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Unbequeme Fragen

Die beeindruckende Hilfe, die Polen den Ukrainern zukommen lässt, wischt nicht die Probleme des Regierungslagers der Vereinigten Rechten vom Tisch. Die Aufrufe, jetzt interne Streitigkeiten zu beenden, sind richtig. Doch dürfen sie nicht die zahlreichen Verstöße der aktuellen polnischen Regierung gegen die Grundprinzipien der Demokratie betreffen. Die Hoffnung, dass die Europäische Union angesichts der jetzigen Verdienste ein Auge zudrückt, kann sich als trügerisch erweisen.

Die Angst davor, dass der Krieg in der Ukraine sich auf Polen ausweitet, oder sogar auf ganz Europa, ist in Polen sehr groß. Nun rufen selbst diejenigen, die noch bis vor kurzem lautstark gefordert haben, PiS solle damit aufhören, die Polen von der EU zu entfernen, zur Beilegung „interner Streitigkeiten“ auf. Es sei nicht der richtige Zeitpunkt, um über Rechtstaatlichkeit oder über Verstöße gegen EU-Wertvorstellungen zu sprechen, wenn nebenan Bomben fallen, und hunderttausende Ukrainerinnen mit Kindern über die polnische Grenze fliehen – sagen sie.

Natürlich, zuerst muss Hilfe für die Flüchtenden organisiert werden, deren Häuser brennen. Insbesondere, weil eine systematische Unterstützung, die Flüchtenden ein Minimum an Sicherheitsgefühl geben könnte, von staatlicher Seite nicht ausreichend ist. Polen lernt gerade zu helfen, denn bisher hatte es für Flüchtlinge und Immigranten aus anderen Ländern wenig übrig. Jetzt leistet Polen diese Hilfe, Polen will sie leisten, und die Welt lobt Polen dafür, doch das ändert nichts an der Tatsache, dass die aktuelle Regierung die Situation nutzt, um die EU zu nötigen, hinsichtlich der Verstöße gegen die Rechtsstaatlichkeit in der polnischen Gerichtsbarkeit und der Einschränkung der Meinungsfreiheit in polnischen Medien ein Auge zuzudrücken.

Während Jarosław Kaczyński zu nationaler Einheit und Zusammenhalt aufruft, sagt die Opposition, Einheit und Zusammenhalt seien mit bloßem Auge darin zu sehen, wie tausende ganz normale Polen Hilfe für die ukrainischen Nachbarn leisten. Ganz spontan. Ohne Appell der Regierenden. Doch es gibt keinen Freifahrtschein für den Mann, der bisher die Polen so sehr gespalten hat. Er hat nicht nur die Kandidatur von Andrzej Duda unterstützt, der die Europäische Union eine „imaginierte Gemeinschaft“ genannt hat. Die aktuelle Regierung hat sich auch der Allianz europäischer Gruppierungen mit einem nahen Verhältnis zu Putin angeschlossen, indem sie die Zusammenarbeit mit Politikern, die vom Diktator Russlands finanziert werden, intensiviert hat: mit Orbán, mit Le Pen und mit Salvini.

Erst kürzlich hatte Kaczyński die Pro-Putin-Internationale in Warschau empfangen, und vor wenigen Wochen hat Mateusz Morawiecki mit ihnen in Madrid debattiert. Im Auftrag von Jarosław Kaczyński wurde in Polen die Gewaltenteilung zerstört, freie Medien wie etwa lokale Zeitungen wurden von der Regierungspartei vereinnahmt, und diese tun jetzt alles, damit seriöse Informationen über die polnische Politik die Bewohner des ländlichen Raumes nicht erreichen. Das Regierungsbündnis zwischen PiS, Solidarna Polska und Konfederacja arbeitet seit sieben Jahren daran, auf diese Weise ihre Macht zu festigen. Richter, Journalisten und Lehrer zum Schweigen zu bringen, indem man ihnen verbietet, über unbequeme Fragen zu sprechen, ist ein Element des Regierungsplanes. Sie sitzen nicht in Gefängnissen, sie können weiterhin über das sprechen, was vor sich geht, aber sie müssen damit rechnen, ihre Arbeit zu verlieren. Ein guter Pole ist, wer die Regierungspolitik voll und ganz akzeptiert; die anderen sind Verräter. Und der Platz der Verräter ist außerhalb des Systems. Das ist die Rhetorik der Vereinigten Rechten. Der Krieg in der Ukraine verstärkt die gesellschaftlichen Ängste, die polnische Regierung kann sich jetzt verhältnismäßig sicher fühlen, dass ihr niemand etwas anhaben kann. Die EU hat wichtigeres zu tun als von Polen zu verlangen, dass es die Disziplinarkammer des Obersten Gerichtes abschafft, deren Existenz nicht mit dem EU-Recht vereinbar ist. Danach gefragt, wie es weiter geht, appellieren Politiker des rechten Lagers an die übrig gebliebenen freien Medien: Hört mit dem Aufwiegeln auf, denn wegen Leuten wie euch, kann sich der Krieg auf ganz Europa ausweiten. Diese emotionale Erpressung ist bitter, denn sie zielt auf das Verantwortungsgefühl ab. Doch eine Handvoll unabhängiger Medien in Polen lässt sich den Mund noch nicht verbieten. Sie sind sich darüber im Klaren, dass die autoritären Absichten der polnischen Regierung eskalieren können, wenn die Gesellschaft von seriösen Informationen abgeschnitten ist und aufhört, wachsam zu sein.

