Die deutsche Russlandpolitik ist vor allem in den vergangenen acht Jahren – seit Beginn des offen aggressiven Eingriffs Moskaus in der Ukraine im Zuge der Maidan-Revolution durch die völkerrechtswidrige Annexion der Krimhalbinsel (März 2014) und anschließend die Schaffung einer de facto kriegsähnlichen Situation im Osten des Landes um Donezk und Luhansk – immer öfter und heftiger zum Gegenstand der Kritik vonseiten der europäischen Partner der Bundesregierung geworden. Der seit dem 24. Februar 2022 nunmehr uneingeschränkte russische Aggressionskrieg gegen die Ukraine hat die Absage an die bisherigen Versuche Deutschlands, Zusammenarbeit und Dialog mit Russland zu unterstützen und voran zu treiben, verstärkt. Insbesondere der aus der Zeit von Willy Brandts Neuer Ostpolitik geerbte Grundsatz „Wandel durch Handel“ scheint angesichts der vom Kreml außen- wie auch innenpolitisch weiterhin verfolgten autoritären Agenda nahezu restlos ausgedient zu haben. Als stärkstes Symbol der deutsch-russischen Beziehungen seit Ende des Kalten Kriegs erweisen sich, insbesondere aus der Perspektive der ostmitteleuropäischen Nachbarn Deutschlands, die Ostsee-Gasleitungen „Nord Stream“, besonders deren zweite Pipeline, die von der Konzipierung 2013 bis zur Fertigstellung im September 2021 von vielen Akteuren als Risiko für die Unabhängigkeit Europas und als Unterwanderung der Souveränität und des Handlungsraums der EU-Mitglieder in Sachen Energieversorgung betrachtet wurde. Die Tatsache, dass die Inbetriebnahme der Pipeline vorerst vom neuen Bundeskanzler Olaf Scholz gestoppt worden ist, löst allerdings weder die Bedenken an Berlins Kurs in Sachen Außen-, Energie- und Sicherheitspolitik im Allgemeinen noch die Unsicherheit bezüglich der deutschen Wahrnehmung von Russland.
Die sich eben zum hundertsten Mal jährende Unterzeichnung des so genannten Vertrags von Rapallo zwischen Deutschland und der Russischen Sozialistischen Föderativen Sowjetrepublik (16. April 1922) bietet die Gelegenheit, die jüngste Entwicklung des deutsch-russischen Verhältnisses in den breiteren Kontext seiner neuen und neuesten Geschichte zu stellen. Fern von German-Bashing geht es dabei natürlich nicht darum, sich post factum auf halsbrecherische Versuche einzulassen, in jeder deutschen Entscheidung oder Unterlassung in den vergangenen hundert Jahren der Beziehungen zu Russland etwa postrationalisierend den Ausdruck einer historischen Logik oder gar Notwendigkeit zu erkennen. Solcherart ideologisch gesättigte Geschichtsschreibung kennt man in Ostmitteleuropa noch aus der kommunistischen Zeit, wo etwa die These des ewigen deutschen Militarismus vom Mittelalter über Friedrich den Großen und Bismarck bis zu Hitler Teil der antideutschen Propaganda war. Eher als warum, soll hier darauf hingewiesen werden, wie d.h. aus welcher Entwicklung heraus die heutige Haltung Deutschlands in Bezug auf Russland – insbesondere im Hinblick auf den russischen Überfall auf die Ukraine – beleuchtet werden kann.
