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Verstellter Blick. Die deutsche Ostpolitik

Arkadiusz Szczepański: Herr Urban, Sie waren lange Zeit Osteuropa-Korrespondent der Süddeutschen Zeitung, haben aus Warschau, Moskau und Kiew berichtet. Ihr neues Buch „Verstellter Blick. Die deutsche Ostpolitik“ erscheint zu einer Zeit, in der dieser Begriff gerade seine positive Konnotation verloren hat. In Ihrem Buch unterziehen Sie die unter Willy Brandt eingeleitete Ostpolitik einer kritischen Analyse. Wieso wollten Sie dieses Buch schreiben?

Thomas Urban: In meinen 24 Jahren im Osten Europas habe ich den Untergang der Parteiregime sowie den Zerfall der UdSSR unmittelbar miterlebt und die Freude, die Aufbruchstimmung der Menschen geteilt. Doch die Entwicklungen der letzten Jahre gaben wenig Anlass zu Freude. Mir war schon sehr früh klar geworden, dass die Politik der Bundesregierungen einen großen Einfluss darauf hatte. Einerseits wollten alle deutschen Entscheidungsträger ihren Beitrag zu gutnachbarschaftlichen Beziehungen leisten. Andererseits aber war in so vielen Fällen offensichtlich, dass manche wichtigen Entscheidungen von Wunschdenken geprägt waren. Dieses Wunschdenken, gepaart mit einer moralisch intonierten Überheblichkeit gegenüber den unmittelbaren Nachbarn im Osten, darunter Polen, wollte ich als eines der Leitmotive der deutschen Ostpolitik herausarbeiten.

Welche politischen Vor- und Nachteile brachte die damals eingeleitete neue Öffnung gen Osten?

Dass Willy Brandt vor mehr als einem halben Jahrhundert den Dialog mit den Führungen in Ost-Berlin, Warschau, Moskau und Prag eingeleitet hat, war eine wegweisende gute Entscheidung. Es war auch richtig, faktisch den Verlust der deutschen Ostgebiete anzuerkennen, vor allem, weil dort längst eine neue Generation von Polen heimisch geworden war. Ich sage das als Sohn deutscher Vertriebener aus Breslau, dessen Eltern sich mit dem Verlust ihrer Heimat sehr schwergetan haben. Nun wurde die Tür geöffnet für einen Dialog vor allem zwischen westdeutschen und polnischen Intellektuellen. In der DDR, der ČSSR und der UdSSR aber führte die Entspannung in der Außenpolitik zu einer innenpolitischen Verhärtung, Dissidenten wurden verfolgt. Die Formel Egon Bahrs „Wandel durch Annäherung“ ging also nicht auf.

Zudem stellte sich nach mehreren Jahren heraus, dass das große Erdgas-Röhren-Geschäft der 1970er Jahre kein Friedensprojekt war, sondern dass ein Großteil der Deviseneinnahmen Moskaus in die Hochrüstung der sowjetischen Streitkräfte floss und somit auch die westlichen Demokratien gezwungen waren, ihre Verteidigungsetats zu erhöhen. Auch wurden auf diese Weise die verhängnisvollen militärischen Abenteuer des Kremls in Afrika und Afghanistan ermöglicht, ein Aspekt, der in der bundesdeutschen Debatte fast völlig untergegangen ist.

Sie ziehen eine Parallele zwischen der damaligen Ostpolitik und dem deutschen Russland-Mantra der letzten Jahre: Moskau solle bloß nicht gereizt werden, man müsse stets auf Dialog setzen. Dieses Konzept ist gescheitert, da Russland nie an einem ernsten Dialog interessiert war. In Ostmitteleuropa war dies den meisten politischen Akteuren bewusst, aber sie konnten ihre Partner im Westen nicht von einem härteren Kurs gegenüber Putin überzeugen. Wie lässt sich die mangelnde Sensibilität Deutschlands für die Unkenrufe der Ukrainer, Polen und Balten erklären? Wieso hat die deutsche Politik trotz des Georgien-Krieges, der Krim-Annexion und des Krieges im Osten der Ukraine weiterhin auf Dialog mit Putin gesetzt?

