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Der Krieg von Amerika aus betrachtet. Notizen aus New York

Am 1. März 2022, kaum eine Woche nach dem russischen Überfall auf die Ukraine, flog ich nach New York. Ich hatte diese Reise seit Jahren geplant, seit Monaten war ich Teilnehmer des Visa-Waiver-Programms, und seit Wochen in Besitz eines Tickets. Dennoch war die Atmosphäre beim Kofferpacken, auf dem Weg zum Flughafen und beim Check-in recht angespannt: Sie erinnerte ein bisschen an eine fieberhafte Evakuierung und ich müsste lügen, wenn ich behaupten würde, dass ich mich nicht fragte: Fahre ich für einen Monat … oder für immer? Ich hatte einen Grund, denn ich fuhr nach Amerika, um Material für ein Buch über einen Exilschriftsteller zu sammeln, der 1939 Polen hatte verlassen müssen; als er 1941 „für eine Zeitlang“ nach New York kam, kehrte er nie mehr nach Polen zurück.

Diese Tage waren eine Ausnahmesituation: Die allgemeine Aufbruchsstimmung bezüglich der Hilfe für die Ukraine, an der ich mich auch beteiligte, traf zusammen mit dem Gespenst der wachsenden Unruhe – um sich selbst, um seine Nächsten, um alles. Was würden die kommenden Stunden bringen? Schwappt der Krieg auch über die Grenze zu Polen? Wie wird die Welt reagieren? Und ist solch ein Krieg im 21. Jahrhundert überhaupt möglich?

Das, was auf den Flughäfen los war, erst in Krakau, dann in Warschau, von wo aus ich direkt nach New York flog, trug ebenfalls zur allgemeinen Anspannung bei. Mit mir reisten Menschen, die hautsächlich Ukrainisch oder Russisch sprachen. Aus leisen Gesprächen ging hervor, dass die meisten den Start kaum erwarten konnten. „Wissen Sie, dass bei uns ein Krieg ausgebrochen ist? Ich muss fliehen!“ „Habt keine Angst, sie müssen uns an Bord lassen!“ Auch nach der Ankunft in den Vereinigten Staaten blieb das Gefühl, dass sich etwas verändert hat. Auf dem John F. Kennedy Flughafen, noch ohne Zugang zu den Nachrichten von der Front, war ich wie in einer Art Quarantäne, zwischen Abflug und Ankunft, außerhalb von Land und Zeit. Zu denken gegeben hat mir die Politik des Grenzschutzes der USA, der bekannt ist für seine Strenge. Dieses Mal wurden die Menschen fast sofort durchgelassen, ohne überflüssige Fragen (außer: „Wieviel Bargeld haben Sie dabei?“).

Eines der ersten Bilder, die mir dann vor Ort entgegenschlugen, war das Schaufenster eines Geschäftes mit einem großen Bildschirm, auf dem Nachrichten gezeigt wurden. Auf einem roten Hintergrund stand in Schwarz „WAR IN EUROPE!“. Nicht: „in der Ukraine“. Und dann weitere Aufschriften dieser Art: „Riesige Flüchtlingswelle!“ und „Risiko einer humanitären Krise!“ Von da ab wusste ich, dass mein Aufenthalt in New York – das zweite Heimatland für viele Weltenbummler aus Polen, Deutschland, Irland und Italien – auch von den Spuren und dem Echo dieses Krieges geprägt sein würde.

Obwohl New York sich auf der anderen Seite der Welt befindet, obwohl dort viele Millionen Menschen leben, die aus allen Teilen der Welt stammen, von denen manche vor blutigen Kriegen geflüchtet sind, die unaufhörlich auf mehreren Kontinenten toben, was wir als Europäer gern vergessen, überraschte es mich, wie sehr Russland, die Ukraine und Polen den öffentlichen Raum dominierten. Ja! Meinen gesamten Aufenthalt hindurch blieb das Thema Krieg auf den ersten Seiten der meistgelesenen Zeitungen wie The New York Times und The Wall Street Journal. In den Fenstern und Schaufenstern hingen ukrainische Flaggen, und ein Teil der Wolkenkratzer war blau-gelb erleuchtet. Das Mitgefühl für die Ukraine und die Bewunderung für den Mut der Verteidiger sind in den USA mit der Anerkennung für die Polen und ihrer Angst vor Russland verbunden – beinahe wie im Kalten Krieg.