Wie es unlängst John Lough, 1995–1998 allererster Stellvertreter der NATO-Repräsentanz in Moskau, im historischen Überblick seiner jüngsten Veröffentlichung Germany’s Russia problem (2021) bemerkt, reichen die Quellen der deutsch-russischen Wechselbeziehungen aus der Langzeitperspektive gesehen weit zurück, bis spätestens ins 18. Jahrhundert, so dass Rapallo eher als Etappe denn als Ausgangspunkt angesehen werden mag. Nichtsdestotrotz handelt es sich dabei um einen wichtigen (Neu-)Start für die beiden Akteure im Europa der frühen Zwischenkriegszeit – mit langfristigen Folgen für einander sowie für Europa im Zeitalter der Extreme und darüber hinaus. Zwar bezieht sich das geflügelte Wort von der „Stunde Null“ im publizistischen Sprachgebrauch überspitzt auf die Lage Deutschland 1945, doch in Hinblick auf die deutsche Position in der Architektur der internationalen Beziehungen am Ende des Ersten Weltkriegs konnte man damals durchaus von einem tiefen Rückschlag in eine Situation starker Isolation sprechen. Der Versailler Vertrag führte außerdem zu einer drastischen Verringerung der deutschen Streitkräfte. Des Weiteren veranlasste das Trauma der Grande Guerre und die damit verbundene Angst vor deutschem Irredentismus oder Vergeltungslust Frankreich schon Anfang der 1920er Jahre, sein Vertragsnetz um weitere Bündnisse mit neu- oder wiederentstandenen ostmitteleuropäischen Nachbarn Deutschlands zu erweitern, und letzteres dadurch geopolitisch und strategisch einzudämmen. So sollte das Abkommen mit Polen (1921) aufgrund des Risikos eines Zweifrontenkriegs potenziell aggressive Schritte der Weimarer Republik unterbinden. Ähnliche Verträge folgten noch zwischen Frankreich und der Tschechoslowakei (1924), Rumänien (1926) und Jugoslawien (1927).
Auch die damalige sozialistische russische Föderation, die in der wenige Monate später entstandenen Sowjetunion das wichtigste Gründungsmitglied darstellte, galt nach der bolschewistischen Revolution, der Ermordung des Zaren Nicolaus II. und seiner engsten Familienangehörigen sowie dem verlorenen Krieg gegen Polen (1919–1921) nunmehr als gefährlicher Pariastaat. Daran änderte auch die Entstehung der UdSSR im Dezember 1922 im Wesentlichen nichts: Moskau musste das neue staatliche Gebilde erst in das Geflecht der internationalen Beziehungen einbinden, was bei der antikommunistischen Haltung der meisten westlichen Staaten kein einfaches Unterfangen darstellen sollte. Die Unterzeichnung des Vertrags von Rapallo, noch bevor die Sowjetunion offiziell gegründet wurde, leistete also aus russischer Perspektive diplomatische Pionierarbeit.
So suchten denn zwei Outsider einen gemeinsamen Weg aus ihrem jeweiligen Engpass heraus. Diese Wahlverwandtschaft nährte sich also grundsätzlich am Bestehen gegenseitiger Interessen. Deutschland sicherte sich dadurch die Möglichkeit, unter Umgehung der einschränkenden Bestimmungen des Versailler Vertrags seine Remilitarisierung voran zu treiben und seine Kampfbereitschaft zu stärken, indem es auf dem Territorium des russischen Vertragspartners etwa Rüstungsfirmen, Erprobungsgebiete und Übungsgelände (z.B. für Panzer in Kasan) betreiben durfte. Russland wiederum erhielt durch den deutschen Partner Zugang zu westlicher ziviler und militärischer Technologie. Zwar war dies nicht der erste Versuch Russlands gewesen, durch Zusammenarbeit mit einem wichtigen westlichen Staat seine Modernisierung anzukurbeln: Schon der russisch-französische Zusammenschluss von 1892 verfolgte aus der Perspektive des Zarenreichs ein ähnliches Ziel, obgleich in einem anderen Kontext, und auch Frankreich suchte nach der schallenden Niederlage gegen Preußen 1870 weiterhin Wege aus der Sackgasse, vor allem um die perzipierte „deutsche Gefahr“ durch Bündnisse zu bändigen.
