Zum Inhalt springen

Solidarität in Scherben. Bruchlinien in der Visegrád-Gruppe

Der 24. Februar 2022 wird in die Geschichte eingehen. Der russische Angriffskrieg gegen die Ukraine hat sämtliche Realitäten verändert. Er hat viele bisher für sicher geglaubte Annahmen auf den Kopf gestellt. Wladimir Putin hat seine anfänglichen Ziele nicht erreicht. Er hat weder Wolodymyr Selenskyjs Regierung gestürzt noch einen Statthalter in Kiew eingesetzt, denn der geplante Blitzkrieg war ein Fehlschlag. Stattdessen hat ein langwieriger und blutiger Konflikt begonnen.

Auch sind, zumindest aus Sicht des Kreml, einige kontraproduktive Entwicklungen eingetreten – so etwa die Rückkehr der Amerikaner in die europäische Politik, die demonstrative Einheit des Westens, die schmerzensreiche Geburt der ukrainischen Nation, die auch die russischsprachige Bevölkerung umfasst, schließlich auch die Wiedergeburt der Solidarität in Polen, zumindest im Hinblick auf die Ukrainer, die vor dem Krieg dorthin fliehen. Denn zum Erstaunen der Welt sind bisher über 3,2 Millionen Flüchtlinge durch Polen gezogen und die Hälfte davon ist dortgeblieben.

Die Karmeliten hinter den Klostermauern

Während die Solidarität an einem Ort zum Vorschein kam, ging sie andernorts zu Bruch. Viktor Orbáns konsolidierte Herrschaft wurde durch die Wahlen vom 3. April bestätigt und verfügt weiterhin über eine qualifizierte, zu Verfassungsänderungen berechtigte Parlamentsmehrheit. Orbán kann bei sich zuhause weiterhin tun, wie es ihm beliebt, denn schon lange hat er sich von der liberalen Demokratie und der Gewaltenteilung (checks and balances) verabschiedet, indem er alles der exekutiven Gewalt, einer Ein-Mann-Regierung in Gestalt eines starken Ministerpräsidenten unterordnet, so dass viele bereits von „kriechender Autokratie“ sprechen.

Doch nach dieser geopolitischen Zäsur vom 24. Februar überschlägt sich in der internationalen Gemeinschaft alles. Der zuhause so starke Orbán kann nicht auf eine Fortsetzung des „Karmeliterbündnisses“ rechnen, so genannt nach seinem neuen Sitz in dem früheren, restaurierten Kloster auf dem Schlossberg in Buda, das er vor jenem Datum mühselig aus den europaskeptischen Kräften errichtet hatte und die sich immer wieder als entschiedene Putinbefürworter erwiesen.

Marine Le Pen hat verloren, Matteo Salvino hat keine Chance auf einen Wahlsieg, der polnische Ministerpräsident Mateusz Morawiecki befindet sich offenbar auf dem Weg in das westliche Lager, selbst im benachbarten Slowenien haben die Orbán nahestehenden Kräfte eine Niederlage eingesteckt. Die „Karmeliten“ müssen sich daher, ob sie wollen oder nicht, hinter die Klostermauern zurückziehen, denn im Angesicht der russischen Aggression bestehen kaum noch Chancen auf weitere Zusammenkünfte der Art, wie sie in Warschau im November letzten Jahres und Anfang Februar diesen Jahres in Madrid stattgefunden hatten.

Orbán ist jedoch hartnäckig und verfolgt nach seinem sehr deutlichen, vierten Wahlsieg hintereinander anscheinend weiterhin die Strategie der Öffnung nach Osten (keleti nyitás), zu dem zur allseitigen Irritation die Zusammenarbeit mit Russland gehört. Die, wie alles andere auch, durch die Regierung unterworfenen ungarischen Medien ignorieren die Kremlpropaganda oder sprechen diese nach, im völligen Gegensatz zum gesamten Westen. Orbáns gegen Präsident Selenskyj gerichtete Brandreden, werden dagegen als Geschmacksverirrungen und Ausdruck historischer Ignoranz in die Geschichte eingehen, besonders jene von einer Nachwahlveranstaltung, auf der sich Orbán unter abstoßendem Gelächter über den ukrainischen Präsidenten lustig machte, den er in die Reihe der Regimegegner einordnete, gleichauf, mit Sozialisten, Liberalen und westlichen Medien.

