Seit beinahe einem halben Jahr verfolgt die ungarische Regierung ihren Kurs angesichts der russischen Aggression gegen die Ukraine ohne jegliche Änderung. Vielmehr hat sie sich noch stärker in ihrer Position versteift. Der Kremlbesuch des ungarischen Außenministers vom 21. Juli 2022, bei dem er im Gespräch mit seinem russischen Amtskollegen Sergej Lawrow um die Erweiterung der Gaslieferungen an Ungarn um 700 Millionen Kubikmeter bat, macht deutlich, dass Budapest eine Rückkehr zu business as usual im Verhältnis zu Moskau für möglich hält. Die ungarische Sicht auf den Krieg lässt keinen Spielraum dafür, Russland seine kriminelle Vorgehensweise vorzuhalten. Die europäische Wirtschaftskrise ist Budapest zufolge allein auf die von der EU verhängten Sanktionen und den Ukrainekrieg zurückzuführen. Berücksichtigen wir den gesamten der ungarischen Regierung zu Gebote stehenden Propaganda‑ und Verlautbarungsapparat, ist zudem nicht zu übersehen, wie wenig Verständnis Ungarn für die sich hartnäckig zur Wehr setzende Ukraine hat. Nur so erklärt sich, wieso Orbán bei einer Rede in Siebenbürgen am 23. Juli vor Vertretern der magyarischen Minderheit in Rumänien dem Westen (also der EU und den USA) aus seiner Unterstützung für die Ukraine einen Vorwurf machte, da damit der Krieg nur verlängert werde.
Unterdessen hat, von der Öffentlichkeit kaum bemerkt, die Slowakei die Führung in der Visegrád-Gruppe übernommen. 2018 war die Übergabe an Ungarn auf Ebene der Regierungschefs in den Ausstellungsräumen des Várkert Bazár in Budapest geschehen. Sebastian Kurz, der damalige österreichische Bundeskanzler, flog zu dem Treffen, mit dem die ungarische V4-Präsidentschaft begann. Diese zeichnete sich durch besonders intensive Aktivität aus; es fanden hunderte von Regierungstreffen statt. Praktisch verging keine Woche, in der nicht eine Delegation in Budapest eintraf. Dies setzte sich bis Februar fort, als die Haltung der ungarischen Regierung zum Ukrainekrieg das V4-Format gänzlich zum Stillstand brachte. Ein letztes Mal fand am 8. März ein Gipfel in London statt, an dem Premier Boris Johnson teilnahm. Die nächste Begegnung in Budapest wurde aufgrund der Proteste der übrigen drei Teilnehmerstaaten – Polens, Tschechiens und der Slowakei – abgesagt, nachdem Ungarn der Ukraine keine adäquate Hilfe zugesichert hatte.
Die Haltung Budapests verschärfte sich, weil bei andauerndem Ukrainekrieg in Ungarn der Wahlkampf zu den Parlamentswahlen vom 3. April lief. Die Wahl brachte Fidesz-KDNP den bisher größten Sieg und verhalf der Regierungskoalition zu einer qualifizierten, das heißt für Verfassungsänderungen ausreichenden Mehrheit. Während des Wahlkampfes kam aus dem Umfeld von Fidesz-KDNP die Behauptung, die Opposition befürworte, nicht nur Waffen in die Ukraine zu schicken, sondern auch ungarische Soldaten, wodurch Ungarn und die ungarische Minderheit in der Karpatenukraine russischen Angriffen ausgesetzt würden. Eine Forderung nach der Entsendung von Soldaten hat es jedoch nie gegeben, das ist erdacht. Trotzdem lässt die ungarische Regierung immer noch verlautbaren, sie werde nie ihr Einverständnis zur Entsendung von Soldaten geben, womit sie schlicht und ergreifend Falschmeldungen produziert.
Die Visegrád-Gruppe
Die V4 war gleichsam der Augenstern der ungarischen Außenpolitik. Die Gruppe verschaffte zum einen Ungarn eine starke Stellung in der Region, zum andern konnte sie in Brüssel mit geschlossener Position in Erscheinung treten. Es bestanden viele Übereinstimmungen innerhalb der Gruppe, allerdings gab es daneben von Anfang an Differenzen in der Energiepolitik sowie bei der regionalen Sicherheitspolitik. Die Slowakei übernahm am 1. Juli die Führung der Visegrád-Gruppe und sieht vorerst keine Möglichkeit, zu Begegnungen auf Spitzenebene zurückzukehren; daher wird man sich gewiss mit Treffen auf Expertenebene begnügen, welche jedoch das ursprüngliche Kooperationsformat nicht wiederherstellen können, das der politischen Abstimmung diente.
