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Der weiße Gesang – wie Frauen die Demokratie retten

Tom Szczepański: Frau Danielewicz, Ihr Buch „Der weiße Gesang. Die mutigen Frauen der belarussischen Revolution“ ist jüngst im Europaverlag erschienen. Die gescheiterten Proteste 2020 gegen die Diktatur Lukaschenkas, die Repressionen gegen die eigene Bevölkerung und der Exodus vieler belarusischer Oppositioneller ist durch den Krieg in der Ukraine aus dem Sichtfeld der westlichen Öffentlichkeit verdrängt worden. Wie kam es zu der Idee, ein solches Buch zu schreiben? 

Daniela Danielewicz: Ich hatte kein ausgefeiltes Konzept, dass ich im Vorfeld erstellt und dann während des Schreibprozesses umgesetzt habe. Vielmehr lasse ich mich von der Inspiration leiten. Das stundenlange Sitzen in der Einsamkeit ist sehr anstrengend, daher muss es einen guten Grund dafür geben, der mir die nötige Motivation gibt, dass ich anfange zu schreiben. Bei meinem aktuellen Buch handelt es sich um ein Gebot der Stunde, welches auf verschiedene Umstände zurückzuführen ist.

Dorota Danielewicz Der weiße Gesang Die mutigen Frauen der belarussischen Revolution 208 Seiten 20,00 € (D) / 20,60 € (A) inkl. MwSt. ISBN 978-3-95890-479-8

Vergangenen Sommer war ich in Polen, als ich einen Anruf von meinem alten Verleger, Christian Strasser, erhielt, der mein erstes Buch (Auf der Suche nach der Seele Berlins) herausbrachte. Er hatte großes Interesse an einem Buch über Belarus und wollte mich für diese Aufgabe gewinnen. Die Idee war, eine einzige Person zu portraitieren, um auf diese Art der Leserschaft einen Eindruck von der politischen Lage in Belarus zu vermitteln. Zunächst war ich sehr unentschlossen. Die nötige Motivation erhielt ich schließlich von einer jungen Frau Namens Natalia Tolotschko, einer Belarusin, die zu der Zeit in Lublin war und einen Fotoworkshop besuchte. Ich tauschte mich mit ihr aus, erzählte von dem Vorhaben, auf das sie mit Begeisterung reagierte. Sie machte mich darauf aufmerksam, wie wichtig dieses Thema für belarusische Frauen sei, die aus politischen Gründen ihr Land verlassen mussten. Und dann stand für mich fest: Ich werde ihnen eine Stimme geben, ihnen Gehör verschaffen. Natalia vermittelte mir Kontakt zu weiteren Personen, ich begann meine Recherchen. Die ursprüngliche Idee, nur eine Frau zu interviewen, mutierte letztlich zu einem Portrait von zehn Personen.

Wie kam es zu der engeren Auswahl der zehn Personen, die Sie in Ihrem Buch portraitieren?

Tatsächlich hatte ich sehr viele Kontakte, ich war selbst überrascht, wie schnell ich Zusagen zu den Interviews erhalten habe. Ab diesem Zeitpunkt war es eine Frage des Managements, denn oftmals verbrachte ich meine Zeit in Polen und führte die Gespräche dort, wohingegen einige Personen sich ganz woanders befanden, sodass es zeitlich nicht möglich war, diese Personen zu interviewen. Selbstverständlich kann man Interviews online führen, doch das erschien mir zu unpersönlich, vor allem da es sich um sensible Themen handelt. Ich wollte eine persönliche Beziehung zu den interviewten Personen aufbauen und das geht zeitlich nur, wenn die Auswahl begrenzt wird. Das hat sich dann selbst herauskristallisiert. Ich hatte noch zwei Personen in der Reserve, aber am Ende meines Buches habe ich festgestellt, dass das Buch ein abgeschlossenes Ganzes ist, daher habe ich es bei den zehn Personen, davon neun Frauen, belassen. 

Welche persönlichen Eindrücke haben Sie während des Interviewprozesses gewonnen?

Die Entscheidung, die Gespräche persönlich zu führen, hat sich als richtig herausgestellt. Der Aspekt, dass beide Parteien sich in die Augen schauen, baut eine intime Ebene auf und ich konnte auf diese Weise die Emotionen besser spüren. Ich denke, dass eine solche Ehrlichkeit bei den Gesprächen nicht zustande gekommen wäre, wenn ich die Interviews online gehalten hätte. Mit jeder einzelnen Frau habe ich mich vorher getroffen und Zeit verbracht, und das war nötig, um das Eis zu brechen.

