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 „Wir sollten uns von Putin nicht einschüchtern lassen“

Gespräch mit Klaus Wittmann, Brigadegeneral a.D.

Die Ukraine kann „gar nicht genug“ Flugabwehr- und Panzerabwehrwaffen haben, so der deutsche NATO-General a.D. Dr. Klaus Wittmann, der seit mindestens einem Jahr deutsche Waffenlieferungen an die Ukraine gefordert hat und nun sich auch für die Verhängung eines Embargos für Erdgas und -öl aus Russland ausspricht.

 

Aureliusz M. Pędziwol: Herr General, die Ukrainer verteidigen sich schon seit Wochen vor der Übermacht und dem Terror der russischen Armee. Haben Sie jemals geglaubt, Zeuge eines solchen brutalen Krieges auf europäischem Boden zu werden? War es voraussehbar?

Klaus Wittmann: Nein, ich habe nicht damit gerechnet, dass ich so etwas in Europa einmal erleben würde. Zur zweiten Frage sage ich: Für mich ist es nicht völlig überraschend. Ich habe mich viele Jahre lang schon mit der russischen Politik beschäftigt. Als NATO-Offizier war ich in den 1990er Jahren an der Entwicklung von kooperativen Beziehungen mit der Sowjetunion und dann mit Russland beteiligt. Ich war im NATO-Hauptquartier, als 1997 die NATO-Russland-Grundakte verhandelt und vereinbart wurde, in der die Signatare sich gegenseitig versicherten, sie betrachten sich nicht mehr als Gegner.

Aber ich war auch dabei, als 2007 Putin bei der Münchner Sicherheitskonferenz seine wütende Rede hielt: „Der Westen macht, was er will; er beachtet uns nicht; die NATO ist eine Bedrohung für uns.“ Oft habe ich danach  gesagt und geschrieben, bei dieser Rede hätte man besser zuhören müssen und daraus auch Folgerungen ziehen.

Insofern war es für mich nicht so überraschend, wie sich das entwickelt hat, zumal  wir 2008 beim Georgienkrieg und dann erst recht 2014 bei der Annexion der Krim und dem Beginn des Krieges im Donbass  hauptsächlich zuschauten und nur relativ sanfte Sanktionen verhängten. Es war sicher ein Fehler.

Wurde Ihre Stimme jemals wahrgenommen?

Jetzt schon, ich werde nun dauernd gefragt und ja, ich habe das Gefühl, die Leute hören zu und viele sehen es ein.

Auch die Politiker?

Die deutschen Politiker haben viele, viele Jahre lang an das Gute in Putin glauben wollen. Bis vor kurzem sagten zahlreiche Deutsche, er könne gar nicht anders handeln, die NATO habe ihn provoziert.

Das sind Märchen. Putin weiß, dass die NATO für Russland keine Bedrohung ist. Was er „Sicherheits-Interessen“ nennt, das sind aus meiner Sicht politischpsychologische Befindlichkeiten: Demütigungskomplex des Verlierers im Kalten Krieg, imperialer Phantomschmerz, der Zerfall der Sowjetunion als „größte geopolitische Katastrophe des 20. Jahrhunderts“, Frustration darüber, dass Russland von Amerika nicht als Großmacht, betrachtet wird.

Was will er?

Das einzige, was ich als wirkliches Interesse bei Putin erkenne, das ist der Wunsch, das Bestreben, das demokratische Virus von den russischen Grenzen fernzuhalten. Er hat keine Angst vor der NATO, er hat Angst vor dem eigenen Volk, dass es sich von Demokratiebewegungen anstecken lassen könnte.

In den letzten Tagen hat der Gedanke heftige Debatten ausgelöst, dass Polen seine MIG-29 der Ukraine übergeben könnte…

Da ist eine gute Initiative durch ein Kommunikationsdebakel zerstört worden. Solche Dinge bespricht man nicht in der Öffentlichkeit, man macht keine Ankündigungen. Wenn man eine solche Absicht hat, dann macht man das polnische Hoheitsabzeichen von den polnischen Maschinen ab; die von der Ukraine kommen drauf; die ukrainischen Piloten, die dieses System kennen, weil es ja im Warschauer Pakt überall eingeführt war, kommen nach Polen, steigen in die Maschinen ein und fliegen in die Ukraine ab. Man redet darüber überhaupt nicht. So müsste man das machen, nicht wahr?

Was nun?

