Dieser Krieg sei ein Anschlag auf unsere Freiheit, sagte Baerbock. Selbst die Linke, die für gewöhnlich die USA kritisiert und größeres Verständnis für die Sicherheitsinteressen Russlands fordert, räumte ein, sie habe sich von Putin täuschen lassen und dessen Krieg gegen die Ukraine in keiner Weise zu rechtfertigen sei.

Unabhängig davon, wie der von Putin ausgelöste Krieg ausgeht, gehört das frühere Vertrauen zwischen Berlin und Moskau definitiv der Vergangenheit an, und die beiderseitigen Beziehungen werden gewiss nicht in die gewohnten Bahnen zurückkehren. Schade, dass in der Ukraine erst unschuldige Menschen sterben mussten, damit die Deutschen endlich Putins wahres Gesicht erkannten.

 

Aus dem Polnischen von Andreas R. Hofmann

Jacek Lepiarz

Jacek Lepiarz

Jacek Lepiarz ist Germanist, Historiker und Journalist. Er arbeitet mit der Deutschen Welle zusammen. Zuvor war er Berlin-Korrespondent der Polnischen Presseagentur sowie Warschau-Korrespondent der DPA.

2 Gedanken zu „Ende der Illusionen“

  1. Der Analyse über das Scheitern der “neuen Ostpolitik” kann man nur zustimmen. Doch sollte langsam in den Köpfen auch die Einsicht wachsen, dass die namentlich in der SPD glorifizierte Ostpolitik Willy Brandts zwar zu Erleichterungen im innerdeutschen Besucherverkehr geführt hat, ansonsten aber zur Stabilisierung des Sowjetblocks beigetragen hat, vor allem Moskau zu den militärischen Abenteuern in Afrika und Asien verleitet hat. Überdies hat sie den Lehrsatz bestätigt, dass bei einem autoritären Regime außenpolitische Entspannung immer mit innenpolitischer Verhärtung eingeht. Die deutsche Linke aber ignorierte die Verfolgung von sowjetischen Dissidenten ebenso wie sie die Solidarność als Störfaktor bei ihren Illusionen von der immerwährenden Entspannung ansah.

  2. Am 03.01.21 habe ich an die Westfälsishen Nachrichten einen Leserbrief geschickt, der allerdings nicht veröffentlicht wurde :

    “Diktatoren sind doch arme Schweine. Schauen wir auf Putin, einem gelernten Geheimdienstoffizier. Ständig muss er in Angst leben. Selbst seiner eigenen Armee kann er nicht trauen, so dass er eine Garde schaffen musste, doppelt so stark wie die Bundeswehr, die nur ihm untersteht und nur seine Macht im Inneren absichert. Also so was Ähnliches wie eine SS oder SA. Kritische Meinungsäußerungen muss er unterdrücken mit Polizei und dieser Sondertruppe. Oppositionelle, die eine Sprecherrolle einnehmen, werden verhaftet und nach Prozessen mit nicht greifbaren Vorwürfen eingesperrt, die wirtschaftliche und soziale Existenz vernichtet, eventuell unter nicht klärbaren Umständen ermordet. Nach so einer Regierungsführung kann man nicht zurück in ein normales Leben. Man muss sich Amtszeit und Immunität auf Lebenszeit verlängern lassen. Immer in Sorge, dass einem nach einem Systemwechsel doch der Prozess gemacht wird, in welche Form auch immer. Vor den mutigen Menschen, die in Russland auf die Straße gehen, kann man nur den Hut ziehen.”

    Ein Land kann keinen Krieg führen auch kein Volk. Es sind in der Regel die führenden Personen, oft auch als Eliten bezeichnet, die das von ihnen geführte Volk dorthin führen. Der Mehrheit eines Volkes nutzt ein Krieg nichts. Im Gegenteil, sie müssen die Opfer tragen, von denen die Führung profitiert. Oftmals zeigt sich hinterher, dass das nur der Kick der Macht und des Geldes ist, und die Ideologie ein Mittel um dorthin zu gelangen. Das Volk muss für die Kriegsvorbereitung arbeiten, während des Krieges die Blutopfer bringen und hinterher wieder aufbauen. Schade, dass unsere Hoffnungen nach der Wende 1989 jetzt endgültig zerflossen sind.

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