Überraschend war die Bereitwilligkeit der Frauen, mir ihre Geschichten mitzuteilen. Ihre Lebensgeschichten waren höchst unterschiedlich. Ich interviewte beispielsweise eine Politikerin, eine Journalistin, eine Therapeutin und auch zwei Studentinnen. Jede einzelne Person brachte einen eigenen Werdegang mit, jedes Gespräch war einzigartig. Doch eines hatten alle miteinander gemeinsam, nämlich deren Wahrnehmung in Hinsicht auf die Proteste. Wolha Wialitschka bezeichnet die Proteste 2020 als Zeit der Freiheit, und dieses Freiheitsgefühl war ein Gemeingut, welches von allen wahrgenommen wurde. Man spürte förmlich die Befreiung vom alten System, auch wenn dies nicht von Dauer war. Die beispiellose Solidarität untereinander, verbunden mit dem Freiheitsgefühl, gehörte zu den positiven Teilen der Gespräche. Ich merkte schnell, dass die Demonstrationen meine Heldinnen innerlich verändert hatten. Faszinierend ist, dass keine der Personen eine Opferhaltung eingenommen hat trotz des Leides, das ihnen zugefügt wurde. Das ist nicht selbstverständlich. Die innere Überzeugung für das Richtige zu kämpfen obsiegte, und deswegen kämpfen diese Frauen auch weiter im Exil. Der einzige Unterschied liegt nur im Wie des Engagements. Einige gehen zu Kundgebungen, andere sind sogar in die Politik verwickelt. Wichtig scheint am Ende, dass man überhaupt tätig bleibt.

Die erste Person, die Sie in Ihrem Buch porträtieren, ist Wolha Kawalkowa. Sie ist eine kämpferische Politikerin. Kawalkowa erzählt von ihrem Aufenthalt im Gefängnis und wie sie dort eine Gruppe von jungen Mädchen getroffen hat, die eine Art Vorbild in ihr sahen. Wie wichtig sind junge engagierte Frauen wie Kawalkowa? Welchen Stellenwert haben Frauen in der belarusischen Bewegung?

Zunächst einmal war es den Frauen nicht bewusst, welche Rolle sie einnehmen werden. Die Dynamik entstand aus einem spontanen Protest, der verursacht wurde, weil sämtliche Männer eingesperrt worden waren. Vor allem die Männer der drei Frontfrauen: Maryja Kalesnikawa, Swetlana Tichanowskaja und Weronika Zepkalo haben die Initiative ergriffen, nachdem ihre Männer zuvor kandidiert hatten und deswegen unter Arrest gestellt worden sind. Aus dieser Empörung heraus haben sich die drei Frauen zur Wahl gestellt. Vorbildlich war, wie schnell man sich untereinander geeinigt hat, dass Tichanowskaja die geeignetste Kandidatin ist. Normalerweise ist das bei politischen Machtkämpfen anders.. Das höhere Ziel, also der Kampf um die Zukunft Belarus´, war wichtiger. Auch Wolha Kawalkowa wollte ursprünglich als Kandidatin antreten, doch ihr fehlten Stimmen, also hat sie sich dem Stab um Swetlana Tichanowskaja angeschlossen.

Eine von Solidarität durchdrungene Oppositionsfront hatte sich gebildet, die vorbildlich guten Einfluss auf die junge belarusische Gesellschaft nahm, von der auch wir im Westen Beispiel nehmen können. Hierbei steht auch das Zusammenspiel beider Geschlechter im Vordergrund, denn die Unterstützung der Frauen für ihre Männer führte zu einem beispiellosen miteinander. Lukaschenka hatte Tichanowskaja unterschätzt und war überzeugt, sie könne ohnehin nichts bewirken. Er hatte sich verkalkuliert.

Ein weiterer wichtiger Aspekt, der dazu führte, dass immer mehr Menschen motiviert waren sich im öffentlichen Raum sichtbar zu zeigen, war die dominante Softpower der Demonstrantinnen. Die vielen Videos und Bilder, die u.a. zeigten, wie junge Frauen den Polizisten die Masken runterziehen, betonte nochmals die Stärke und den Mut dieser Bewegung. Es entstand eine Dynamik, die kaum noch zu kontrollieren war. Diese Erfahrung machte auch Kawalkowa im Gefängnis. Die junge Gruppe von Mädchen, die sie im Gefängnis traf, war stolz darauf mit ihr eingesessen zu haben. Doch das Überraschende für sie war, dass diese junge Gruppe von Mädchen während ihres Aufenthalts im Gefängnis schon die nächste Demonstration plante. Das war zumindest für sie selbst der Moment, in dem sie realisierte, dass etwas Großartiges, wenn auch Verrücktes, in der Luft lag.