Spezifisch an der Annäherung von 1922 zwischen Berlin und Moskau war allerdings die Tatsache, dass sich diese in den folgenden Jahren und Jahrzehnten zu regen Wechselbeziehungen entwickelte, ja angesichts der Radikalisierung des politischen Systems in beiden Staaten im Laufe der 1930er Jahre auf dem Weg zur totalitären Erfahrung eine geradezu mimetische Relation (ganz im Sinne René Girards) hervorrief und festigte. Gerd Koenen hat in seiner Studie zum deutschen „Russland-Komplex“ (Der Russland-Komplex. Die Deutschen und der Osten 1900–1945, 2005) u.a. die gegenseitige, auf Rivalität basierende Faszination zwischen Bolschewismus und Nationalsozialismus unterstrichen und auch auf die persönlichen Vernetzungen zwischen den politischen und militärischen Kadern beider Staaten hingewiesen. Diese wurden durch den Ausbruch des Zweiten Weltkriegs in dessen erster Phase zunächst gestärkt, bis die Beziehungen mit dem Angriff des „Dritten Reichs“ gegen die Sowjetunion 1941 ins Destruktive mündeten. Der Krieg an der Ostfront – von Hitlers Überfall bis zu seiner Kapitulation im zerstörten, von der Roten Armee kontrollierten Berlin – war für eine ganze Generation von Deutschen eine extreme Erfahrung mit den „Russen“, wobei alle anderen Nationen der Sowjetunion für Jahrzehnte aus der deutschen Wahrnehmung, sowohl in den persönlichen Erfahrungen als auch im kollektiven Gedächtnis, komplett ausgeblendet wurden. Auch die Sowjetische Besatzungszone war für die meisten Deutschen, ob auf dem Gebiet der späteren DDR oder in der zukünftigen Bundesrepublik ausschließlich mit Russland assoziiert. Ebenso prägte die Kriegserfahrung mit den entsprechend traumatischen Gewaltexzessen und Verbrechen die russische (aber auch ukrainische, belarusische usw.) Perzeption von Deutschland; der Kampf gegen den Faschismus im sog. Großen Vaterländischen Krieg wurde zum zentralen Bestandteil des sowjetischen Selbstverständnisses und wirkt in Russland – wenn auch zum Zwecke einer anderen, neoimperialen Propaganda – bis heute nach.
Für Deutschland hatte die Sowjetunion indes im Zuge seiner Besetzung und Teilung im Kontext des Kalten Kriegs stets einen besonderen Status inne: Den ehemaligen Feind, Besatzer eines Teils des deutschen Hoheitsgebiets und Stifter einer neuen deutschen Teilstaatlichkeit musste man in Bonn nolens volens als den wichtigsten (und schwierigsten) Ansprechpartner in Kauf nehmen, wenn auch immer man deutschlandpolitisch etwas erreichen wollte. Dem westdeutschen Anliegen, die Sowjetunion durch die Förderung gegenseitiger oder gar gemeinsamer wirtschaftlicher Interessen an die Bundesrepublik und Westeuropa zu binden und für eventuelle Verhandlungen zu gewinnen, entsprach der Wunsch Moskaus den kapitalistischen Westen des Kontinents in eine möglichst weitgehende Abhängigkeit von russischen fossilen Energiequellen zu bringen – ein langwieriger Prozess zunehmender Verflechtung, der eingehend von Per Högselius beschrieben und dokumentiert wurde (Red Gas. Russia and the Origins of European Energy Dependence, 2012).
Die damit verbundene, immer tiefgreifendere Erschließung Osteuropas für die (west-)deutsche Wirtschaft im Kontext einer zunächst von den Siegermächten aufgezwungenen, später kollektiv internalisierten, politisch legitimierten und gesellschaftlich mit German Angst gespeisten außenpolitischen Selbstbeschränkung Bonns und dann Berlins führte schließlich zur Schaffung einer nahezu axiomatischen Position in Hinblick auf die deutsch-sowjetischen und deutsch-russischen Beziehungen, in denen Dialog, „Brückenbau“ und Verständigung – ja (Russland-)Verständnis – immer mehr zum Wert an sich mutierten und deutsche Interessen zementierten. Selbstauferlegte Blindheit in Bezug auf die Interessen der sogar vom Vater der Brandtschen Ostpolitik, Egon Bahr, mitunter entmündigend als „Zwischeneuropa“ betrachteten Nationen Ostmitteleuropas – nicht zuletzt der öffentlich lange kaum als Subjekt wahrgenommenen post-sowjetischen Ukraine – war die Folge, mit der die deutsche Außenpolitik trotz jüngst angekündigter und schon lange fälliger „Zeitenwende“ bis heute noch zu ringen hat. Für Deutschland und zunehmend für Europa.
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