Wir sollen uns von Putin nicht verängstigen lassen, dass wir ihn provozieren. Für all das, was er bisher gemacht hat, hat er keine „Provokation“ benötigt. Aber bei Kampfflugzeugen, da sollte man sich dann vielleicht doch vorsehen, dass man das nicht in zu öffentlicher Weise macht.

Bezeugt die Kriegsführung Moskaus die Schwäche des Angreifers, der eine so starke Antwort der Ukrainer nicht erwartet hat?

Putin hat die umfangreichste Option gewählt: all-out attack, Generalangriff, von dem bis zum Schluss viele glauben wollten, dass das nur eine Drohkulisse ist.

Erstmal ging es nach dem Doktrinenlehrbuch: Feuervorbereitung, Zerstörung von Kommandozentralen und militärischen Installationen sowie der Flugabwehr. Dann Einrücken, Vormarsch der Bodentruppen. Putin scheint sich vorgestellt zu haben, dass das ein Unterwerfungsblitzkrieg werden wird, wie das Messer durch die Butter, und da hat er sich verrechnet. Sie haben Recht: Er hat einen solchen Widerstand nicht erwartet. Er hat auch mit der Einigkeit des Westens und der Härte der Sanktionen nicht gerechnet. Wie mit Protesten der russischen Bevölkerung in über 50 Städten. Da hat er sich auch verkalkuliert.

Gehört der Terror gegen die Zivilbevölkerung zum russischen Standard?

Jetzt, wo die Truppen nicht vorankommen, eskaliert Putin mit Feuer. Er führt einen Krieg, wie er ihn in Tschetschenien und in Syrien geführt hat. Wenn wir die Bilder von Grozny und Aleppo vor unserem inneren Auge haben, dann wissen wir, wie weit er bereit ist, zu gehen. Das ist ja ein Kriegsverbrechen erster Ordnung.

Russland hat bisher 598  Gefallene zugegeben, während die Ukraine die russischen Verluste auf über 13.000 einschätzt. Das kann ich nicht nachprüfen, aber ganz bestimmt sind es nicht nur 600. Und jetzt höre ich mehrmals das Gerücht von fahrbaren Krematorien, wo man die sterblichen Überreste der gefallenen russischen Soldaten gleich einäschert. Im besten Fall kriegen dann die Familien eine Urne überreicht und einen großen Scheck, damit sie den Mund halten. Das kann nicht ewig gut gehen, davon bin ich überzeugt.

Die Amerikaner reden von zwei bis vier tausend toten russischen Soldaten.

Ich glaube, es sind trotzdem mehr. In Afghanistan hat die Sowjetunion in zehn Jahren ca. 13000 Soldaten verloren. Eine ähnliche Zahl ist in der Ukraine schon binnen zehn Tagen erreicht worden.

Übrigens noch etwas zur russischen Vorgehensweise: Diese bedauernswerten russischen jungen Soldaten waren ja wirklich schlecht vorbereitet. Sie wussten zum Teil gar nicht, dass sie aus einer Übung direkt in einen Angriffskrieg gingen. Es sollte ein Blitzkrieg werden und es dauert schon Wochen an, wofür die Logistik, Verpflegung, Treibstoff, oder Ersatzteile überhaupt nicht ausgelegt waren.

Gott sei Dank!

Ja.

Wie schätzen Sie die Gefahr ein, dass Russland biologische oder chemische Waffen anwenden könnte?

Biologische Waffen – da sehe ich bis jetzt nur die Behauptung von Lawrow, seine Beschuldigungen gegenüber der Ukraine. So etwas hatten wir auch während des Georgien-Krieges – Verschwörung, Behauptung. Also das nehme ich nicht ernst.

Eher ernst nehme ich dagegen die Gefahr, dass Russland chemische Waffen einsetzen wird. Es ist zwar Signatar des Chemieächtungsabkommens und trotzdem hat es ja gegenüber Nawalny und Skripal Novichok eingesetzt. So etwas könnte auch in der Ukraine passieren.

Wie real ist ein Nuklearkrieg?

Als ich 1966 bei der Artillerie eintrat, hatte ich 20,3 cm gezogene Feldhaubitzen, die für nukleare Granaten bestimmt waren. Seitdem sind wir einen weiten Weg gegangen. Nuklearwaffen sind heute eigentlich nur noch politische Waffen zur Abschreckung des Nukleareinsatzes der anderen Seite.

Auch für Putin?

Putin hat letztes Jahr mit Biden zusammen die Reagan-Gorbatschow-Aussage von 1985 bekräftigt, ein atomarer Krieg kann nicht gewonnen werden und darf nicht geführt werden.