Die Absage des Außenministertreffens im Format V4+ – gemeinsam mit Großbritannien – war ein Schlag für die ungarische Präsidentschaft; dieses sollte ausgerechnet an dem Tag stattfinden, als die russische Invasion begann; genauso erging es einem geplanten Treffen der Verteidigungsminister, was einiges an Medienaufsehen auslöste. Interessanterweise besteht aber trotz des Einfrierens von V4 ein anderes mitteleuropäisches Format weiter, nämlich die C5 oder „Central Five“, zusammengesetzt aus Tschechien, der Slowakei, Ungarn, Slowenien und Österreich. Die Konsultationen in diesem Format finden weiterhin wie gewohnt statt.
Gewiss machen sich außenpolitisch für Budapest die qualitativen Veränderungen im polnisch-ungarischen Verhältnis am stärksten bemerkbar. Einen Pokal der Bitternis goss Orbán in seiner Siebenbürger Rede aus, als er unterstellte, Polen sei in der Ukraine praktisch Kriegsteilnehmer. Aber schon vorher hatte es Anschuldigungen gegeben, Warschau sei auch emotional zu stark in dem Konflikt im Osten engagiert. Zwar waren die öffentlichen Reaktionen darauf groß, doch waren einschneidende Folgen für die Wechselbeziehungen ausgeblieben.
Aus polnischer Sicht ist damit die Chance gegeben, die Beziehungen zu Ungarn von Grund auf neu zu gestalten und sie stärker den nationalen Interessen Polens unterzuordnen, womit das bisherige asymmetrische Verhältnis beendet werden kann, das besonders Orbán entgegengekommen war. Bei den Gipfeltreffen der V4-Regierungschefs in Budapest vom Herbst vergangenen Jahres verwies Ministerpräsident Mateusz Morawiecki wiederholt auf die Aktivitäten von Gazprom, nämlich eine später bekannt gewordene Politik in der Absicht zu betreiben, den Ukrainekrieg vorzubereiten. Orbán wiegte zwar verständnisvoll den Kopf, teilte diese Auffassung jedoch nie, was sein Kremlbesuch unter Beweis stellte.
Seit Kriegsausbruch lässt sich bemerken, wie sich die Spielräume der ungarischen Außenpolitik in der Region merklich verengt haben. Seit Amtsantritt hat Orbán zwei Besuche am Vatikan und in Österreich absolviert. Der Außenminister bewegt sich hauptsächlich außerhalb der EU. Anlässlich der Regierungswechsel in der Slowakei und der Tschechischen Republik kam es zu einer Annäherung zwischen Ungarn und Österreich. Petr Fiala steht Ungarn sehr viel weniger positiv gegenüber als sein Vorgänger Andrej Babiš.
Die Opposition
Die Opposition befindet sich nach wie vor in der völligen Defensive. Die Gruppe der Parteien, die eine Wahlkoalition bildeten, wird angeführt von „Momentum“, einer Partei, die in rein weiblicher Besetzung geführt wird. Momentum ist insbesondere in den sozialen Medien sehr aktiv. Als Mitte Juli in Budapest gegen die Änderungen bei der Besteuerung von Selbständigen (KATA) protestiert wurde, hatte die Opposition damit nichts zu tun, vielmehr kamen sie als Graswurzelbewegung zustande. Der Spitzenkandidat der Oppositionsliste, Péter Márki-Zay, konzentrierte sich ganz auf seine Aufgaben als Bürgermeister der Stadt Hódmezővásárhely.
Zur Opposition gehört eine weitere Partei, die mit großem Aplomb ins Parlament eingezogen ist, die rechtsextreme Partei „Mi Hazánk“ (Unser Vaterland). Diese fremdenfeindliche Partei ist darin aktiv, zum einen der Regierung Zensuren zu erteilen, zum andern zu versuchen, ihre Wählerbasis zu erweitern. Aktuell ist ihr großes Thema, das Zuzahlungssystem für Elektrizität zu kritisieren; vorher war sie mit der Pandemiepolitik der Regierung hart ins Gericht gezogen. Diese Partei lehnt außer humanitärer Hilfe jegliche Unterstützung für die Ukraine kategorisch ab.
In der besonderen Lage der ungarischen Opposition und in Anbetracht des Kriegs sind die Schwierigkeiten hervorzuheben, mit denen diese Parteien konfrontiert sind. Es geht hierbei zum einen um Ungarns Haltung zu Russland insgesamt, andererseits zu den Energielieferungen aus Russland. Das Oppositionsbündnis forderte die Annäherung an die Europäische Union und die Lockerung der Abhängigkeiten von Moskau, stellte aber die Lieferung von Gas und Öl aus Russland in keiner Weise in Frage. Weil sie es nicht konnte. Darauf zu verzichten, würde einen gewaltsamen Anstieg von Energie‑ und Brennstoffkosten verursachen, die Stimmung in der Gesellschaft verheeren und die Unterstützung für die Opposition einbrechen lassen.
