Als vor nicht ganz zwei Jahren der bundesdeutsche Botschafter in Polen Arndt Freytag von Loringhoven nach langem Warten endlich gemäß internationalen diplomatischen Gepflogenheiten sein Agrément erhalten hatte, also das Einverständnis der polnischen Regierung mit seiner Übernahme des Botschafteramtes, und offiziell nach Warschau kommen konnte, war das Auffälligste an den Aktivitäten des neuen Botschafters, wie häufig er Blumen und Kränze an Denkmälern für die polnischen Opfer der deutschen Nazibesatzung niederlegte. In einem Radiointerview sagte ich damals, in der deutschen Botschaft sei offenbar eine Abteilung für Entschuldigungswesen tätig. Allein, die ständigen Entschuldigungen für Krieg und Besatzung von der einen Seite und das obsessive Beharren auf dem Thema Krieg und Besatzung auf der anderen waren längst furchtbar langweilig, ritualisiert und bedeutungslos geworden. Ich bin fest davon überzeugt, dass der deutsche Botschafter seine Entschuldigungsgesten mit voller Aufrichtigkeit absolvierte, doch der deutsch-polnische Dialog kann sich 77 Jahre nach Kriegsende und 83 Jahre nach Kriegsbeginn nicht auf ewige Entschuldigungen beschränken, insbesondere wenn gleichzeitig daraus keine entsprechenden historischen Lehren gezogen werden.
In Polen läuft seit einigen Jahren eine hysterische antideutsche Propagandakampagne. Die Regierung der Partei „Recht und Gerechtigkeit“ (PiS) oder genauer gesagt die völlig von der Regierung abhängigen, radikal parteiischen sogenannten öffentlichen Medien in Polen überschreiten dabei alle Grenzen des Verstands und Anstands. Die Deutschen werden nicht allein als Erben, vielmehr als Fortführer der Politik NS-Deutschlands hingestellt; ihr Ziel sei die Dominanz in Europa, ihre Methode die Verschwörung mit Russland, ihr Urmotiv eine tief verwurzelte Verachtung für die Polen. Dieses Narrativ ist objektiv beleidigend und ehrenrührig, und einem vernünftigen, wohlmeinenden und doch gegenüber Deutschland nicht unkritischen Polen verursacht es mindestens Verlegenheit und Unbehagen. Dieses Narrativ ist vor allem schändlich, denn einem vernünftigen Menschen bereitet es immer Scham zu beobachten, wie sein Land Dummheiten begeht. Die antideutsche Propaganda ist aus zwei Gründen idiotisch. Erstens übergeht sie völlig die Tatsache, dass unabhängig von bestimmten Vorbehalten, auf die gleich noch zurückzukommen sein wird, Deutschland ein demokratischer Staat und ein Verbündeter Polens im Rahmen von EU und NATO ist. Zweitens ist die Propaganda völlig kontraproduktiv. Wenn es nämlich Polens Ziel sein sollte, eine wirklich deutsch-polnische Partnerschaft zu gewinnen, wird es das Land diesem Ziel gewiss nicht näherbringen, den Nachbarn zu beleidigen.
Leider bietet die deutsche Seite seit Jahren schon keine echte Partnerschaft mehr an, sondern etwas, was ich einmal als Ersatzdialog bezeichnen möchte. Ganz offenkundig sind die Deutschen der Meinung, wenn sie nur häufig genug die Polen um Verzeihung bitten für Hitler, den Krieg, die Massenmorde von Piaśnica, das Massaker im Warschauer Stadtteil Wola und die Greuel des Pawiak-Gefängnisses, dann werde das schon ausreichen. Doch wächst unterdessen in Polen längst eine Generation heran, die nicht nur selbst keine Erinnerung an den Krieg mehr hat, sondern deren Eltern und vielfach auch schon Großeltern den Krieg nicht mehr selbst erlebt haben. Geradeheraus gesagt, rituelle Bitten um Verzeihung sind längst passé und bringen ganz offen gesagt nur dem Anschein nach etwas. In Wahrheit quittieren die Leute so etwas meist nur noch mit einem Schulterzucken.
