Während meines Philosophiestudiums an der Jagiellonen-Universität Krakau trug ich mich mit großer Begeisterung für Lehrveranstaltungen in russischer Philosophie ein. Das war vielleicht nicht ganz zweckmäßig, denn mein eigentliches Interesse galt den großen deutschen Philosophen, allen voran Heidegger. Daher war die Vertrautheit mit russischen Autoren für mein Studium nicht unbedingt erforderlich. Wenn mir das etwas brachte, war es eine Art intellektuelles Absprungbrett und ein Blick auf eine ziemlich exotische Kontrastfolie.
Die Lehrveranstaltungen von Michał Bohun, mit dem ich mich später anfreundete, habe ich in bester Erinnerung. Eines seiner Vorlesungsthemen war „Russische Visionen von der Vernichtung des Westens“. Diese ausgesprochen erudierte Veranstaltung eröffnete einen Blick in den Abgrund des russischen 19. Jahrhunderts. In die eigentümlichen Gefilde von wahnwitzigen, von ungehemmter Fantasie angeleiteten und keinerlei Gefühl eingehegten Ideen. Gewonnen größtenteils aus dem Westen, aber merkwürdig entstellt und gegen ihre westlichen Urheber gewendet. Russisches Missionsbewusstsein; die Gewissheit, das einzige Bollwerk von Zivilisation und Moral zu sein; der Ort zu sein, von dem aus die Erneuerung der Welt ausgehen werde; dabei unverhüllte Abneigung gegen die westliche Kultur als Inbegriff moralischen Niedergangs und Zerfalls; Slawophilie und Chauvinismus; Chauvinismus und Verachtung; Hervorbringung und Rationalisierung imperialer Ansprüche und Hirngespinste. Ein überkochender Kessel an Ideen, denen Bohun eine Struktur abgewann, indem er sie um den Topos des Untergangs des Westens herum anordnete. Genau das war es, was viele der russischen Denker wollten. Wovon sie träumten, wovon sie fantasierten und woran sie sich ergötzten.
In diesen visionären, wahnwitzigen, inkonsistenten, antiwestlichen Hirngespinsten russischer Geistesgrößen gab es viel an bloß entlehnten und reaktiven Ideen. Was ursprünglich eine (gegen sich selbst gerichtete) westliche Kulturkritik war, wurde in Russland zum Vorwand für den intellektuellen Sturmlauf gegen den bewunderten und zugleich verhassten Nachbarn. Es wurde zum Instrument des Ressentiments des an seinem Inferioritätskomplex leidenden Russland. Gerichtet gegen die hochnäsige westliche „Peripherie“, die Russland sein immerhin in Anbetracht seiner Weite und Ressourcen völlig selbstverständliches Recht absprach, das „Zentrum“ der Welt zu sein.
Der wahnwitzige Angriff des aufnahmefähigen und ungeheuer erfinderischen, aber wohl gerade deshalb hemmungslosen eurasischen Apeiron auf die Rationalität der westlichen Moderne.
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Ich habe nach meiner Mitschrift der Vorlesung gesucht, leider ohne Erfolg. Ich hätte große Lust, diesen Kurs nochmals nachzuvollziehen. Jetzt, da die Russen unter Putins Führung dazu aktuell einen tragischen und erschreckenden Epilog schreiben. Ihre Begier nach Vernichtung des Westens, ohnmächtig in Anbetracht der Schwäche des Militärs und der Wirtschaft Russlands, bis nach Paris und London vorzustoßen, vollzieht sich in dem Angriff auf die Ukraine. Deren bewusste und freiwillige Entscheidung, sich dem Westen zuzuwenden, weckt die russische Furie. Und bildet den Vorwand, um wenigstens in der ukrainischen Steppe die antiwestlichen, imperialen Hirngespinste in ein reales, blutiges Armageddon zu verwandeln.
Heute wären die „Russischen Visionen von der Vernichtung des Westens“ gewiss für mich kein intellektueller Zeitvertreib mehr. Denn sie bewähren sich als Erklärung für das, was sich vor unseren Augen abspielt. Mit diesem Hintergrundwissen betrachte ich diesen Krieg nicht naiv, so wie er leider von vielen im Westen gesehen wird. Nach einer solchen Einführung in die russische Gedankenwelt kann ich die euphemistische und verlogene Phrase von „Putins Krieg“ nicht einfach unwidersprochen hinnehmen.