Die zerbrochene Achse

Die Abkehr von Ungarn macht sich selbst in Polen bemerkbar, das sich nach 2015 Orbán zum Vorbild genommen hatte. Der starke Mann an der Weichsel, Jarosław Kaczyński, hatte schließlich öffentlich versichert, Warschau werde eines Tages wie Budapest sein. Doch diesmal, da Viktor Orbán die Massenmorde von Butscha und in der Umgebung von Kiew ignorierte, empfahl Kaczyński dem ungarischen Regierungschef einen Besuch beim Augenarzt.

Dieses historische Datum des 24. Februar hat Budapest und Warschau, beide seit Jahren in Streitigkeiten mit der Europäischen Union verwickelt und wegen Missachtung von Regeln der Rechtsstaatlichkeit von Strafmaßnahmen betroffen, dazu gebracht, sich in entgegengesetzten Lagern wiederzufinden. Warschau hatte als letzte EU-Regierung den Wahlsieg Joe Bidens anerkannt, weil es, genauso wie Orbán, sich politisch ganz auf Donald Trumps Seite geschlagen hatte. Doch jetzt wurde Polens Hauptstadt zum Schauplatz wahrer Wunder: Innerhalb eines Monats kam Präsident Biden persönlich zum Staatsbesuch, darüber hinaus besuchten Vizepräsidentin Kamala Harris und die Chefs des Pentagon und des State Department Polen. Letztere waren gleich zweimal an der Weichsel, und amerikanische Medien und Prominente gaben sich an der polnisch-ukrainischen Grenze ein Stelldichein. Dieselbe Grenze wurde viele Male von höchsten EU-Repräsentanten besucht, allen voran Charles Michel und Ursula von der Leyen.

Außer Donald Tusk, der die Opposition bei einer Wahlkampfveranstaltung in Budapest am ungarischen Nationalfeiertag, dem 15. März, mit einem Auftritt unterstützte, ließ sich dort niemand blicken. Erst am 9. Mai kam die Präsidentin der Europäischen Kommission zu heiklen Gesprächen über das erneute Veto der ungarischen Regierung gegen die Pläne, russische Energieexporte mit Sanktionen zu belegen. Denn Orbán will wie üblich, wie schon zuvor bei EU‑ und anderen westlichen Sanktionen, seine Zustimmung nicht geben bzw. im Gegenzug einen eigenen Vorteil  herausschlagen. Doch diesmal steht er damit allein und selbst ohne das bisher getreue Warschau da.

Nach dem 24. Februar ist nämlich etwas eingetreten, was niemand vorausgesehen hatte: Polen befindet sich auf amerikanischer Seite, gar in der Rolle einer Avantgarde, weil es immerhin ein logistisches Zentrum und eine Drehscheibe für die in die Ukraine fließende materielle Hilfe des Westens darstellt. Unterdessen widersetzt sich Ungarn nicht allein solchen Transporten, sondern auch der Stationierung von NATO-Truppen auf eigenem Gebiet, der Lieferung von Waffen, vor allem aber dem Verzicht auf russisches Erdöl und ‑gas. Darüber hinaus steht auch noch die Renovierung eines postsowjetischen Nuklearkraftwerks in Paks auf der Tagesordnung. Das alles hat dazu geführt, die einstige Achse Budapest–Warschau in die Brüche gehen zu lassen, weil sich beide Regierungen nunmehr auf entgegengesetzten Seiten der Barrikade befinden. Die Narrative haben sich getrennt, das vermeintliche Bündnis liegt in Trümmern, und die herrschenden Gruppierungen haben völlig verschiedene Prioritäten, zumindest was Russland und die Ukraine betrifft. Was sie jedoch nach wie vor verbindet, ist ihre konfrontative Haltung zur EU, doch das führt in der Regierungskoalition in Polen zu immer heftigeren Kontroversen und lässt die Regierung immer instabiler aussehen. Was wiederum dazu führt, dass vorgezogene Neuwahlen nicht länger ausgeschlossen sind und noch in diesem Jahr stattfinden könnten, obwohl die regulären Sejmwahlen erst für den Herbst 2023 vorgesehen sind.

Visegrád vom Winde verweht

Unterdessen wird auch die Zusammenarbeit innerhalb der Visegrád-Gruppe (V4) in Frage gestellt. Diese war jahrzehntelang das Musterbeispiel für regionale Integration. Bereits vor den ungarischen Parlamentswahlen machte die tschechische Verteidigungsministerin Jana Černochová Furore mit einem Tweet, dessen Wortlaut keinerlei Zweifel aufkommen ließ: „Ich habe immer V4 unterstützt, so tut es mir sehr leid, dass für ungarische Politiker billiges russisches Erdöl derzeit wichtiger ist als ukrainisches Blut“; anschließend sagte sie ihre Teilnahme an einem Ministertreffen in Budapest ab. Dem schloss sich am 28. März der polnische Verteidigungsminister Mariusz Błaszczak an, so dass das geplante Treffen ausfiel.