Es gab wohl ein ganzes Bündel von Gründen: Das romantisch geprägte Interesse der Deutschen an russischer Kultur, die Erinnerung an die gemeinsame Geschichte mit deutschen Prinzessinnen, die Zarinnen wurden, mit Bismarck, der das Bündnis mit Russland als Stabilitätsanker in Europa sah. Dann aber auch die Schuldgefühle wegen des deutschen Angriffs auf die Sowjetunion 1941 mit Millionen Toten, wobei ausgespart wurde, dass die UdSSR ja aus 15 Teilrepubliken bestand, dass Belarussen und Ukrainer anteilmäßig viel mehr Opfer zu beklagen hatten. Und es gab den sehr starken Irrglauben vieler deutscher Linker, dass die Regime im Ostblock auch irgendwie links seien, man könne ihre Entwicklung zu einem „Sozialismus mit menschlichem Antlitz“ fördern, wenn man keinen Druck auf sie ausübe.

Hinzu kommt eine ebenfalls traditionelle Überheblichkeit der Deutschen gegenüber den Nachbarn in Mittelosteuropa, denen salopp vorgeworfen wurde, sie sollten erst einmal ihre Russophobie überwinden. Nicht zuletzt trug auch der traditionelle Antiamerikanismus in der SPD dazu bei, dass man dort auf die Annäherung an Moskau setzte.

Ein Rätsel aber bleibt, warum nach der Annexion der Krim 2014 und der russischen Invasion in den Donbass, die die Moskauer Propaganda erfolgreich im Westen als Aufstand „prorussischer Separatisten“ verkauft hat, Angela Merkel und Frank-Walter Steinmeier nicht ihren Kurs geändert haben. Steinmeier klagte damals in kleinem Kreis, dass der russische Außenminister Sergej Lawrow ihn bei Gesprächen über die Ukraine permanent belogen habe – so wie nun Putin wenige Tage vor dem Angriffsbefehl seinen Besuchern Macron und Scholz direkt ins Gesicht gelogen hat. Wir wissen nicht, wie sich der russisch-ukrainische Krieg weiterentwickelt. Aber vielleicht wird man, wenn es noch schlimmer kommt, eines Tages die Namen Merkel und Steinmeier in einer Reihe mit Chamberlain und Daladier nennen.

An einer Stelle schreiben Sie sehr prägnant folgenden Satz: „Breschnew wollte gewaltsam gezogene Grenzen durch internationale Abkommen bestätigt sehen; Putin möchte durch internationale Abkommen bestätigte Grenzen gewaltsam ändern.“ Viele fragen sich heute, ob der verklärte Blick nach Russland seitens der deutschen politischen Klasse nur vorübergehend abgelegt wurde, oder ob er wiederkehrt. Wie bewerten Sie die von Bundeskanzler Scholz jüngst verkündete Kehrtwende der deutschen Außenpolitik? Wird diese dauerhaft sein?

Man kann es nur hoffen. Jedenfalls bestätigt Scholz die Regel, dass nur ein linker Regierungschef in Deutschland ein umstrittenes rechtes Projekt, in diesem Fall die Verstärkung der Bundeswehr, durchsetzen kann und umgekehrt. Aber nicht immer gelingt dies, wie das Beispiel Helmut Schmidts zeigt, dem die eigene Partei im Streit um die Nachrüstung vor genau 40 Jahren die Gefolgschaft verweigerte. Die Protokolle des Politbüros in Moskau belegen indes, dass es der militär- und wirtschaftspolitische Druck der US-Administration unter Ronald Reagan war, der entscheidend zum Fall der Berliner Mauer beigetragen hat, und nicht die Entspannungspolitik Willy Brandts sowie die westdeutsche Friedensbewegung. Im Grunde ist dies eine sehr deprimierende Erkenntnis.