Aber er hat sich auch mehrmals leichtfertig über Nuklearwaffen geäußert, als ob sie doch Kriegführungswaffen wären. Schon während der Besetzung der Krim hatte er versucht, den Westen einzuschüchtern. Aber selbst ein Putin weiß, dass das Gleichgewicht des Schreckens zwischen den atomaren Supermächten auch heute noch gültig ist. Wenn er Russland und die Welt zerstören will, dann kann er natürlich auch eine Atomwaffe werfen. Ich glaube, davon sollen wir uns nicht einschüchtern lassen. Auch in Russland muss es irgendwelche Sicherungen geben. Es ist nicht ein einzelner, der auf den Atomknopf drückt.

Hoffentlich haben Sie Recht, Herr General. Die demokratische Welt reagierte auf die russische Aggression ungewöhnlich hart, wie nie zuvor. Kann man jedoch einen Aggressor „nur“ mit Sanktionen, Boykott und Lieferungen von defensiven Waffen an den Angegriffenen zum Rückzug zwingen?

Ich weiß es nicht. Aber das ist alles, was wir auf diesem Gebiet tun können, mit Einigkeit, Härte und Konsequenz, von der Sie mit Recht sagen, das war ungewöhnlich, wie nie zuvor. Dazu kommt die internationale Ächtung. 141 Nationen in der UN-Vollversammlung haben sich gegen Russland gestellt.

Man soll jedoch die defensiven Waffen nicht unterschätzen, wie die Flugabwehr- und die Panzerabwehrwaffen. Sie sind einfach zu handhaben und zu transportieren, man braucht für sie keine große Ausbildung. Vergessen Sie nicht, mit diesen Stingers haben die afghanischen Mudschaheddin einen großen Teil der sowjetischen Luftwaffe vom Himmel geholt.

Berlin hat in dieser Entwicklung eine wichtige, aber nicht unbedingt positive Rolle gespielt. Angela Merkel hat beide Nord-Stream-Pipelines jahrelang als reines Wirtschaftsanliegen heruntergespielt. Infolge dessen hängt Deutschland von den russischen Energieträgern gravierend ab…

Ich teile all diese Ansichten. Ich habe mich immer wieder ganz besonders gegen Nord Stream 2 gewandt. Gegen die Abhängigkeit von Russland. Sowie gegen die Betrachtung von Putins Politik mit rosigen Augen. Ich habe es kritisiert und Putins Motive enthüllt.

Wird der Schock der letzten zwei Wochen ein tatsächliches Umdenken nach sich ziehen?

Ich glaube, ja. Da sind ganz vielen die Augen geöffnet worden und ganz besonders den Politikern von der SPD. Diese sind nun zu einer realistischen Sichtweise gekommen.

Der Schock der letzten Wochen hat ein Umdenken auch hinsichtlich der Finanzierung der Bundeswehr gebracht. Aber ich glaube auch, dass es nicht reicht, wenn ein echtes Umdenken nur in der politischen Klasse erfolgt. Es muss auch in die Bevölkerung getragen und erklärt werden.

Deutschland als ein Waffenlieferant an ein Land im Krieg – noch vor einigen Wochen ein Tabu, heute schon eine Tatsache. Könnte Berlin den Ukrainern noch etwas anbieten?

Was aus meiner Sicht am dringendsten gebraucht wird, das sind diese tragbaren Flugabwehrwaffen: Stingers, Strelas und Panzerfäuste.

Mit der Panzerfaust können Sie nur auf 300 Meter einen Panzer bekämpfen. Das ist also fürs offene Gelände nicht so nützlich, außer sie haben einen Hinterhalt. Fürs offene Gelände sind die Panzerabwehrlenkraketen besser, die 3000 Meter weit wirken können. Da gibt es HOT, TOW, oder Milan. Aber soweit sich russische Panzer in die Städte bewegen, sind Panzerfäuste äußerst nützlich. Denn da wissen Sie ja gar nicht, aus welcher Querstraße dann auf 100 Meter Entfernung eine Panzerfaust die Seite des Panzers schießt. Von all diesen Waffen kann die Ukraine gar nicht genug haben.

Und was würden Sie zum Embargo auf Erdgas und Erdöl sagen? Die deutsche Regierung ist immer noch dagegen.