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Einige Wochen sind vergangen. Ich bin mit dem Schreiben nicht weitergekommen. Nicht nur deshalb, weil ich meine Notizen über die „Russischen Visionen“ nicht wiedergefunden habe. Es ist schlechterdings nicht leicht, sich in den russischen Abgrund zu stürzen, in dem sich imperiale Hirngespinste mit antiwestlicher Paranoia verbinden. Gerade jetzt, da die Ukraine, die mir geradezu physisch nahesteht, zwischen diesen beiden Zangen zermalmt wird. Ja, ich bin zutiefst überzeugt, dass das etwas Physisches ist. Und dass die Ukraine jedem Polen von Herzen nahestehen muss. Ein wenig wie das verlorene Paradies, wie das mythische Land unseres kulturellen Erbes. Dort begann so vieles für die polnische Kultur und ging auch vieles zu Ende. Hier kam unsere Unreife zum Vorschein, unsere maßlose Gier und Verachtung für das, was wir doch lieben und schätzen sollten. Dank der Ukraine langte unsere kollektive Psyche an das Mittelmeer und den Orient, langte an die Überfülle, den Windhauch der Freiheit und der Ungeniertheit. Soll ich etwa all die polnischen Schriftsteller und Künstler aufzählen, die es gar nicht gäbe, hätten sie nicht inmitten von ukrainischer Kultur und Natur gelebt? Heute ist davon nur noch eine vage Erinnerung geblieben, sprachlos und verschüttet durch die im 20. Jahrhundert gegenseitig zugefügten Verletzungen, den Streit unter Nachbarn, die Leiden und leider auch Verbrechen. Durch den Ethnonationalismus, der die wechselseitigen Ressentiments geschürt und uns einander Verlustrechnungen hat aufmachen lassen, wovon ein Ende nicht abzusehen ist… Aber das Tiefgründigste dauert in uns fort. Und daher ist es für uns unerträglich, an die durch die russische Aggression blutende Ukraine zu denken. Es ist von den vielschichtigen polnischen Phantasmagorien her gesehen so erschreckend und schmerzhaft wie der Schmerz eines einzigartigen, nahestehenden Menschen. Nunmehr werden wir gewahr, wie tief und gründlich die Ukraine unserer Identität eingeschrieben ist.
Deshalb ist es so schwierig, über den russischen Wahnwitz zu schreiben. Man möchte dieses Russland einfach zum Teufel jagen. Doch ohne Russland zu bedenken und zu durchdenken, ohne es immer wieder zu durchdenken und daran zu laborieren, werden wir verlieren. Wir und die Ukraine.
Dabei wird in Polen und der Ukraine schon lange über Russland nachgedacht. Vielleicht nicht generell, aber immer wieder finden sich Intellektuelle, die das mit kritischem Verstand, ohne Illusionen und mit einer im Westen nicht anzutreffenden Vertrautheit mit dem Gegenstand tun. Noch unlängst hatte ich Gelegenheit, mich davon zu überzeugen, als ich in meiner philosophischen Talkshow im Słowacki-Theater Oksana Sabuschko zu Gast hatte. Welcher Reichtum an Gedanken über die Ursprünge des russischen Imperialismus! Über die Funktionsweisen des russischen Makrophagen, der nur zu fressen versteht und alles vernichtet, was er verschluckt. Das dies die einzige russische Strategie von „Entwicklung“ und geopolitischen Zwecken ist. Und dass – welcher Einfall! – Russland Frankensteins Monster ist, erschaffen in den Köpfen der Kiewer Eliten des 18. Jahrhunderts und zu aller Unglück ins Leben gerufen. Zu welchem Zweck? Um die Ukraine von polnischer Herrschaft und Demütigung zu befreien. Wie Sabuschko sagt, schuf in derselben Zeit ganz unabhängig davon auch der Westen das Monster. Die deutsche und die französische Aufklärung, die hier ein Laboratorium für ihre merkwürdigen Experimente fanden. Eine Einfluss‑ und Interessensphäre. Frankensteins Monster aber rebellierte alsbald und entzog sich ihrer Kontrolle. Und es geht schon dreihundert Jahre seine bekannten Wege.
Solche Kreativität und Formbarkeit des Denkens können nur beneidet werden. Schließlich beraubt der Krieg die Menschen um die Fähigkeit dazu. Und doch geben Sabuschko und andere ukrainische Intellektuelle guten Rat! Selbst wenn sie, vollkommen verständlich, dabei traumatisiert sind, lehnen sie sich weit aus dem Fenster mit der Forderung, alles Russische zu canceln, einschließlich aller Dostojewskijs, Tschajkowskijs, Tschechows. Es ist es trotzdem wert, ihren Gründen und Erfahrungen genau zuzuhören. Es ist es wert, von ihnen etwas über Russland zu lernen. Ich warte also auf Oksana Sabuschkos neues Buch, in dem sie diese ungeheuer interessanten Fragen darlegen will. Und weil das noch etwas dauern wird, halte ich mich in der Zwischenzeit an die polnischen Intellektuellen.
