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Die drei Sorgen des Onkel Xi

Alles lief so wunderbar! Das chinesische Wirtschaftswachstum ging auf wie Hefeteig. Nach dem Beitritt zur Welthandelsorganisation (WTO) im Dezember 2001 war das jährliche Wachstum regelmäßig zweistellig. So war klar, als an der Jahreswende 2012/13 die „fünfte Führergeneration“ unter Xi Jinping an die Macht kam, dass diese mit der bis dato üblichen Zurückhaltung und dem Minimalismus ein Ende machen und Selbstsicherheit und Durchsetzungsstärke an ihre Stelle setzen würde. Einige Jahre später zitierte Xi höchstpersönlich Mao Zedong und seinen berühmten Ausspruch bei der Proklamierung der Volksrepublik China: „China hat sich von den Knien erhoben!“

Erste Sorge: Taiwan

Getragen von diesem Schwung, verkündete Xi Jinping 2013 die in eine große geostrategische Vision gekleidete „Neue Seidenstraße“ (Belt and Road Initiative, BRI), die eigentlich in zwei Trassen verlaufen soll, nämlich einer zu Land und einer zur See. Das roch nach einer Rückkehr zu den Begriffen von Herzland (heartland) und Randland (rimland) der Väter der Geopolitik, Halford J. Mackinder und Nicholas Spykman. Insbesondere bei US-amerikanischen Beobachter kam schnell der Verdacht auf, es handle sich um nichts anderes als den Versuch, die Kontrolle über das gesamte eurasische Landmassiv zu gewinnen, womit das Konzept eine Bedrohung für die US-amerikanische globale Hegemonie darstellte.

Nachdem sich die US-Eliten lange Zeit für Reformen und die Transformation in China interessiert hatten, zunächst aus geheimdienstlicher Sicht (Michael Pillsbury), dann akademisch (Graham T. Allison), schließlich auch politisch (Donald Trump), verstanden sie schließlich, dass den USA unaufhaltsam ein mächtiger Rivale erwuchs. Eine Herausforderung, die Allison treffend in die Formel der „Falle des Thukydides“ kleidete [mit der er die Wahrscheinlichkeit eines Kriegs zwischen einer aufkommenden Großmacht und einem bestehenden Hegemon bezeichnet; A.d.Ü.] und Pillsbury einen „Jahrhundertmarathon“ nannte.

Donald Trump war von den ungeheuren chinesischen Handelsüberschüssen besonders irritiert (418 Milliarden US-Dollar 2018) und führte umgehend einen Strategiewechsel herbei, indem er die von vorherigen US-Administrationen verfolgte Wertepolitik in eine solche der bloßen Interessen (bilateral deal) umwandelte. So vollzog er im Verhältnis zu China von der seit Richard Nixons berühmten China-Besuch von 1972 bestehenden Ära des Engagements einen Epochenwechsel, einen Übergang zu „strategischer Rivalität“. An die Stelle des alten Idealismus trat das harte Spiel um Interessen, eine klassische Machtpolitik im Großmachtstil (hard power).

Dies brachte einen bis heute andauernden Handels‑ und Zollkrieg mit sich, der sich während der Corona-Pandemie auf zwei weitere Bereiche ausdehnte: einen seither immer schärfer werdenden, in den Medien ausgetragenen Propagandakrieg, der jetzt schon häufig als „neuer Kalter Krieg“ gilt; sowie eine immer klarer hervortretende Auseinandersetzung in einer höchst sensiblen Sphäre, nämlich der Hightech (Raumfahrt, seltene Erden, AI usw.) – dies veranlasste die Streitigkeiten um den chinesischen Konzern Huawei, den 5G-Mobilfunk und selbst um die Internetplattform TikTok.

Bei allseits wachsenden Spannungen kam eine die Beziehungen zwischen China und den USA immer schon bestimmende Frage wieder auf die Tagesordnung, nämlich die Zukunft Taiwans. Die Taiwan-Frage war das zentrale Problem vor der Veröffentlichung des bekannten Shanghai-Kommuniqués nach Nixons Besuch, und genauso vor der Normalisierung der Beziehungen (1. Januar 1979), was die bereits zugänglichen US-Archive sowie die Memoiren Zbigniew Brzezińskis, des für diesen Vorgang zuständigen amerikanischen Vertreters, belegen.