Visegrád nahm in seiner Geschichte unterschiedliche Formen an und durchlief verschiedene Etappen. Manche nannten die V4 scherzhaft auch die Vacuum Four, in Anspielung auf ihre inhaltsleere, nur dem schönen Schein dienende Kooperation, geeignet als Gelegenheit für Gruppenfotos für die Presse. Doch etwa im Falle der großen Migrationskrise von 2015 oder im Verhältnis zum gemeinsamen energie‑ und klimapolitischen Programm der EU (aus dem schließlich das Paket „Fit for 55“ wurde) sprachen die vier mitteleuropäischen Hauptstädte tatsächlich mit einer Stimme.

So verhält es sich aktuell nicht und wird es in naher Zukunft wohl auch nicht mehr sein. Nach der Wahlniederlage von Ministerpräsident Andrej Babiš setzen die Tschechen ganz auf den Westen. Der neue Regierungschef Petr Fiala hielt bereits bei Regierungsantritt im Januar 2022 fest, die Visegrád-Kooperation sei „nicht alles“: „Wir möchten auch mit anderen europäischen Ländern gute Beziehungen herstellen, ein wichtiger Akteur in der EU sein, Koalitionen anhand gemeinsamer Interessen bei Fragen formieren, die wichtig für Tschechien sind und über die wir uns mit anderen europäischen Ländern einig sind.“ Diese prowestliche und damit proukrainische Haltung Tschechiens wurde durch den symbolträchtigen Besuch des tschechischen Außenministers Jan Lipavský von der Piratenpartei bestätigt, der gemeinsam mit dem slowakischen Außenminister Ivan Korčok und seinem österreichischen Amtskollegen Alexander Schallenberg noch vor Kriegsausbruch, nämlich Anfang Februar diesen Jahres, Kiew und den Donbas besuchte.

Ähnlich äußert und verhält sich die neue slowakische Regierung unter Ministerpräsident Eduard Heger, ganz zu schweigen von der slowakischen Präsidentin Zuzana Čaputová, die hinter der europäischen Integration steht und sich zufrieden mit dem Beitritt der Slowakei zur Eurozone zeigt, als einzigem V4-Land. Und das, obwohl die Slowakei noch viel stärker als Ungarn und praktisch zu hundert Prozent von russischen Energielieferungen abhängt.

Die wachsenden Spannungen innerhalb der V4 werden nicht zuletzt von Äußerungen der Regierungschefs von Polen und der Slowakei belegt, die nach einem Treffen vom 22. April Ungarns Haltung heftig kritisierten. Morawiecki sagte: „Wenn jemand gegen die gegen Russland verhängten Sanktionen protestiert, ob das nun Deutsche oder Ungarn sind, empört uns das gleichermaßen. Wir meinen, wir stehen heute an einem Wendepunkt der Geschichte Europas, und wir dürfen nicht den Kopf in den Sand stecken, wir dürfen nicht so tun, als gebe es dieses Risiko nicht, als ob Russland wirklich nur eine Militäroperation durchführe. Nein, Russland führt einen regulären, brutalen, totalen Krieg gegen die Ukrainer.“

Der für seine früheren positiven Äußerungen zu Visegrád-Gruppe bekannte Eduard Heger sagte seinerseits, zwar seien sich die V4 in vielen Punkten einig, doch mit dem Krieg in der Ukraine verhalte es sich anders. Es meinte insbesondere, in Anbetracht der jüngsten Entwicklungen und einiger Äußerungen seitens Ungarns sei er „persönlich enttäuscht“.

Ganz wie Polen und Tschechien schreckt die Slowakei nicht vor Militärhilfe für die Ukrainer zurück; bestens bewiesen durch die Lieferung von Raketen des Systems S-300 und anderes Gerät, darunter Kampf‑ und Schützenpanzer. So wie in Polen hat auch die Slowakei ukrainischen Staatsangehörigen per Sondergesetz (Lex Ukraina) ermöglicht, im Land legal eine Arbeit aufzunehmen und Sozial‑ und Gesundheitsleistungen in Anspruch zu nehmen.