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Michał Bohun war nicht mein einziger Lehrer, der mich in die Geheimnisse des russischen Geistes einweihte. Ich besuchte seine Lehrveranstaltungen, nachdem mich eine Begegnung mit Cezary Wodziński inspiriert hatte. Unter seinem Einfluss und seiner Anleitung studierte ich Heidegger und die ganze deutsche Philosophiegeschichte. Wodziński widmete sich jedoch gleichermaßen dem Studium von Deutschland und Russland. Er war an der Wende vom 20. zum 21. Jahrhundert einer der größten polnischen Denker. Er starb verfrüht, im Zerwürfnis mit den Ideologen der polnischen Rechten, unter denen sich unglücklicherweise auch einige seiner ehemaligen Schüler befinden; im polnischen öffentlichen Diskurs ist er leider heute nicht etabliert. Was schade ist, denn er hätte viel zu sagen, nicht zuletzt über Russland und seine Aggression.
Wodziński liebte Russland nicht, kam jedoch wie in Trance immer wieder darauf zurück. Sein Einleitungsessay zu einem schmalen Bändchen über Dostojewskij trägt den vielsagenden Titel „Aus Europa nach Russland und zurück“; dieser Text beleuchtet Russland mit einer Sabuschko vergleichbaren Kreativität und einem inneren Bewusstsein für die absolute Relevanz des Problems, mit dem wir es hier zu tun haben.
Russland lässt sich nicht ignorieren, nicht allein deshalb, weil es politisch und militärisch weiterhin eine Bedrohung darstellt. Es lässt sich nicht ignorieren, weil Russland unser kollektives Unbewusstes ist. Ein Unbewusstes, in das delegiert ist, wessen sich der Westen entledigt hat. Was er ausgestoßen hat. Was er erdachte, erträumte und erschuf, was er einst durchmachte und was er schließlich sich selbst verboten hat, der Folgen eingedenk. Was sich dort zusammenbraut, was dort zum Ausbruch kommt und wütet, ist Teil unserer eigenen sozialen Psyche, ein ausgeschiedener Teil, vielmehr ein abgespaltener Teil, ein herausgerissener, mit dem Skalpell der Kultur herausgeschnittener Teil, der nach Russland geschickt wurde, das zum großen Eleven unser psychischen Ausscheidungen geworden ist. Wo diese Ausscheidungen leider völlig unkontrolliert fortexistieren, wo sie sich monströs auswachsen, verwildern und restlos ausarten. Und von wo aus sie nun wieder an unsere Tür klopfen. Wo man sich an seine europäische Abstammung erinnert, an sein Recht der Zugehörigkeit und Existenz. Bedrohliche, fragmentierte Aussonderungen der kollektiven europäischen Psyche, die hier bei uns eindringen wollen. Sie wollen anerkannt werden wie ungewollte, verlassene Kinder. Und so wie diese wünschen sie mit der Anerkennung auch eine umfassende Wiedergutmachung, die alles übertrifft, was wir anzubieten imstande sind. Was zum Beispiel die Politik des „Wandels durch Handel“ anzubieten hatte. Ja, keine Wiedergutmachung wird hier ausreichen. Nur Rache, blutige Rache. Das ist Russland, das ist es, wie es uns bedroht. Ich denke, Angela Merkel spürte intuitiv, was hinter dieser Forderung steckte. Doch statt den Rat eines philosophischen Psychoanalytikers ober doch eher Schamanen wie Wodziński einzuholen, hörte sie gewiss auf irgendwelche naive, Politikwissenschaften treibenden Behavioristen und ihre eigenen deutschen Ängste vor dem Bären aus dem Osten, der um jeden Preis zu zähmen, aber unter keinen Umständen zu reizen sei.