Auch darf nicht vergessen werden, dass in Ungarn seit Mai eine „Gefahrenlage aufgrund des Kriegs im Nachbarland“ besteht; diese erlaubt es der Regierung, in staatswichtigen Fragen Verordnungen und Dekrete zu erlassen, was faktisch in die Befugnisse des Parlaments eingreift. Eine solche verfassungsmäßige „Gefahrenlage“ galt bereits vom März 2020 bis Juni 2022 (mit einer Unterbrechung von drei Monaten) aufgrund der Covid-Pandemie. Infolge dieser Sonderbefugnisse für die Exekutive bestand praktisch keine Gewaltenteilung mehr, ebenso wenig das Prinzip der wechselseitigen Kontrolle der Gewalten.
Die Sitzverteilung im Parlament wird es der Opposition in den nächsten Monaten schwermachen, sich politisch zu profilieren. Ihre Chance besteht darin, dass sich die Stimmung in der Gesellschaft aufgrund der Inflation im Sinkflug befindet. Doch ist der merkliche Rückgang der Zustimmungswerte für die Fidesz-KDNP-Koalition vorerst nicht weiter wichtig, weil die nächsten Wahlen, nämlich Lokal‑ und EU-Wahlen, erst 2024 stattfinden. Massenproteste könnten der Politik eine Wende geben, doch liegen sie der passiven ungarischen Natur eher fern.
Die Regierung
Zum Nachteil der ungarischen Regierung wirkt sich die fortschreitende Krise der öffentlichen Finanzen aus. Die Ungarische Nationalbank hat klammheimlich ihre Inflationsprognose geändert. Was bedeutet, dass die Bank einfach ein paar Dateien untergeschoben hat. Die aktuelle Inflationsrate liegt bei 11,7 Prozent, bei einer prognostizierten Maximalrate von 12,6 Prozent. Dass die blockierten EU-Mittel aus dem Wiederaufbaufonds im Rahmen des Fonds NextGenerationEU fehlten, war eine bittere Verifizierung, dass Ungarn ohne den Wiederaufbaufonds auskommt. Die steigenden Energiepreise und damit die wachsenden Mittel, die zur Deckung der Differenz zwischen Marktpreis und Garantiepreis für Energie aufgewendet werden müssen, entziehen dem Staatshaushalt beträchtliche Summen. Erstmals seit 2013 hat die Regierung eine Korrektur an diesem Programm vorgenommen, indem sie Limits beim Energieverbrauch einführte, bis zu denen die Zuzahlungen gelten.
Die globale Wirtschaftskrise bring einen Rückgang der ausländischen Investitionen in Ungarn mit sich, von denen das ungarische Bruttoinlandspunkt hochgradig abhängt, was die Situation noch weiter verschärft. Nachdem Fidesz 2010 an die Regierung gekommen war, legte die Partei Programme zur Senkung der Staatsschulden auf. Mit einem gewissen Erfolg; die Schulden sanken von 80,2 Prozent des BIP 2010 auf 65,5 Prozent 2019. Der Ausbruch der Pandemie ließ die Schulden innerhalb eines Jahres wieder um 15 Prozent anwachsen. Kooperation mit China sollte eine Alternative zu den ausbleibenden EU-Mitteln schaffen; sie wird zwar trotz geopolitischer Veränderungen fortgesetzt, doch nicht mehr auf dem Niveau, das sich Ungarn erhofft hatte.
Die Zukunft bleibt offen. Der einzige Faktor, der die politische Lage ins Wanken bringen könnte, ist die zunehmende Armut und Unzufriedenheit in der Gesellschaft. Durch Medienpropaganda lässt sich nämlich nicht ändern, wenn es den Leuten in den Geldbörsen fehlt. Eine Publicus-Umfrage vom Juli diesen Jahres zeigte, dass sich der Anteil der Ungarn, die die steigende Inflation am eigenen Leibe spürten, binnen eines Monats um ein Drittel vermehrt hatte. Die Folgen bekommen Unterstützer wie Gegner der Regierung zu spüren. Die Regierung wird versuchen, selbst um den Preis erhöhter Staatsverschuldung die Lage zu retten; Staatsobligationen sind so hoch verzinslich wie nie zuvor. Zweifellos warten schwere Zeiten auf Ungarn.
Aus dem Polnischen von Andreas R. Hofmann