Mit den V4 sieht es demnach aktuell so aus: Warschau setzt unzweideutig auf Kooperation mit den USA, macht aber im Verhältnis zur EU einen Spagat, dessen letztliches Ergebnis noch völlig offen ist. Prag und Bratislava haben sich ebenfalls dem westlichen Lager angeschlossen. Dagegen verbleibt Budapest auf der anderen Seite der Barrikade.

Zeit der Neubewertungen

Viktor Orbán hält sich unverändert an seine alte Strategie der Öffnung nach Osten und die stark propagierte Parole: „Ungarn wird nicht für den Krieg zahlen.“ Damit befinden er und seine Landsleute sich zunehmend auf der falschen Seite der Geschichte. Im Ergebnis ist Budapest zu einer Art isolierter Insel der Putinunterstützer inmitten eines geeinigten westlichen Lagers geworden; es drohen ihm Isolation, ja Pariastatus.

Alles zusammen genommen ist damit das Visegrád-Projekt zur Zeit eingefroren, zumindest was die Gipfeltreffen anbelangt. Vielleicht wird es überdauern, denn in den drei Jahrzehnten seines Bestehens ist ein ganzes Beziehungsgeflecht entstanden, vom Internationalen Visegrád-Fonds mit Sitz in Bratislava bis hin zu Städtpartnerschaften zwischen den V4-Ländern.

Am 30. Juni endet der ungarische Vorsitz der V4-Gruppe. Damit ergibt sich die Chance, die Kooperationsblockade zumindest teilweise aufzuheben. Ein neues Aufblühen wird jedoch ausbleiben, wenn Viktor Orbán bei seinen bisherigen Prioritäten bleibt, also weiter auf den Osten setzt, während der bislang polarisierte Westen sich in Reaktion auf die russische Aggression gegen die Ukraine so geschlossen wie nie zuvor zeigt.

Es ist die Zeit radikaler Neubewertungen in jedem erdenklichen Bereich. Es ist eine neue Etappe der internationalen Beziehungen, deren Ergebnisse wir noch nicht kennen können, weil der russische Angriffskrieg andauert und sein Ausgang völlig offen ist.

Vorerst wissen wir nur soviel, dass wegen der Sonderhaltung und abweichenden Politik Budapests die mitteleuropäische Solidarität und Zusammenarbeit im Rahmen von V4 ins Wanken geraten und unterminiert sind, besonders in Bezug auf NATO und die USA, aber auch auf ein weitergefasstes westliches Bündnisses gegen die russische Aggression in der Ukraine. Was danach kommen wird, werden wir erst erfahren, wenn dieser verheerende, brutale Krieg gleich hinter unserer östlichen Grenze zu Ende sein wird.

 

Aus dem Polnischen von Andreas R. Hofmann

Bogdan Góralczyk

Bogdan Góralczyk

Professor Bogdan Góralczyk ist Politologe, Sinologe, ehemaliger polnischer Botschafter und ehemaliger Direktor des Europäischen Zentrums an der Universität Warschau.

Ein Gedanke zu „Solidarität in Scherben. Bruchlinien in der Visegrád-Gruppe“

  1. Die aktuellen Befindlichkeiten der Visegrad-Staaten kennenzulernen, finde ich angebracht, da ansonsten relativ wenig darüber zu erfahren ist. Eine gewisse Rolle spielen sie so oder so in der EU.
    Man kann gemeinhin feststellen, dass sich in der Politik eben dieser Staaten seit dem 24.02.2022 auch eine Art Zeiten-Wende eingestellt hat.
    Wen wundert das, zumal die Politik bis hin zu den USA Änderungen mit sich gebracht hat. Wie stabil diese Entwicklungen sein werden, bleibt abzuwarten. Es dürfte sich aber schon jetzt abzeichnen, dass es um neue Machtkämpfe innerhalb der verschiedenen Systeme mit unterschiedlichen Ambitionen handelt. Erkennbar sind jedoch auch Wankelmütigkeiten, die Erfolg haben könnten oder aber auch nicht.
    Interessant sind darüber hinaus die nationalen Interessen, die von der Bevölkerung in den einzelnen Ländern angemahnt werden. Deren Bedeutung haben diese jedenfalls dem Vernehmen nach nicht verloren, auch nicht in Deutschland. – Solidarität nach außen hin oder her.

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert

Symbol News-Alert

Bleiben Sie informiert!

Mit dem kostenlosen Bestellen unseres Newsletters willigen Sie in unsere Datenschutzerklärung ein. Sie können sich jederzeit austragen.