Dafür gibt es mehrere Gründe. Ersten sehen wir leider beim Blick auf die deutsche Russlandpolitik, dass das viele Um-Verzeihung-Bitten nicht bedeutet, auch die richtigen Schlüsse zu ziehen. Zweitens bitten die Deutschen die Polen leider anders um Verzeihung als zum Beispiel die Juden. Wenn noch vielleicht der Unterschied darin zu begreifen ist, dass NS-Deutschland ausnahmslos alle Juden ermorden wollte, während von den Polen „nur einige“ umgebracht werden sollten, so ist doch schwer zu begreifen, dass bis heute kaum jemand in Deutschland überhaupt weiß, was in den Wäldern von Piaśnica in der Nähe von Wejherowo geschah, wo nicht etwa die SS, sondern die deutschen Nachbarn tausende Polen ermordeten. Es ist schwer zu akzeptieren, dass fast niemand in Deutschland vom Wola-Massaker auch nur gehört hat.
Es wäre gut, wenn die Bundesrepublik sich nicht mehr rund um die Uhr entschuldigen würde, sondern ein einziges Mal, aber aus vollem Herzen, ein einziges Mal, aber konkret, ein einziges Mal, aber endlich ohne die Opfer in bessere und weniger wichtige, nämlich polnische Opfer einzuteilen, und wenn sie endlich aufhören würde, einen Rassisten wie den Obersten von Stauffenberg zum Helden zu machen. Es wäre aber vor allem gut, wenn die Deutschen Schlüsse aus dem zögen, wofür sie sich entschuldigen. Das verlangt aber einen veränderten Blick auf Russland.
Die Haltung Deutschlands zu Russland wird unterdessen zum Grundproblem in den bilateralen Beziehungen. Jahrelang hörten die Polen vollkommen unwahre, elementarer Logik widersprechende Zusicherungen wie etwa, Nord Stream sei ein Unternehmensprojekt, kein politisches, und die wachsende Abhängigkeit von russischen Energielieferungen habe keine negativen Auswirkungen auf die Sicherheit des Westens. Diese Behauptungen wurden sogar von offiziellen Programmdokumenten zur russischen Außenpolitik widerlegt, die unzweideutig davon sprachen, dass Russland seine Rohstoffe als politisches Instrument einsetze. Selbst wenn wir diese Dokumente einmal außer Acht lassen, lässt die Praxis der russischen Außenpolitik selbst keinen Zweifel daran, dass Russland ein ausgesprochen revanchistischer und zur Aggression fähiger Staat ist.
Obwohl die Partnerländer Berlin vielfach darauf hinwiesen, dass es eine gefährliche Politik betreibe, reagierte die Bundesrepublik überhaupt nicht auf die Warnungen ihrer Verbündeten in NATO und Europäischer Union. Jetzt ist aus der deutschen Politik Selbstkritik zu vernehmen. Doch ist andererseits immer noch keine Antwort auf die entscheidende Frage zu hören, wieso Deutschland eine derart unvernünftige Politik betrieb. Darauf gibt es im Prinzip zwei unterschiedliche Antworten. Zum einen, dass Deutschland durch Russland korrumpiert wurde; zum andern, dass Deutschland sich im Grunde nie von seiner fatalen Faszination für Russland befreit hat.
Die erstere Antwort wäre eine ausgesprochen dramatische; denn schließlich wäre es ein Drama, wenn sich herausstellte, die Gier nach Luxus einiger weniger Politiker habe die Politik einer europäischen Vormacht angeleitet; aber aus polnischer Sicht wäre das eine im Grund genommen sehr optimistische Antwort. Es würde nämlich bedeuten, dass sich Deutschland relativ leicht davon befreien und schließlich doch rational handeln könne. Es war nämlich immer schon geradewegs irrational, wie Deutschland sein Verhältnis zu Russland über seine Beziehungen zu den ostmitteleuropäischen Ländern stellte. Nicht etwa, weil wir uns selbst so hoch einstufen, was uns Polen natürlich gelegentlich unterläuft, sondern, weil die Bundesrepublik mit Polen allein bereits ein um ein Dreifaches höheres Handelsvolumen hatte als mit Russland, unmittelbar bevor dieses die Ukraine überfiel; nehmen wir Ostmitteleuropa als Ganzes, lag das Handelsvolumen beim Achtfachen. Schließlich sind Polen, Tschechien, die Slowakei, die baltischen Staaten und anderen Länder der Region Verbündete Deutschlands in Europäischer Union und NATO. Und schließlich sind wir immerhin wenn auch nicht immer ideale Demokratien, nicht dagegen das diktatorisch geführte Russland. In Russland, nicht bei uns, vergiftet man Oppositionsführer oder wirft sie ins Gefängnis, und Russland, nicht etwa Polen, ordnet Attentate im Berliner Tiergarten an. Das alles war jedoch für Deutschland ohne Bedeutung, und wenn es eine Wahl zu treffen hatte, wählte es stets Russland. Da wäre es schon die bessere Option, wenn das allein auf Korruption zurückzuführen wäre. Denn die zweite Möglichkeit würde so viel bedeuten, dass die Deutschen immer noch an ihrer fatalen Bewunderung für Russland litten. Doch wenn sich dies tatsächlich so verhielte, hieße das, dass wir den Deutschen nicht trauen können. Leider tun die Deutschen alles, um uns genau dies nahezulegen.