Vielleicht ist es daher schon zu spät, denn man ist damit zu weit gegangen. Ich möchte jedoch Wodzińskis inspiriertem Essay verspätet eine Stimme geben:
„Europa sah in Russland sein Sibirien jenseits der Grenze. Russland spielte die Rolle von Europas Sibirien… Wohin wanderten jahrhundertelang die vertriebenen, ausgesiedelten, ungewollten – translozierten – Seelen der bezprizornye [russ. „Unbeaufsichtigte“, Begriff, der nach der Oktoberrevolution in Russland auf die große Zahl der durch Krieg und Bürgerkrieg eltern‑ und obdachlosen Kinder angewandt wurde; A.d.Ü.] in Europa? […] Flogen nicht von hier die grauen Seelen der Albigenser und der Katharer dorthin, der Bogomilen und Hugenotten, der Arianer und böhmischen Brüder, ja sogar die Dibbuks aus den Landen der Aschkenasim und den fernen Ländern der Sephardim? Als die Scheiterhaufen brannten, wehte der Wind von West nach Ost. Wo, wenn nicht in Europas Sibirien, sammelten sich die im Westen zu Asche verbrannten Überreste? Wo befand sich das größte Lager radioaktiver Substanzen? Wohin führen wir bis heute unsere radioaktiven Abfälle aus? Was hier nicht benötigt wurde, verflüchtigte sich mit den Luftströmen und wurde dort der Nutzung zugeführt. Die Seelen der ungewollten Vorfahren, die unbequemen, beschmutzten, ungewaschenen Seelen wurden dorthin auf die Kehrichthaufen und die grabsteinlosen Friedhöfe deportiert. Dort setzten sie sich wie schwarzer Ruß auf dem weißen Schnee ab, der mit dem Kommen des Frühjahrs tauen würde. Europas Sibirien war aufnahmefähig wie ein Fass ohne Boden, es verschlang unter seinem weißen Leichentuch alles, was Europa ausstieß, was es vermeintlich nicht verdauen konnte.“
Und weiter: „Wir wundern uns ein jedes Mal, dass sie kommen – von dort. Wobei sie doch, die späten und neu benamten Nachfahren der Umsiedler und Flüchtlinge, eigentlich nach Haus zurückkehren. In ihre vergessene Heimat. Und sich ihres verlorenen Habitats erinnern. Ihr ungebetener Besuch ist wie jener ,zurückkehrende Wind‘.“
Und dann noch: „Die Menge der russischen Mischlinge, das sind unsere Fehlgeburten. Alle von West nach Ost deportierten Ideen puppten sich dort ein und kehrten hierher in Gestalt von Schmeißfliegen und vielköpfigen Kälbern zurück. In der Sorge um seine Reinheit exportierte der Geist des Westens seine schmutzigen und dunklen Ausscheidungen in den Osten. Vielleicht verlor er dort seine Seele…“
Die Pointe war erschütternd und sah im Jahre 2005, als Wodziński dies schrieb, die Unvermeidlichkeit der bestialischen Invasion voraus, die sich vor unseren Augen abspielt. Das einzige, was er nicht vorhersah, ist, dass sie stellvertretend (aufgrund der militärischen Schwäche Russlands) die unschuldige Ukraine treffen würde: „Es sollte uns nicht wundern, dass uns die Gespenster ex Oriente heimsuchen, schließlich sind sie unsere eigenen, einst in den Osten verbannten Albträume. […] Die unehelichen Kinder haben das Recht, nach ihren unverheirateten Eltern zu fragen. […] Ob das bleiche Händchen im Spitzenhandschuh es vermag, sich mit seinen verschmähten Geschwistern zu verständigen – mit der groben Axt? Der Einsatz ist wie gewöhnlich die Menge Blutes, die diesmal eher in Ozeanen als in Meeren gemessen werden wird.“
Nur wieso, so müssen wir fragen, muss das das Blut unschuldiger ukrainischer Zivilisten sein und nicht unseres? Schließlich geht es doch um die „Vernichtung des Westens“. Um das Verlangen, sich an uns zu rächen, was psychoanalytisch gesprochen leider überhaupt kein Zufall ist.
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Hier sind einige wahnwitzige und unmenschlich eindringliche Gedanken, die nur das schreckliche Orakel von Delphi Wodziński hat diktieren können. Oder eher ein russischer Dämon in der Art von Dostojewskij. Wie man es auch nennen mag… Die Stimme aus dem Abgrund spricht beunruhigende Worte. Wie Worte der Kassandra, denn wer hier im Westen ist fähig, sie zu akzeptieren? Denn was dann? Vielleicht sind der Westen mit seinem Humanitarismus und Russland, wie es sich in Butscha und Mariupol austobt, nur zwei getrennte Aspekte von ein und demselben? Zwei Persönlichkeiten, zwei Antlitze eines einzigen psychopathischen Ungetüms? Dr. Jekyll und Mr. Hyde? Solche Insinuationen!? Mit welchem Recht!