Wie wirkt sich die Flüchtlingskrise auf die polnische Politik aus?

In den aktuellen Umfragen zur Beliebtheit politischer Parteien legt die Vereinigte Rechte zu, und die ultrarechte Konfederacja verliert sichtbar. Sie wird als Bewegung wahrgenommen, die die russische Aggression gegen die Ukraine befürwortet.

Dr. Paweł Maranowski, Soziologe des Collegium Civitas in Warschau sagt, wenn die Bürger das Gefühl haben, ihr Leben sei in Gefahr, komme es immer zu dem Phänomen, dass nach einem starken Arm gerufen wird, der sie beschützt. Die PiS baut seit Jahren das Image einer Partei auf, die – ohne äußere Faktoren zu berücksichtigen (zum Beispiel die EU, den Europarat und andere Organe, die die Rechte und die Freiheit der Bürger überwachen) – ihre Politik erfolgreich und effizient umsetzt. Der Wählerschaft dieser Partei hat das sehr gefallen.

„Das Image der starken Regierung hat sich zu verändern begonnen, seit die Polen ökonomische Probleme verspüren, insbesondere wegen der Inflation“, sagt Maranowski. „Hinzu kamen Vorwürfe – schwerwiegende übrigens –, die mit dem Abhören von Politikern mithilfe der Spyware Pegasus zusammenhängen. Der Krieg hat – wie jedes Ereignis dieser Art – dazu geführt, dass sich das Interesse der Öffentlichkeit verlagert hat. Man kann den Eindruck gewinnen, dass sich die Dinge beruhigt haben. Doch das wird nicht lange anhalten. Unabhängig davon, ob der Krieg in Kürze zu Ende ist, was wir uns alle wünschen, oder ob er noch wochenlang andauern wird, wird die Öffentlichkeit irgendwann des Themas müde sein oder sich daran gewöhnt haben. Nichtsdestotrotz hat dieser Konflikt eher positiven Einfluss auf die Beliebtheit der Regierungspartei, die sich wiederum darum bemühen wird, dass das Thema weiterhin gesellschaftlich `angeheizt` wird.“

Maranowskis Meinung nach wird die EU die Probleme mit der Rechtsstaatlichkeit in Polen nicht vergessen. Und ganz bestimmt wird sie nicht vergessen, dass die polnische Regierung sich kurz vor Kriegsbeginn auf einem Gipfel konservativer Parteien noch mit der französischen Politikerin Marine Le Pen getroffen hat, die bisher Russlands imperialistische Bestrebungen offen unterstützt hat. Das, was auf der Ebene der internationalen Politik angesichts des Krieges in der Ukraine geschieht, macht uns bewusst, dass nicht alles so ist, wie PiS den Polen einzureden versucht. Ein heftiges Beispiel dafür ist das „große“ Bündnis mit Ungarn, insbesondere mit Victor Orbán, der der Ukraine Hilfe verweigert. Die EU wird wegen der humanitären Krise in Polen hinsichtlich der Grundprinzipien, auf denen sie selbst basiert, kein Auge zudrücken. Sie darf das nicht tun, stattdessen sollte sie diese Prinzipien eher öfter betonen und stärken, denn das unterscheidet sie in ihrem Wesen von der autoritär regierten Russischen Föderation.