Die New Yorker scheint die Lage in Europa sehr mitzunehmen. Ich hatte ständig den Eindruck, dass der Meinungsaustausch mit ihnen mehr war als der sprichwörtliche small talk, dass das, was bei uns passierte, sie tief erschütterte. Wenn ich in Gesprächen sagte, woher ich komme, hörte ich folgendes: „Wir Amerikaner sind dankbar dafür, was ihr Polen für die Ukraine tut!“ Oder auch: „Bei Russland weiß man nie!“ Natürlich ist die Präsenz des Krieges je nach Stadtteil unterschiedlich: In vielen ist man ganz natürlicherweise mit vollkommen anderen Dingen beschäftigt, doch es gibt auch Stadtteile, in denen die Ukraine das Hauptthema zu sein scheint.

Im Bezirk Manhattan im Süden der Insel liegt der Stadtteil East Village. Umgangssprachlich nennt man ihn auch „Little Ukraine“. Dort befindet sich der Sitz der Shevchenko Scientific Society in the US, eine Kultureinrichtung, die für die Ukrainer in New York von Bedeutung ist. In „Little Ukraine“ leben viele Exilukrainer der jüngeren Generation. Ich war in diesem März dort mehrere Male. In dem Stadtteil pulsiert das Leben, es ist laut und die Atmosphäre ist angenehm. Die modernen Cafés und Restaurants platzen aus allen Nähten, die Menschen sitzen eng beieinander und führen lebhafte Gespräche, es wird viel gelacht und sehr laut Musik gehört. Und trotzdem denkt man hier an den Krieg: Überall Flaggen und Losungen, die Eigentümer der Geschäfte informieren auf Aushängen, wieviel Prozent ihrer täglichen Einnahmen für Hilfsleistungen nach Kiew gehen. Ein Hit ist der ukrainische Borschtsch in dem bereits seit 1954 existierenden Restaurant Veselka. Hier stehen die Menschen in langen Schlangen und wollen damit die Ukraine unterstützen, denn die gesamten Einnahmen werden für humanitäre Zwecke gespendet. Die Losung lautet: „Hilf der Ukraine: Iss Borschtsch!“

Ich habe mehrere Tage im Bezirk Greenpoint in Brooklyn gewohnt, im zweitgrößten Stadtbezirk in New York. Dieser Stadtteil hat mit seinem überwiegend polnischen Element einen einzigartigen Charakter, obwohl er nicht mehr das „alte Greenpoint“ ist, wie die Hiesigen sagen. Wegen des stärkeren Interesses der Amerikaner an diesen Stadtteil und angesichts der gestiegenen Wohnungspreise haben in den letzten Jahren viele Polen die Gegend verlassen und sind nach Queens gezogen. Doch es ist noch immer das „polnische New York“ und als solches manifestiert es lebhaft seine Solidarität mit der Ukraine. Vor allem, weil hier polnische Presse gelesen, polnische Medien konsumiert werden und auf den Straßen und in den Geschäften oft die polnische Sprache zu hören ist, ist der russisch-ukrainische Krieg in Greenpoint fast genauso präsent wie derzeit in Polen. Ich sage „fast“, weil natürlich in Polen, als Nachbar der Ukraine, der russische Angriff viel hautnaher erlebt wird. Dieses „andere Polen“ hier – die amerikanische polnische Community – ist im Geiste durch das Leid mit Polen verbunden. Doch das bedeutet nicht, dass es nur bei Worten bleibt. Es werden spontane Hilfsaktionen organisiert, dazu gehören Ideen wie ganze Container mit notwendigen Dingen über den Atlantischen Ozean zu verschicken. In polnischen Restaurants in Greenpoint werden die in Polen beliebten „russischen“ Piroggen nicht mehr serviert, sondern ukrainische.

Die Halbinsel Coney Island ist die südliche Spitze des Stadtbezirks Brooklyn. Hier liegen der gleichnamige Stadtteil Coney Island, Sea Gate, Manhattan Beach und Brighton Beach. Letzterer ist auch als „Kleines Odessa“ bekannt. Dieser Stadtteil ist seit dem Ende des 19. Jahrhunderts das Hauptziel russischer und ukrainischer Migranten in den USA. Über Ellis Island sind Juden aus dem zaristischen Russland hierher gekommen, dann Flüchtlinge aus dem vom Krieg erfassten Europa; und so ging es die darauffolgenden Jahrzehnte weiter.