Vor die Wahl gestellt, sich zwischen Russland und der Ukraine zu entscheiden, führen die Deutschen zwar Sanktionen ein, winden und drehen sich jedoch bei der Lieferung von Waffen an die Ukraine. Es ist geradezu skandalös, wenn die Deutschen der Ukraine keine Waffen liefern wollen, weil sie an die deutsche Schuld an den Russen denken und nicht wollen, dass Russen erneut durch deutsche Waffen sterben. Unübersehbar werden einmal mehr die Opfer aufgeteilt in wichtigere, einer besonderen Erinnerung würdige, und weniger wichtige, in diesem Falle die Ukrainer, die von NS-Deutschland genauso ermordet wurden wie die Russen, was wir an dieser Stelle in Erinnerung rufen sollten.
Noch schlimmer, so wird neuerdings ein Unterschied zwischen dem bösen Wladimir Putin und den guten Russen gemacht. Nur dass die allermeisten Russen den Krieg Wladimir Putins befürworten. Es ist an der Zeit, das endlich zur Kenntnis zu nehmen. Man kann und soll sich für Puschkin, Tschajkowskij und Turgenew begeistern, aber es wäre vorsichtig ausgedrückt unerhört unvernünftig, das Russland von heute durch diese Linse zu betrachten. Das Russland von heute hat nämlich mit keinem dieser großen Künstler irgendetwas gemein. Russland ist ein Land des systemischen Rassismus, Sexismus, der aggressiven Homophobie, fehlender Arbeitnehmerrechte, fehlender Anerkennung für die Frauen, es ist keine Welt der Oper und des Balletts (ich übergehe hier einmal, dass es der Oper auch in NS-Deutschland nicht ganz schlecht erging).
Ich war als Diplomat in Russland tätig und kenne großartige Russen, die sich dafür schämen, was ihr Land tut. Eine Bekannte von mir, eine schon über siebzigjährige Dame aus Moskau, fragte ich vor einigen Wochen, wie sie sich jetzt in Moskau fühle; sie antwortete in einer Mischung aus Traurigkeit und Ironie: „Ausgezeichnet – so wie die anständigen Deutschen 1941 in Berlin. Genauso einsam.“ Diese Einsamkeit der anständigen, guten Russen müssen wir endlich auch zur Kenntnis nehmen. Und sie umso mehr, eben aus diesem Grund, für ihre Zivilcourage schätzen.
Was das heutige Russland von Hitlerdeutschland fundamental unterscheidet, ist, dass Russland selbst dann, wenn es eine mehr oder minder schwere Niederlage im Ukrainekrieg erleidet, dieser doch für Russland nicht so ausgehen wird wie der Zweite Weltkrieg für Deutschland. Anders gesagt, Russland wird sich höchstwahrscheinlich den in der Ukraine begangenen Verbrechen nicht stellen müssen, und die Mörder von Butscha werden nicht nur nicht bestraft werden, sondern mit der Zeit noch in höhere Offiziersränge aufsteigen. Mit diesem Russland „nach Putin“ wollen sich diejenigen in Deutschland anfreunden, die glauben, dass der Krieg in der Ukraine allein von dem „bösen Putin“ zu verantworten sei.
Das alles heißt natürlich nicht, dass Russland nicht eines Tages ein demokratisches Land werden könnte. Polen ist daran übrigens mehr noch als Deutschland gelegen. Vorerst weist jedoch nichts auf eine solche positive Entwicklung hin. Halten wir also Kontakt mit unabhängigen Kräften in Russland, unterstützen wir, wer wegen seines Widerspruchs gegen den Krieg seinen Arbeitsplatz verliert oder von der Universität relegiert wird. Solange jedoch keine Veränderung eintritt, messen wir uns mit demjenigen Russland, wie es nun einmal ist, nicht mit demjenigen, wie es einmal vielleicht sein könnte. Hören wir damit auf, uns das Märchen zu erzählen, Putin sei allein verantwortlich sei, denn es ist eben nicht nur Putin, sondern Russland.