Auch wenn Lukaschenka am Anfang die Frauen nicht ernst genommen hat, so müsste er jetzt aus seinen Fehlern gelernt haben. Welche Gefahren erkennt der Diktator in der neuen dynamischen Frauenbewegung?

Lukaschenka muss sich dessen bewusst sein, dass er die Wahlen nicht gewonnen hat. Das Wahlen in Belarus manipuliert werden, ist allseits bekannt. Doch bei den jüngsten Wahlen, wurde das Fass zum Überlaufen gebracht. Die Prozentzahl, mit der Lukaschenka die Wahl angeblich gewonnen hatte, war derart von der Realität entfernt, dass die Menschen sich nicht einfach nur betrogen fühlten, sondern spürten, dass eine sichtbare Grenze überschritten wurde. Immerhin wurden die kreativsten Möglichkeiten genutzt, um die Wahlen transparent zu halten. Es gab die schlichte, aber doch kreative Möglichkeit, sich ein weißes Band um die Hand zu wickeln, welches ein Symbol gegen Lukaschenka war. Bei der Auswertung der Fotos ist leicht zu erkennen, dass es die Mehrheit der Wähler und Wählerinnen betraf. Die zweite Variante war, die Wahlzettel abzufotografieren und die Fotos an eine entsprechende App zu senden, die die Ergebnisse der Wahlen festhielt. Der Kreativität wurde freien Lauf gelassen, doch am Ende wurde die Wählerschaft wieder betrogen. Daher die schnelle Reaktion der wütenden Bevölkerung.

Lukaschenka hat es mit Putins Hilfe vorerst geschafft, die Demonstrationen niederzuschlagen, doch vom Aufgeben der Opposition kann noch nicht die Rede sein.

Von einem endgültigen Scheitern der Revolution kann also noch nicht die Rede sein. Es handelt sich eher um einen eingefrorenen Zustand, und der politische Kampf wird unter anderem im Ausland ausgetragen. Viele wichtige Vertreterinnen leben derzeit im Exil und treten weiter für die belarusische Freiheit ein. Worauf fokussieren sie ihre Arbeit? Wird diese von der westlichen Öffentlichkeit wahrgenommen?

Ja, es ist richtig, dass die im Exil lebenden Frauen immer noch ein Pflichtbewusstsein an den Tag legen und für die belarusische Sache eintreten. Diejenigen, die ohnehin politisch bekannt sind – wie Tichanowskaja oder Kawalkowa – treffen sich mit westlichen Politikern und versuchen Gehör zu bekommen. Bundeskanzler Olaf Scholz hat sich kurz nach seiner Wahl mit Tichanowskaja getroffen und damit ein starkes Zeichen gesetzt. Andere wiederum nutzen Social Media oder gehen auf Kundgebungen. Es spielt in dem Sinne weniger eine Rolle wie sich jemand einsetzt, sondern vielmehr, dass überhaupt gehandelt wird. Das oberste Prinzip ist zu zeigen, dass die Regierung in Belarus illegitim ist. Dies ist auch im Kontext des russischen Krieges gegen die Ukraine wichtig, denn die russischen Manöver begannen auf belarusischem Territorium. Lukaschenkas Belarus hat sich an dem Verbrechen mitschuldig gemacht. Es gilt daher, dem Westen zu zeigen, dass Lukaschenka nicht das belarusische Volk vertritt.

Ich möchte an dieser Stelle nochmals auf Wolha Kawalkowa zu sprechen kommen, denn sie beschreibt in Ihrem Interview, dass sie Angst habe, sich im Exil vom eigenen Land zu entfremden. Sie ist bestimmt kein Einzelfall. Wie haben Sie diese innere Zerrissenheit einer politisch engagierten Frau im Exil wahrgenommen?

Die innere Zerrissenheit scheint nur allzu verständlich zu sein. Wenn man Politik aus dem Ausland her betreibt, dann spürt man, dass man nicht vollkommen dabei ist. Kawalkowa beschreibt eben dieses Gefühl der Entfremdung. Dennoch musste sie lernen damit umzugehen, denn die Möglichkeit vor Ort etwas zu bewirken, ist schlichtweg nicht gegeben. In Belarus droht ihr eine Haftstrafe. Ginge sie dorthin, dann könnte sie sich gar nicht mehr engagieren. So ist es u.a. Maryja Kalesnikawa ergangen, die eine langjährige Haftstrafe absitzen muss. Natürlich kann man sich in solchen Momenten fragen, ob dies nicht eine viel größere Symbolkraft hätte. Kalesnikawa muss sich dessen bewusst gewesen sein, dass sie mit ihrer Verhaftung ein Zeichen setzten würde. Auf der anderen Seite, würden Frauen wie Kawalkowa ihr Potenzial verschenken.