Die Frage kam deshalb wieder auf die Tagesordnung, weil der seiner Macht und Bedeutung immer gewissere und zudem alleinregierende Xi Jinping bereits am Beginn seiner Alleinherrschaft die Parole vom „chinesischen Traum“ (Zhongguo meng) aufbrachte, die er seither zu einer anderen Vision umgedeutet hat, derjenigen der „großen Wiedergeburt der chinesischen Nation“. Dabei war von Anfang an klar, es werde keine „Wiedergeburt“ geben, wenn auf beiden Seiten der Meerenge von Taiwan zwei unterschiedliche Staatsorganismen weiterbestehen würden, nämlich die Volksrepublik China (die auch als Kontinentalchina oder kommunistisches China firmiert), sowie die Chinesische Republik Taiwan als Nachfolgerin der alten republikanischen Regierung, die seit 1912 bzw. 1928 bis 1949 bestand.

Allein – die US-Amerikaner hatten die Insel, das frühere Formosa, bereits zur Zeit des Koreakriegs zu ihrem „unsinkbaren Flugzeugträger“ erkoren. Als sie später gemeinsame Sache mit China gegen die UdSSR machten und nach der Öffnung des Landes für fremde Märkte und Kapital seit 1992 gemeinsame Geschäfte, wurde es etwas stiller um die Taiwanfrage. Jetzt jedoch ist sie mit voller Wucht zurückgekehrt, zumal seit Peking 2019/20 das Aufbegehren der Jugend und Intelligenz von Hongkong niedergeschlagen hat.

Hongkong wurde der volkschinesischen Gesetzgebung unterstellt, was allerdings damit erkauft ist, dass die Bevölkerung von Taiwan ein erneuertes Selbstbewusstsein zeigt; denn die Taiwanesen sind keineswegs so offen für eine „friedliche Wiedervereinigung“ mit der Volksrepublik China, wie dies vielleicht vorher den Anschein hatte.

Zweite Sorge: Putin

Die eskalierende Auseinandersetzung mit den Amerikanern beschleunigte die Annäherung Chinas an die Russische Föderation, während die fast gleichaltrigen Xi Jinping und Wladimir Putin häufige Treffen absolvierten und sich auch persönlich näherkamen. Dergestalt, dass sie am 4. Februar diesen Jahres, dem Tag, an dem in Peking die Olympischen Winterspiele eröffnet wurden, ein gemeinsames Kommuniqué herausgaben, das nichts Geringeres als die Umrisse einer neuen Weltordnung präsentiert, die auf einer einfachen Dichotomie fußt: die liberalen Demokratien des Westens gegen die illiberalen Autokratien des Ostens. Letztere und besonders China sind zudem absolut davon überzeugt, sie seien funktionstüchtiger und effektiver als der „zerfallende“ Westen – siehe die chaotische Trump-Administration, siehe den dramatischen Abzug aus Afghanistan, siehe Brexit, die ständigen Turbulenzen innerhalb der EU usw.

Im Falle Russlands und seines Alleinherrschers Wladimir Putin lief dieses Kalkül auf eine historische Zäsur hinaus (woran jetzt schon kein Zweifel besteht), nämlich seine Aggression gegen die Ukraine. Nach Auffassung des Kremls war die Ukraine schwach, von Korruption zerfressen, nicht ernst zu nehmen (mit einem Schauspieler als Präsidenten), zudem auch noch antirussisch, nationalistisch und gar „faschistisch“, wie die Propaganda den russländischen Bürgern ohne Unterlass eintrichterte.

Wir wissen nicht, welche Einzelabsprachen es in dieser Hinsicht zwischen China und Russland gab. Wir wissen, dass die Invasion unmittelbar nach Ende der Winterspiele begann. Als der Krieg ausbrach, verhehlten die Chinesen nicht ihre Freude, und ihre Propaganda ergriff ganz und gar für Russland Partei. Man erwartete einen Blitzkrieg, die Flucht Wolodymyr Zelenskyjs aus dem Land und die schnelle Einnahme Kiews – alles namens der „Sammlung der russischen Lande“.