Ich bin kein Wirtschaftswissenschafter, aber ich bin dafür. Ein solches Embargo könnte mehr als manche anderen Sanktionen den Krieg zum Ende bringen. Dann wäre die Zeit, wo wir unter den Folgen zu leiden hätten, vielleicht gar nicht so lang. Aber das ist meine persönliche Meinung, ohne dass ich die wirtschaftlichen Folgen völlig überblicke. Ich bin aus politischen Gründen, aus den strategischen Gründen dafür und zähle auf die Unterstützung der deutschen Bevölkerung..

Ich finde es aber bedauerlich, wenn Deutschland da wieder alleine ist. Wir waren ja auf dem Wege, ganz isoliert zu sein, bezüglich Nord Stream 2, bezüglich SWIFT, bezüglich der Waffenlieferungen. Im allerletzten Moment haben wir noch die Kurve gekriegt. Mal sehen, wie es jetzt ausgeht.

Herr General, kaum jemand hat erwartet, dass die Ukrainer so lange aushalten könnten. Ihre Verteidigung verwundert. Trotzdem möchte ich Sie fragen, was Sie als Verteidiger anders machen würden?

Ich bin auch sehr beeindruckt von der Verteidigung der Ukrainer, aber nicht sehr verwundert. Ich habe ihnen das zugetraut. Man hat es vielleicht nicht erwartet, wie lange die Ukraine aushalten würde, aber ich glaube das kann noch eine -Zeitlang so weitergehen.

Und den zweiten Teil ihrer Frage möchte ich gar nicht beantworten. Ich finde, es ist äußerst eindrucksvoll, was die Ukrainer machen. Und ich bin der Letzte, der ihnen von außen öffentliche Ratschläge geben würde.

Werden die Ukrainer ausharren?

Die Bodentruppen aufzuhalten, das wird ihnen sicher noch länger gelingen. Kiew wird verteidigt. Wie sie gegen tschetschenische Horden, oder Syrer, oder die Gruppe Wagner sich schützen können, wenn die in die Städte einsickern und die Jagd auf Funktionsträger und sogar den Präsidenten machen, das kann ich alles nicht sagen. Und gegen den Bomben- und Raketenterror können die Ukrainer natürlich auch wenig ausrichten.

Aber selbst, wenn die Regierung gestürzt werden würde, selbst wenn Putin da eine Marionettenregime einrichten würde, selbst wenn die wichtigsten Städte besetzt werden, dann bin ich überzeugt, dass die Ukrainer den Russen einen Untergrundkampf liefern werden, der jahrelang dauern könnte und der für Russland sehr kostspielig wäre. Ganz abgesehen von seiner Isolation und Ächtung in der ganzen Welt.

Herr General, ich danke Ihnen für das Gespräch.

 

Dies ist eine erweiterte Version des Gesprächs für die polnische Redaktion der Deutschen Welle.


Dr. Klaus Wittmann (geboren 1946) ist Historiker und Brigadegeneral a.D. Er war 1988-92 Planungsstabsoffizier und Referatsleiter im Internationalen Militärstab (IMS) im NATO-Hauptquartier in Brüssel. Zuvor führte er das Raketenartilleriebataillon 112 in Delmenhorst, später die Panzerbrigade 14 „Hessischer Löwe“ in Neustadt, von wo er in die deutsche Botschaft bei der NATO in Brüssel wechselte. Bevor er 2008 in den Ruhestand ging, war er zunächst an der Führungsakademie der Bundeswehr in Hamburg und im NATO Defense College (NDC) in Rom. Derzeit lehrt er am Historischen Institut an der Universität Potsdam Zeitgeschichte


Aureliusz M. Pędziwol Autor bei DIALOG FORUMAureliusz M. Pędziwol, Journalist, arbeitet mit der polnischen Redaktion der Deutschen Welle zusammen. Er war 20 Jahre lang Korrespondent des Wiener WirtschaftsBlattes und für zahlreiche andere Medien tätig, darunter für die polnischen Redaktionen des BBC und RFI.

Gespräch

Gespräch

Ein Gedanke zu „ „Wir sollten uns von Putin nicht einschüchtern lassen““

  1. In vielen Dingen kann man zustimmen, in anderen nicht. Denn einiges muss besser analysiert werden hinsichtlich der Auswirkungen.
    Diese dürften ja insbesondere auf wirtschaftlichem Gebiet ausreichend gegeben sein. Nur die Dinge strategisch zu betrachten, reicht
    m. E. bei weitem nicht aus.
    Was mich insonderheit interessieren würde, ist der Punkt, wie handhaben es denn andere europäische Länder mit der Lieferung und
    Verbrauch von Gas und Öl?

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