Kawalkowa betrachtet ihre Arbeit im Exil mittlerweile als das geringere Übel. Zudem gibt es auch viel Unterstützung von Seiten der belarusischen Bevölkerung. Vor nicht allzu langer Zeit hat eine Journalistin, die im Gefängnis ihre Strafe absitzt, Narzissen an diejenigen verschickt, die im Exil leben. Solche Gesten unterstreichen die starke Solidarität und für Kawalkowa war das der nötige Motivationsschub, um weiterzumachen.

Die geflohenen Frauen leben an verschiedenen Orten, häufig in Litauen, Deutschland und vor allem in Polen. Welche Rolle nimmt Polen ein, wie hat das Land den Belarusinnen geholfen?

Der polnische Staat hat von Anfang an sehr viel Engagement gezeigt, hatte sich aber auch schon in der Vergangenheit für die belarusische Zivilgesellschaft eingesetzt. Erinnert sei nur an das 2012 gegründete Belarusische Haus, eine Stiftung, die gesellschaftliche Initiativen unterstützt. Alle politisch Verfolgten bekamen nach den Protesten 2020 ein humanitäres Visum und eine Aufenthaltsgenehmigung mit Arbeitserlaubnis.

Der russische Krieg gegen die Ukraine scheint einen Schatten auf Belarus zu werfen. Was bedeutet der Krieg für das Land? Würde eine Niederlage Putins, gleichzeitig eine Niederlage Lukaschenkas bedeuten? Wenn ja, wie würde ein Übergang zu einer Demokratie in Belarus aussehen? Ist ein friedlicher Übergang überhaupt noch möglich?

Ich prognostiziere sehr ungern, denn am Ende kann man sich nur irren. Politik ist ein komplexes Gewölbe aus vielen verschiedenen Faktoren, und eine richtige Prognose zu machen, erscheint mir unmöglich. Was wiederum behaupten werden kann ist, dass Lukaschenka niemals freiwillig zurücktreten wird, sonst hätte er dies während der letzten Wahlen schon getan. Stattdessen bekam er vom russischen Staat Unterstützung, um an der Macht zu bleiben. In dem Sinne sind die russische und belarusische Politik miteinander verflochten.

Wie ein Übergang zur Demokratie auszusehen vermag oder generell gefragt, wie es nun weitergeht, sind wichtige Fragen, aber das geht über die Idee meines Buches hinaus. Mein Ziel war es, den Frauen, mit denen ich sprach, Gehör zu verschaffen. Die Themen, die in dem Buch zur Sprache kommen, gehen über Belarus hinaus, sie können auch als Warnung für uns im Westen gelesen werden. Die Geschichten zeigen, dass sämtliche Rechte, die wir heute als selbstverständlich betrachten, nicht selbstverständlich sind. Wir erfreuen uns des Rechts auf freie Meinungsäußerung, frei wählen zu dürfen oder zu demonstrieren. Eben dafür gingen die Menschen in Belarus auf die Straßen. Wir sollten dies eben nicht als Selbstverständlichkeit betrachten, denn diese Rechte sind Privilegien, und Privilegien gehen leicht verloren, wenn man nicht wachsam ist. Somit kann mein Buch auch als eine Art Spiegel verstanden werden, den ich dem Westen vorhalte.

Ich danke Ihnen für das Gespräch.


Dorota Danielewicz ist in der deutschen Literaturszene bekannt. Sie lebt seit ihrem 16. Lebensjahr in Berlin, war fast 20 Jahre lang als Rundfunkjournalistin für den RBB tätig und hat in deutschsprachigen Zeitungen publiziert. Ihr erster Roman Auf der Suche nach der Seele Berlins erschien 2014, ihr Buch Der weiße Gesang über die mutigen Frauen in Belarus im Frühjahr 2022, beide im Europa Verlag.

 


Tom Szczepański, studiert Philosophie und Geschichte an der Freien Universität Berlin.

 

 

 

 


Dorota Danielewicz Der weiße Gesang Die mutigen Frauen der belarussischen Revolution 208 Seiten 20,00 € (D) / 20,60 € (A) inkl. MwSt. ISBN 978-3-95890-479-8
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