Es wäre gut, wenn Deutschland mit den ewigen Entschuldigungen aufhören würde, ob das nun für den Zweiten Weltkrieg, für Nord Stream, für das Ausbleiben einer entschiedenen Unterstützung der Ukraine ist oder in zehn, zwanzig, dreißig Jahren dafür, dass es sich erneut geirrt hat, weil es eben nicht nur Putin gewesen ist. Viel einfacher und zugegeben auch angenehmer wäre es, damit aufzuhören, wofür sich Deutschland nachher entschuldigen muss.
Das ist aus einem ganz grundsätzlichen Grund sehr wichtig. Denn insofern bislang nur die polnische Rechte Deutschland misstraute, so verlieren jetzt auch diejenigen das Vertrauen zu Deutschland, die bisher neutral, wohlgesonnen oder gar offen prodeutsch waren. Heute gibt es meiner Einschätzung nach bereits keine Chance mehr, mit der polnischen Rechten ins Gespräch zu kommen. Deren Deutschfeindlichkeit hat einen Grad erreicht, bei dem das keinen Sinn mehr hat. Es ist abzuwarten, dass sich mit einem Machtwechsel in Warschau eine Chance für einen Neubeginn im Verhältnis beider Länder ergibt. Wenn jedoch Deutschland in seiner Ostpolitik damit weitermacht, eine wenn auch durch den Krieg modifizierte Politik des Russia first fortzusetzen, dann wird es einen solchen Neubeginn nicht geben. Berlin wird in rascher Folge auch seine Freunde aus der politischen Mitte und der Linken verlieren.
Noch vor wenigen Jahren galt ich, ein Mann der Mitte, in meinem Umfeld als Deutschland wohlgesonnen, während ich dort noch der am wenigsten deutschfreundliche war. In der politischen Mitte gehörte es sich nämlich, beim Thema Deutschland uneingeschränkt enthusiastisch zu sein. Im Gespräch mit meinen bis unlängst in die Bundesrepublik verliebten Freunden und Bekannten habe ich jetzt manchmal den Eindruck, ich sei der am stärksten deutschfreundliche. Denn das Problem besteht darin, dass in Berlin meinem Eindruck nach absolut kein Bewusstsein für die in diesem Beitrag angesprochen Probleme besteht. Vielleicht sollten die Deutschen nicht nur auf diejenigen hören, die schon immer deutschfreundlich waren. Denn so geht der politische Hörsinn verloren.
Aus dem Polnischen von Andreas R. Hofmann
Natürlich ist es idiotisch 1,3 Billionen Euro von Deutschland zu fordern. Es geht also darum die Beziehung, zwischen Polen und Deutschland, zu torpedieren. Irgendwann wird die polnische AfD…. die PiS-Partei, abgewählt werden. Nur Geduld und sich nicht provozieren lassen!
Pozdrawiam!
Vorab: Polen ist ein ernst zu nehmender Partner – ohne Frage. Doch nehme ich selbst wahr, dass die Politik und die Praxis oder Lebenswirklichkeit nicht selten auseinander gehen.
Die Lebenswirklichkeit sieht wesentlich positiver aus, wenn ich das bspw. an die Region Görlitz/Zgorzelec und darüber hinaus denke.
Ein stetiges Zusammenwachsen ist da erkennbar.
Darüber hinaus setzt sich die Deutsch-Polnische Gesellschaft, in der ich Mitglied bin, sehr engagiert für eine deutsch-polnische Verständigung und damit eine gegenseitige Anerkennung ein – und das seit vielen Jahren, was nicht mMn unterschätzt werden sollte.
Sie machen noch auf andere Aspekte aufmerksam, zu denen ich lediglich ganz kurz eingehen möchte:
. Dass zwischen dem Umgang mit polnischen und jüdischen Opfern im 2. Weltkrieg teilweise explizit unterschieden wird, sehe ich als Deutsche auch nicht ein. Fest steht, dass viele Polen da entweder ihr Leben eingebüßt oder unter der Zwangsarbeit sehr gelitten haben.
. Zur Frage, wie die Existenz und das Zusammenspiel Deutschland – Polen – Russland gesehen wird, habe ich zumindest partiell eine andere Meinung als Sie.
. Anmerken möchte ich noch, dass sich der Westen – konkret die EU – vor dem Ukraine-Konflikt, der seine Schatten bis hin zu den USA wirft, viel zu wenig um die Interessenlage in Osteuropa bzw. dessen einzelne Staaten gekümmert hat – vielleicht auch aus Unkenntnis, aber auch aus anderen Motiven.