Doch dann lief alles ganz anders. Putin und seine an Motivation mangelnde Armee verbockten die Sache. Der Blitzkrieg wurde zum langen Konflikt, der sich Monate, womöglich Jahre hinziehen und der noch wer weiß was für Effekte zeitigen kann. Das hat die chinesische Führung und Bevölkerung ziemlich überrascht. Die Euphorie, die Russen verabreichten dem Westen eine Tracht – das war schließlich das chinesische Kalkül, dem es gar nicht besonders um die Ukraine an sich ging – war rasch verflogen; man kehrte eiligst zur Vorsicht zurück, zur Haltung des bloßen Beobachters und zur kalten Berechnung. Denn heute ist noch nicht klar, wann und wie dieser Krieg beendet werden wird, und so gilt wieder die alte chinesische Weisheit, beizeiten besser auf Seiten des Siegers zu stehen.

Bislang waren die Ergebnisse für Wladimir Putin durchaus kontraproduktiv: Er erreichte keinen Blitzsieg, einigte die Ukrainer, deren Nation sich vor unseren Augen in Schmerz, Kampf, Blut und Tränen entwickelt, und zusätzlich einigte er auch noch den Westen, und zwar unter Kuratel der Amerikaner, was in den Augen der chinesischen Führung nun wirklich ein Albtraum ist. Die redet zwar von der Ukraine, aber im Sinn hat sie doch unweigerlich Taiwan oder die USA, die jetzt nicht nur stärker werden, sondern zusätzliche Bündnisse aufzubauen beginnen, insbesondere in der Asien-Pazifik-Region; darunter fallen Militärallianzen wie AUKUS mit Australien und Großbritannien sowie QUAD mit Australien, Indien und Japan, daneben Wirtschaftsbündnisse im Rahmen einer erweiterten indopazifischen Konzeption (IPEF).

Der neue US-Präsident Joe Biden realisierte seine Vorstellungen, wie sie in seinem Ausspruch „America is back“ zum Ausdruck kommen. Die USA sind in Europa wie auch im asiatisch-pazifischen Raum wieder präsent, und noch dazu führen sie, wie es unlängst US-Außenminister Antony Blinken definierte, eine neue Strategie ein, die auf drei Formeln beruht: Investiere, suche Verbündete und konkurriere (invest, align and compete). Anders gesagt: Investiere in Produkte und Branchen in Konkurrenz mit China, suche Verbündete gegen China und bei Gelegenheit gleich noch gegen Russland und konkurriere, wo es nur geht, natürlich auch mit China.

Das sollte reichen, um Peking einige Kopfschmerzen zu bereiten.

Dritte Sorge: Die Pandemie

Unterdessen hatte sich China völlig überraschend noch einer dritten Herausforderung zu stellen, nämlich der Rückkehr der Covid-Pandemie.

Bekanntlich war die Pandemie in China ausgebrochen, in der Stadt Wuhan und Umgebung. Das anfängliche, bis heute unerklärlich lange Schweigen der Regierung in Peking nach dem Ausbruch sorgte für einige Beunruhigung der chinesischen Eliten, die eine Erklärung verlangten, wieso Gegenmaßnahmen so spät eingeleitet wurden, und, wenn auch mit weniger Nachdruck, wieso diese so radikal ausfielen.

Der immer selbstgewissere und die gesamte Macht in seinen Händen konzentrierende Xi Jinping setzte jedoch die Strategie der „Nulltoleranz für Covid“ durch, deren Mittel so radikal wie brutal waren. Sie erwiesen sich jedoch nochmals als wirksam. Am 8. September überreichte der Staatspräsident persönlich den im Kampf gegen die Pandemie verdientesten Personen im Parlamentsgebäude große Orden und verkündete das Ende der Pandemie.

Seither funktionierte das Land in der Tat wieder einigermaßen normal, und noch wichtiger, nach kurzer Rezession kehrte das Land auf den Wachstumspfad zurück. Die Propaganda kontrastierte unermüdlich die chinesischen Erfolge mit den Problemen des Westens und besonders der USA, in denen eine Millionen Covid-Tote zu beklagen waren.