Und doch müssen solche Überlegungen heute angestellt werden. Wir sollten es uns leisten können, dahin zu gelangen. Im Namen von Reife und Ehrlichkeit. Aber auch aus ganz praktischen Gründen. Denn wie sonst ließe sich die deutsche Halsstarrigkeit und schwer zu verbergende Freude daran erklären, den Bären zu füttern, der zumindest seit 2008 ganz offen erklärte, nichts werde ihn von seiner imperialen Aggression abhalten? Geht es nicht zufällig um die eigenen, unterdrückten Großmacht‑ und Gewaltfantasien? Die, abgestorben und ausgetilgt in Deutschland, munter im Kreml fortexistieren? War es nicht deshalb für Deutschland von so hypnotischer Wirkung, mit ihnen zu flirten? Und Macron und seine Empathie für Putin, welche diese erschütternden und unvergesslichen Worte diktierte, Putin müsse „etwas bekommen“, damit er „sein Gesicht wahren“ könne? Lässt sich das rational erklären? Oder vielleicht macht hier mit lauter Stimme auf sich aufmerksam ein vor langer Zeit verletzter französischer Stolz, der endgültig von der Abtrennung seiner eigenen, der nordafrikanischen Ukraine gebrochen wurde? Und der italienische Appell an die Ukrainer, sich zu ergeben, um Leben zu retten, ein Appell, der oh Schreck ausgerechnet nach der Enthüllung des Massakers von Butscha laut wurde? Ja, gerade in diesem Augenblick! Aus welchen Schichten eines abgespaltenen Masochismus das wohl stammen mag? Aus welcher im Inneren nicht verarbeiteten, nicht eingestandenen, schändlichen Kapitulation? Aus der am Ende des Kriegs vor den USA? Ein Grausen kann befallen, wer bedenkt, was sich hier Geltung verschafft. Und das sind nur drei Beispiele, ganz auf’s Geratewohl gewählt…
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Wodziński postulierte, es sei an der „Zeit, unsere hermeneutischen Werkzeuge zu schärfen“. Aus der russischen Sackgasse können wir nur auf dem Wege des Verstehens herauskommen. Eines solchen jedoch, das keine gelehrten und tröstlichen „Erklärungen“ und elegant klingenden, beruhigenden „Analysen“ sucht. Sondern den Mut hat, sich in den Abgrund zu begeben. Mit der Axt des Gedankens den zubetonierten Deckel des Brunnenschachts zu zerschlagen. Sich in die Tiefe der zerstörten Geisteslandschaft hinunterzubegeben, die voller abgespaltener und, wie Wodziński schreibt, „zerstörter Fragmente“ unserer eigenen westlichen Seele ist. „Die apokalyptische Gefahr ist so nah, diesmal entgegen den Zeichen am Himmel, aber entsprechend den Zeichen auf der Erde, dass sie das Risiko rechtfertigt.“
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Postscriptum: Ich denke, dies ist der schlechteste Augenblick, um Dostojewskij und überhaupt die große russische Literatur zu canceln. Denn wenn es einen Weg in diesen Abgrund gibt, eine Möglichkeit hineinzuschauen – dann weist sie den Weg.
Alle Zitate aus: Cezary Wodziński, „Trans, Dostojewski, Rosja, czyli o filozofowaniu siekierą [Trans, Dostojewskij, Russland, oder über das Philosophieren mit der Axt]“, Gdańsk 2018.
Aus dem Polnischen von Andreas R. Hofmann
Ein durchaus lesenswerter Beitrag, wenngleich sehr durch die polnische Brille gesehen. Wogegen ja grundsätzlich nichts einzuwenden wäre… Allerdings ausgerechnet Oksana Sabuschko als verlässliche und überaus lesenswerte Autorin bzw. authentische Zeugin ukrainischer Lebensverhältnisse wie auch russischer Kultur-/Literaturgeschichte zu preisen, halte ich für waghalsig und in der Tat „zu weit aus dem Fenster gelehnt“.
Dem Autor Augustyniak sei anempfohlen, sich den Artikel seines journalistischen Kollegen Jens Herlth in der NZZ vom 8.Mai 2022 zu Gemüte zu führen, der den Titel trägt: „Was kann denn Tolstoi dafür? Eine Antwort auf Oksana Sabuschkos Polemik…“
So kann man die Dinge eben auch sehen, ohne erneut in aufgeregte Polemik zu verfallen, selbst wenn diese mit unwiderlegbaren Fakten gespickt sein sollte.