In Ihrem Buch stellen Sie die These auf, dass der sog. Rechtsruck in Polen – die erste PiS-geführte Regierung im Jahr 2005 sowie die Rückkehr im Jahr 2015 – durch die deutsche Politik zuerst unter Kanzler Gerhard Schröder, anschließend durch Angela Merkel begünstigt wurde. Inwiefern?

Strategische Denkfehler wurden auf deutscher Seite schon in den 1990er Jahren gemacht, als nämlich die großen Parteien im Bundestag in Polen Partner suchten. Die SPD setzte auf das postkommunistische Linksbündnis, das damals aber vor allem eine korrupte Interessenvertretung der Partei-Nomenklatura war und mit sozialdemokratischer Programmatik wenig im Sinn hatte; dies hat sich natürlich im Laufe der Jahre geändert, so wie die heutige Linke in Deutschland nur noch wenig mit der einstigen Kaderpartei SED gemein hat. Die CDU vernachlässigte damals das nationalkatholische Milieu und tut es bis heute, so dass deren wichtigsten Köpfe kaum Gelegenheit bekamen, Repräsentanten des heutigen Deutschlands kennenzulernen.

In den Jahren vor 2005 hat es die rot-grüne Koalition in Berlin nicht geschafft, die emotionsgeladenen „deutschen Themen“, die alle nichts mit der operativen Politik zu tun hatten, zu  neutralisieren: Zentrum gegen Vertreibungen; Preußische Treuhand; Reparationsfrage; Jugendämter, die angeblich ein Polnischverbot für Scheidungskinder verfügen, was schlicht falsch ist; Aktion „Gegen polnische Lager“, ein Phantasieprojekt der rechten polnischen Medien, das nichts mit der deutschen Medienwirklichkeit zu tun hat. Jedes dieser Themen hätte man sehr schnell durch eine konsequente Informationspolitik entschärfen können.

2015 wirkte sich der Umgang der Flüchtlingskrise durch Berlin auf die Sejmwahlen in Polen aus. Es war ein Fehler Angela Merkels, hier einen europäischen Verteilschlüssel durchsetzen zu wollen, denn die allermeisten Asylbewerber gaben Deutschland als Zielland an. Auch waren die ehemaligen Ostblockländer in der EU weder institutionell noch psychologisch auf die Aufnahme einer großen Zahl von Migranten vorbereitet – und nun erweckte Berlin den Eindruck, hier über ihre Köpfe hinweg Entscheidungen zu treffen. Nicht ohne Grund wird ja in diesen EU-Ländern den Deutschen vorgeworfen, das europäische Asylrecht zu unterminieren, da die überwältigende Mehrheit der Migranten, denen die Anerkennung als Flüchtlinge im Sinne der UN-Konvention versagt bleibt, dennoch im Land bleiben kann und auch in den Genuss sozialer Leistungen kommt.

Sehen Sie angesichts des deutschen außenpolitischen Kurswechsels die Chance, dass sich die deutsch-polnischen Beziehungen verbessern werden? Auch um den Preis, dass Deutschland hinsichtlich des Rechtsstaatsabbaus in Polen ein Auge zudrückt?

Die überwältigende Hilfsbereitschaft der Polen gegenüber den ukrainischen Flüchtlingen hellt zweifellos das zuletzt eingetrübte Polenbild in Deutschland wieder auf. Ebenso hat die „kopernikanische Wende“ der deutschen Ostpolitik, wie es polnische Kommentatoren nennen, zwischen Weichsel und Oder nur positive Reaktionen ausgelöst. Auf beiden Seiten wächst angesichts von Putins Krieg die Erkenntnis, dass man aufeinander angewiesen ist.

Was aber die Demontage der Gewaltenteilung angeht, so ist dies ja vor allem Sache der europäischen Institutionen. Brüssel wird hier sicherlich nicht nachgeben. Es wäre aber gut, wenn die Forderungen an die Adresse Warschaus nicht von deutschen Repräsentanten der EU vorgetragen würden. Erinnert sei an die Debatte im Europäischen Parlament über die polnische Justizreform im vergangenen Oktober: Scharfe Kritik an der polnischen Führung übte erst die Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen, die ja eine Deutsche ist. Dann sprachen für die Europäische Volkspartei der Deutsche Manfred Weber, für die Grünen die Deutsche Ska Keller, für die Linke der Deutsche Martin Schirdewan, und zweite Rednerin der Sozialdemokraten war die Deutsche Katarina Barley. Klug war das nicht, denn auf diese Weise sahen sich alle Skeptiker in Warschau bestätigt, die vor einer deutschen Dominanz in der EU warnen.