Prof. Anna Siewierska-Chmaj, Politologin der Universität Rzeszów, ist der Meinung, es sei heute schwer einzuschätzen, in welche Richtung sich die polnische Politik unter dem Einfluss der riesigen Flüchtlingswelle aus der Ukraine entwickeln wird. Entscheidend werde die Dauer sowohl des Konfliktes als auch der Wiederaufbau der Ukraine nach dem Krieg sein. Derzeit sind die gesellschaftlichen Emotionen auf der Seite der Flüchtlinge, aber hauptsächlich haben Privatpersonen und NGOs es auf sich genommen, den Ukrainern zu helfen, und es lässt sich nicht abschätzen, wie lange sie die Kraft und die Mittel dafür haben werden.

„Wenn die Geduld einer Gesellschaft nachlässt, können extreme, migrationsfeindliche politische Kräfte wieder um die Macht zu kämpfen beginnen, besonders die Konfederacja, die die russische Propaganda unterstützt“, prognostiziert Siewierska-Chmaj. „Die Regierung kann auf einen great reset seitens der EU-Institutionen, die die Rechtsstaatlichkeit in Polen schützen, hoffen, aber ich denke, sie wird enttäuscht werden. Wenn die EU aus diesem Krieg etwas gelernt hat, dann dass man sich jedem, der Freiheit und Demokratie gefährdet, schnell, entschlossen und einstimmig entgegenstellen muss. Die aktuelle Invasion Russlands in der Ukraine ist unter anderem die Konsequenz aus der allzu schwachen Reaktion des Westens auf die Annexion der Krim im Jahr 2014. In dieser Zeit wurde Putin von europäischen Staaten empfangen und als gleichberechtigter Partner behandelt. Der Kreml hat rechtsextreme und EU-feindliche politische Parteien in Frankreich, Italien und Ungarn finanziert. Und zu dieser kompromittierten Gesellschaft gehört auch Ministerpräsident Mateusz Morawiecki. Wenn die EU eine Daseinsberechtigung hat, muss sie verstehen, dass sie nicht nur eine Wirtschaftsgemeinschaft, sondern vor allem eine Wertegemeinschaft ist. Ich denke, dass Putin uns alle sehr schmerzlich daran erinnert hat.“

Schon im nächsten Jahr sind Wahlen

Dr. Hubert Stys, Sicherheitsexperte von der Hochschule für Bankwesen in Toruń ist der Meinung, dass die PiS-geführte Regierung, indem sie eine eindeutige proukrainische Haltung demonstriert, selbstverständlich auf der Seite der Freiheit und Demokratie steht, aber sie habe auch schon bewiesen, dass sie sich selbst in den eindeutigsten Situationen mit der restlichen politischen Szene streiten kann. Die Opposition wird sicherlich mehr auf Schlichtung aus sein, was nicht bedeutet, dass sie keine ernsthaften Streitigkeiten und Vorwürfe zu befürchten hat, nicht den polnischen Interessen zu dienen. Beide Seiten müssen sich jetzt stark zurückhalten, damit der mögliche game changer nicht zum Einbruch der eigenen Umfragewerte führt, denn schließlich sind die Wahlen schon in Sicht. Die Opposition aber wird all die Delikte der PiS nicht vergessen, denn sie will sich ja gerade dadurch von PiS unterscheiden, dass sie die Rechtstaatlichkeit respektiert und Demokratie kultiviert.

„Niemand in Europa wird vergessen, was die PiS ist“, erklärt Stys. „Die Regierung wird sich nicht hinter der Ukraine-Krise verstecken können, denn entweder entnimmt sie jetzt die EU-Mittel aus dem Landesaufbauplan oder die Gelder verfallen. Das PiS-Umfeld hat bereits die ersten Schritte getan, um die unglücksselige Disziplinarkammer des Obersten Gerichtes abzuschaffen, was die notwendige Bedingung für die Freigabe der Gelder ist. Die Frage ist, ob die Realisten die Dogmatiker überstimmen, und zwar mithilfe einer Nichtregierungspartei. Andere Länder in der EU haben bereits mit dem Wiederaufbau nach Corona begonnen, indem sie den Wiederaufbaufond nutzen. PiS hängt mehrere Monate hinterher. Wenn sie die Beschlüsse des Gerichtshofs der Europäischen Union umsetzt, wird sich Polen diesen Ländern im letzten Moment anschließen, und damit letztlich den entwerteten Złoty stärken, woran PiS unbedingt gelegen sein sollte, wenn sie 2023 nicht scheitern will.“

Laut Experten zeigen die EU-Institutionen zeitliche Geduld und leiten außer der Geldblockade keine hektischen Maßnahmen ein. Sie warten auf die Wahlen in Polen im nächsten Jahr, die auf geradezu magische Weise alle angehäuften Probleme lösen und Polen wieder in den Kreis der Staaten zurückführen könnten, die die politische Situation in der EU stabilisieren.