Und dann kam es zu der unangenehmen Überraschung. Wie sich zeigte, wirkte das chinesische Vakzin, das schwächer als die westlichen Pendants war, nicht so gut gegen die neue Mutation, das Omikron-Virus. Doch „Onkel Xi“ (Xi Dada), wie ihn Propaganda und Karaoke-Hits bis unlängst nannten, versteifte sich und nutzte seine Position des „Vorsitzenden von allem“ (allerdings nur ein ihm vom Westen angehängter zweifelhafter Titel), um die Nulltoleranz-Strategie einmal mehr durchzusetzen. Das führte dazu, dass von einem Augenblick zum nächsten die 26-Millionen-Metropole Shanghai in den Lockdown ging, und zwar vom 28. März an mehr als zwei Monate lang. Während ich dies schreibe, werden gerade die Restriktionen gelockert, doch die Stadt ist immer noch weitgehend geschlossen, und eine ähnliche Lage besteht im Süden in Shenzhen und Hongkong, und jetzt droht der Lockdown auch noch Peking. Niemand kann die Kosten dieses Experimentes voraussagen, denn die Lage bleibt im Fluss, doch es gibt bereits Schätzungen, das für dieses Jahr vorausgesagte Wirtschaftswachstum könne auf null fallen. Die plötzliche Schließung von Arbeitsstätten und die Zernierung von Menschen in ihren Wohnsiedlungen führte dazu, dass sich erste Anzeichen für eine echte Rebellion in der Gesellschaft zeigten, anfangs schlicht, weil die Leute Hunger hatten, denn die Lebensmittellieferungen über das Internet waren überlastet. Trotz Zensur macht sich in Medien und sozialen Netzwerken Unzufriedenheit über die Therapie und Strategie der Nulltoleranz Luft, mit anderen Worten wird indirekt die Politik der Zentralregierung in Frage gestellt.

Diese Unruhe hat sich in die höhere Machtsphäre übertragen; belegt wird das etwa durch das plötzliche Auftreten des bislang eher marginalisierten Ministerpräsidenten Li Keqiang, der sein Amt im Frühjahr nächsten Jahres abgeben soll. Zwischen den Zeilen, und in China ist das ein Zeichen, ein Symbol, etwas Unausgesprochenes oder eine in einem Schriftzeichen mitgelieferte Konnotation, wurde plötzlich die Unfehlbarkeit des Onkel Xi in Frage gestellt. Es bleibt spannend, was wir in diesem Jahr noch zu erwarten haben. Denn gegen Ende des Jahres, das genaue Datum ist noch nicht bekannt, soll der 20. Kongress der Kommunistischen Partei Chinas stattfinden, wie gewöhnlich mit allem zeremoniellem Pomp. Es ist vorgesehen, dass dieser Xi Jiping zum neuen Kaiser in kommunistischer Ausgabe krönt, das heißt seine Amtszeit von der Begrenzung auf zweimal fünf Jahre entbindet, die gerade an ihr Ende kommen.

Die genannten Kopfschmerzen bereitenden Sorgen führen dazu, dass dem Anschein entgegen noch nichts endgültig entschieden ist. Die informellen Besprechungen der höchsten Stellen im Sommerferienort Beidahe könnten besonders gewichtig und stürmisch ausfallen. Wir müssen den Finger am Puls halten, denn nicht nur die USA befinden sich im Zustand der Polarisierung, ja der Turbulenz, wie die chinesische Propaganda schon lange wusste. Jetzt hat dieser Zustand auch auf den zweitgrößten Akteur auf dem Globus übergegriffen, was nur indirekt auf die Lage in der Ukraine zurückgeht, die, von uns aus gesehen, alles übrige praktisch überdeckt hat. Doch jenseits unseres Gesichtskreises spielt sich noch viel Interessantes ab, auch wenn das wie gewöhnlich hinter einem Bambusvorhang geschieht.

 

Aus dem Polnischen von Andreas R. Hofmann

Bogdan Góralczyk

Bogdan Góralczyk

Professor Bogdan Góralczyk ist Politologe, Sinologe, ehemaliger polnischer Botschafter und ehemaliger Direktor des Europäischen Zentrums an der Universität Warschau.

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