ISBN: 978-3-949262-16-6 Broschur Format: 13 x 22 cm Seiten: 192 Seiten Preis: 15 € (D

 

 


 Thomas Urban, geb. 1954, studierte in Köln, Tours, Kiew und Moskau Romanistik, Slawistik und osteuropäische Geschichte. Von 1988 bis 2012 war er Osteuropa-Korrespondent der Süddeutschen Zeitung, anschließend bis 2020 SZ-Korrespondent in Madrid. Er hat Sachbücher zu den deutsch-polnischen Beziehungen sowie über russische Emigrantenliteratur verfasst. Er ist Sohn deutscher Heimatvertriebener, verheiratet mit einer Polin, deren Familie aus dem sowjetisch annektierten Ostpolen zwangsumgesiedelt wurde.

 


Arkadiusz Szczepański bei DIALOG FORUMArkadiusz Szczepański studierte Slawistik, Geschichte und Kulturwissenschaft in Leipzig und Berlin. Redakteur beim DIALOG FORUM, Übersetzer und Redaktionsmitglied des Deutsch-Polnischen Magazins DIALOG.

Gespräch

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2 Gedanken zu „Verstellter Blick. Die deutsche Ostpolitik“

  1. Ich kann den Aussagen von Thomas Urban nur zustimmen: Die Fehleinschätzungen der maßgeblichen deutschen Politiker der letzten Jahre sind unentschuldbar! Putins brutalster Luftkrieg seit 2015 gegen Großstädte und Krankenhäuser in Syrien, die Unterstützung des Regimes in Venezuela, der schon vor dem 24. Februar etwa 15.000 Opfer fordernde permanente Krieg in der Ostukraine, auch das Abwürgen der Opposition in Belarus und die Inszenierung der Migration zur belarussischen Grenze war nur mit Putin möglich und so weiter. Dennoch verhandelte Angela Merkel über die Köpfe der östlichen Nachbarn hinweg noch 2020 mit Putin über Nordstream 2 und Frank Walter Steinmeier trat noch im November 2019 gemeinsam mit Gerhard Schröder beim Bundespresseball auf. Offensichtlich fehlte, eventuell sogar bis heute, die Fähigkeit, sich mit anhaltendem russischen Imperialismus und Totalitarismus auseinanderzusetzen. Auch der Zustand der Bundeswehr spricht für sich. Gottlob gibt es die großartige Hilfe für die Flüchtlinge aus Deutschland, aber das Ansehen maßgeblicher deutscher Politiker dürfte bei unseren östlichen Nachbarn auf dem Tiefpunkt sein.

  2. So kann man die Entwicklung in den verschiedenen Zeitphasen auslegen oder beurteilen, muss man aber nicht zwangsläufig.
    Ausgeklammert wurde bspw. die Entwicklung in der ganzen Welt, wie die in den USA und in den letzten Jahren auch die in China.
    Aus meiner Sicht ist es so, dass Verquickungen jeglicher Art mit berücksichtigen sollte. Wobei ich die Haltung Deutschlands
    in manchen Dingen auch so sehe wie Sie, nämlich mit einigen Fehlern behaftet. Ich kann mich aber andererseits nicht an allen
    Diskussionen erfreuen, die Polen und seine Politik kritisieren, wie das von der EU, insonderheit auch von Deutschland, gemacht
    wird. Und schließlich Hut ab vor der Unterstützung der Flüchtigen aus der Ukraine! – Unter dem Strich könnte alles eher zum
    Zusammenschweißen als zu Trennendem führen. Wunschträume sind zwar gestattet, vielleicht auch förderlich, doch wird das
    wirklich so eintreten?!

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