Spaziert man durch Brighton Beach, hat man das Gefühl, in einem Land zu sein, das zum Ostblock in den frühen neunziger Jahren des 20. Jahrhunderts gehört. Kein Sozialismus mehr, aber noch kein Kapitalismus. Hier herrscht auf der Hauptstraße des Stadtteils die Atmosphäre eines Marktplatzes. Es werden Obst und Gemüse, Gold und Pelze verkauft. Die Presseprodukte in den Kiosken und auch die Schilder und Aushänge in den Schaufenstern sind überall mit kyrillischer Schrift geschrieben. Mit ihren Gesichtsausdrücken und der Kleidung, aber auch mit ihrer Wesensart, erinnern die Leute in Brighton Beach an Menschen, die in der Zeit der Transformation die Straßen polnischer Kreisstädte bevölkerten. Symbole der Solidarität mit der Ukraine gibt es hier mehr als woanders in New York: Flaggen, Losungen und Spendenaufrufe – „Für die Ukraine!“. Es sieht danach aus, dass für die hier lebenden Russen und Ukrainer, die seit Generationen eine Gemeinschaft bilden, Putin gleichermaßen ein Verbrecher ist. Ob wegen ihrer Verbundenheit, oder wegen der aktuellen Situation – das hier ist eine geschlossene Gemeinschaft, die etwas gegen Fremde hat, und ich war hier zweifelsohne fremd.

Am 24. März landete ich wieder in Polen. Ich kehrte gar nicht beruhigt zurück, denn die Lage hatte sich überhaupt nicht stabilisiert. Auf dem John F. Kennedy Flughafen in New York war unter den Passagieren, die auf den Flug nach Warschau warteten, ein junger Mann, der meine Aufmerksamkeit erregte. Er war zwischen zwanzig und fünfundzwanzig Jahre alt und hatte unhandliches Gepäck, mit dem er nicht zurechtkam. Er hatte eine Glatze, war sportlich gekleidet und trug eine große goldene Halskette. Er wirkte ungesund aufgeputscht, und in seinen Augen stand blanke Angst. In einem chaotischen Telefongespräch auf Russisch rechtfertigte er sich mit den Worten (so viel konnte ich verstehen): „Papa! Schimpf nicht! Ich habe gesagt, ich komme, also komme ich! Wir haben Verspätung, aber ich komme auf jeden Fall!“ Was auf der anderen Seite der Leitung gesagt wurde, habe ich nicht gehört, aber aus dem Kontext konnte ich mir zusammenreimen, dass der Vater seinen Sohn rügt und ihn antreibt, schnell aus Amerika zurückzukommen. Der junge Mann stand unter starken Drogen, das war vollkommen klar. Aber er tat mir leid. Die von der Verspätung genervten Passagiere in der Flughafenhalle wechselten Blicke und Bemerkungen: „Jetzt betet jeder, dass er nicht neben einem sitzt!“ War er Russe oder Ukrainer? Ich weiß es nicht, aber das hat eigentlich keine Bedeutung. Ich wünschte ihm ehrlich, dass er wegen seines Verhaltes nicht an Bord gelassen werden würde – nicht wegen des Komforts für mich oder die Mitreisenden, sondern weil er (gegen seinen Willen) das glückliche New York verließ, um an die Front zu gehen. Leider drückte die Flughafenwache ein Auge zu. Zu seinem Unglück.

 

 

Aus dem Polnischen von Antje Ritter-Miller

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Jacek Hajduk

Jacek Hajduk

Jacek Hajduk ist Schriftsteller, Übersetzer und Altphilologe, lehrt an der Krakauer Jagiellonen-Universität.

Ein Gedanke zu „Der Krieg von Amerika aus betrachtet. Notizen aus New York“

  1. Dieser Beitrag ist deswegen von Interesse, weil es eine fremde Welt für mich darstellt – in der Vergangenheit und in der Gegenwart, auch in der Zukunft. In der DDR war für uns die USA und anderes tabu. In der Gegenwart wüsste ich nicht, warum ich in die USA, die selbst arg zerstritten ist, reisen sollte. Und künftig bin ich zu alt dafür.
    Dass man sich in Polen so um die geflüchteten Ukrainer kümmert, ist für mich als Ostdeutsche nicht verwunderlich, sondern normal. Das heißt, ich habe Polen immer so eingeschätzt, dass es solidarisch ist. Nicht aber eine Art Mitläufer ist, wenn es um die Einwanderung von arabischen und sonstigen Flüchtlingen geht. Auch nicht alles kommentarlos schlucken, was die EU vorgibt. So manches davon ist m. E. eher innenpolitischer Natur.
    Deutschland in der Jetzt-Zeit kümmert sich aber auch sehr um geflüchtete Ukrainer. Alles, was da herumschwirrt, dass Deutschland zu zögerlich oder zu spät sei, entspricht nicht den Tatsachen . Es wird getan, was möglich ist!!! Alle anderen Aktionen, wie von einigen Spitzenpolitikern aus der Ampel und aus der CDU als Oppositionspartei werden zumindest von der Basis kritisch gesehen – das zu Recht.
    Deutschland wirkt leider nach außen hin wie ein Hühnerstall. Das ist nicht gut. Es ist zu hoffen, dass das Gesamtbild besser werden möge!

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