Dr. Patryk Wawrzyński, Politologe der Nikolaus-Kopernikus-Universität in Toruń sagt, für die EU sei wesentlich, dass Jarosław Kaczyńskis Partei sich gänzlich anders verhält als ihre ungarischen Verbündeten aus der Fidesz – der Partei Victor Orbáns – und sich klar zu europäischen Werten und Solidarität bekennen muss. Für Polen wiederum ist es dienlich, dass die Leader der Rechten daran erinnert werden, dass angesichts einer echten Bedrohung der EU auch die Einheit der EU-Staaten eine zentrale Sicherheitsgarantie Polens ist. Die wichtigste Frage ist jetzt der Zugang zu EU-Geldern für Polen, denn schließlich sollte die Einfrierung der Gelder die polnische Regierung dazu bringen, die Konsequenzen ihrer schädlichen Justizreformen in Ordnung zu bringen.

„Ich glaube nicht, dass die EU das Thema wegen des polnischen Engagements bei der Hilfe und Unterstützung für Ukrainer vernachlässigen wird, schließlich betrafen die Vorbehalte allein die Fundamente der europäischen Werte, der Rechtsstaatlichkeit, demokratischen Standards und der Gewaltenteilung“, sagt Wawrzyński. „Wenn eine Seite ihre Einstellung zu dem Streit verändern sollte, dann die Anführer der PiS, die heute sehen, dass die EU keine ,imaginierte Gemeinschaft‘ ist, und dass unsere Nachbarn bereit sind, ihr Leben zu riskieren, um sich an diese echte Gemeinschaft anschließen zu können. Viele rechte Politiker haben sich von der cleveren Desinformation der russischen Nachrichtendienste täuschen lassen, und sehen jetzt, dass es für Polen nur zwei Möglichkeiten gibt: entweder der vereinigte, starke und demokratische Westen, oder die dramatische Abhängigkeit von einem aggressiven Russland nach dem Muster der traurigen Diktatur des Aljaksandr Lukaschenka.“

Von Bedeutung wäre auch, dass die EU-Eliten sich darüber Gedanken machen, wie sie die finanzielle Unterstützung und humanitäre Hilfe, die hauptsächlich nach Polen geleitet wird, managen wollen. Wawrzyński sagt, es sei am besten, wenn diese Instrumente weniger in den Händen der rechten Regierung wären, sondern stärker die Kommunalverwaltungen und Hilfsorganisationen aktivieren würden. Die Erfahrung der Regierung von Mateusz Morawiecki in der Bewältigung von Krisensituationen – ob im Falle der Pandemie, oder angesichts der Migrationskrise – sollten zu großer Vorsicht mahnen, während polnische Kommunalverwaltungen seit Jahren als Vorbild für die Glaubwürdigkeit beim Haushalten mit EU-Geldern gelten.

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Karina Obara

Karina Obara

Karina Obara ist Journalistin, Schriftstellerin, Dichterin, Essayistin und Malerin. Sie studierte Politikwissenschaften an der Nikolaus-Kopernikus-Universität in Toruń und europäische Journalistik am College of Europe in Warschau.

Ein Gedanke zu „Unbequeme Fragen“

  1. Dieser Beitrag setzt sich mit einigen Fragen der polnischen Politik in ihrer Komplexität auseinander. Zugegeben, ich habe dazu viel zu wenig Hintergrundwissen, doch bin ich an der deutsch-polnischen Grenze geboren und groß geworden und befasse mich seit Jahren mit Polen. Ich habe sogar Polnisch gelernt.
    Was ich aber auch getan habe, ist, mich nicht unbedingt dem Mainstream zu unterwerfen, sondern mir ein eigenes Bild zu verschaffen.
    So finde ich die außerordentlich hohe Solidarität mit den aus der Ukraine Geflüchteten im polnischen Staat für vorbildlich. Der Westen, sprich: die EU, wenn ich das so sagen darf, wundert sich darüber. Selber hatte ich daran keinen Zweifel. So habe ich polnische Menschen nun mal kennengelernt, wenn ich auf sie zugegangen bin – dessen Fortsetzung garantiert.

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