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Ein Europäer blickt in den (Fernen) Osten

In Cambridge (Massachusetts) an der Quincy Street, gleich am Harvard Yard, im Herzen dieser US-amerikanischen und doch atmosphärisch so europäischen Stadt, befindet sich das Harvard Art Museum. Ich ging auf der Quincy Street daran fast jeden Tag während der schönen Sommerwochen vorbei, in denen ich in der Houghton Library Archivdokumente sichtete.

Eines Tages war die Zeit für einen Besuch gekommen. Das Harvard Art Museum ähnelt vielen solchen Museen in Europa und New York. Es ist auf mehrere Etagen verteilt und verzweigt sich in verschiedene Richtungen: hier die Kunst des alten Ägypten, dort Griechenland und Rom, im oberen Stock die Klassiker der frühneuzeitlichen Malerei usw. Ich ging durch die Korridore, betrat die Säle und doch, wie ich bekennen muss, machten mir die Exponate nur mäßige Freude. Der Grund dafür ist dieser: Seit einiger Zeit bemerke ich an mir das, was man europäische Übersättigung nennen könnte. Wenn ich Kunstwerke in einer Anhäufung wie in den Vatikanischen Museen, im British Museum, im Louvre oder im New Yorker Metropolitan Museum of Art betrachte, empfinde ich oft nur noch Langeweile. In diesen Museen ist, ein Kennzeichen unserer Zeit, von allem zu viel.

Und doch verschaffte mir der Besuch in dem etwas bescheideneren Harvard Art Museum eine kleine Erleuchtung. In dem Saal zur Kunst des Fernen Ostens befand sich in einer Vitrine ein chinesisches Pferd. Nachdem ich meinen Blick über Geschirre und andere Alltagsartefakte vergangener Epochen hatte schweifen lassen, trat ich näher an das Tier heran. Bevor ich es eingehend betrachtete, warf ich einen Blick auf die Beschreibung, und schwer beeindruckt, richtete ich mich gerade: Vor mir stand ein Keramikpferd vom Ende des zweiten Jahrhunderts unserer Zeitrechnung, also aus der Zeit der Han-Dynastie. Es wurde in der Stadt Chengdu in der Provinz Sichuan ausgegraben. Das ist es jedoch nicht, was die Skulptur so ungewöhnlich macht, sondern dass sie einen römischen Halfter trägt. Mit den typischen Medaillons, auf denen menschliche Gesichter zu sehen sind. Welch imponierender Beweis für Kontakte zwischen diesen beiden großen Imperien der antiken Welt: Rom und China. Und gefunden habe ich ihn nicht in Italien noch Shanghai, sondern in Cambridge! Ich ging ganz um das Pferd herum und machte zahlreiche Fotos davon. Ich betrachtet es noch lange, die Nase an das Vitrinenglas gedrückt, und mit solcher Begeisterung, wie ich sie mir normalerweise für Bilder von Brueghel, Munch und van Gogh vorbehalte. Und natürlich hatte ich nicht mehr die geringste Lust, mir noch irgendetwas anderes anzuschauen.

Wenn ich solche Artefakte sehe, bekomme ich eine Gänsehaut. Ganz so wie allein schon die Information mich in Aufregung versetzt, dass sich in einem Museum in Xi’an eine Tafel befindet, welche die Anwesenheit nestorianischer Christen in China belegt (einige Millionen von ihnen flüchteten vor den Verfolgungen in der Kaiserzeit aus dem Imperium Romanum). Und sie belegt, dass dort zu einer bestimmten Zeit die Anhänger Jesu, Buddhas und des Konfuzius in Eintracht lebten. Mich befällt geradezu Begeisterung, wenn ich davon lese, wie Mark Aurel eine Gesandtschaft nach China schickte, von der Seidenstraße oder von der Begegnung dieser beiden großen Kulturkreise. Oder von chinesischen Spuren in der westlichen Philosophie und von griechischen in der östlichen.

Sind das alles nur interessante Belanglosigkeiten? Oder sollte man nicht doch an den Orten, von denen die Archäologen sprechen, mit den Grabungen beginnen? Römische Münzen in China, eine chinesische Vase auf dem Grund des Mittelmeers. Ein ähnlicher Brauch, eine anders aufgefasste Idee… Ein Vers! Ein einziger suggestiver Vers…

Wir werden unablässig mit Gutachten, Meinungen und Kommentaren zugeschüttet. Manche stammen von Experten, andere von selbsternannten Fachleuten, die uns einen Wasserspiegel zeigen und behaupten, daran ließe sich erkennen, was sich in der Tiefe verbirgt. Viele Worte sind kaum ausgesprochen schon überholt, so kurzlebig sind sie. Seit dem Covid-19-Ausbruch war das Thema China ständig in der öffentlichen Debatte präsent. Es wurde still darum, als der Krieg in der Ukraine ausgebrochen war, aber nur für einen Augenblick. Nachdem wir uns von dem ersten Schock erholt hatten, begannen wir erneut zu fragen, welche Rolle China in der neuen Weltordnung spielen und wie es sich auch in unserer Region bemerkbar machen werde. Welches die wirklichen Ziele des Reichs der Mitte seien. Welches seine realen Möglichkeiten und Potentiale. Was das Land wolle.

Ein Weiser sagte einmal, um China wirklich zu verstehen, müsse man Konfuzius lesen und die Gedichte Du Fus, des großen Dichters aus der Zeit der Tang-Dynastie – aber wer in Europa liest schon Du Fu?

Theorien, die mehr sein wollen als weitschweifige Exkurse, brauchen kein Expertenwissen, sondern vertiefte Vertrautheit mit dem Gegenstand. Und zwar nicht in den Bereichen Militär, Politik, internationalen Beziehungen und Hightech. Natürlich ist das alles wichtig, sagen uns viele, aber damit kommen wir nicht der fremden Seele auf die Spur, höchstens der Haut, in der der Fremde steckt. Was wir brauchen, ist eine in vielen Jahren des Studiums gewonnene Vertrautheit und ein sensibles Hineinlesen und Hineinhören in die Kultur, die wir kennenlernen sollen; doch wer hat heute noch die Zeit dafür?

Ratlos und ohne Argument sind wir einem Chinesen gegenüber, wenn wir nicht zu begreifen versuchen, wie er Liebe und Freundschaft versteht, Versprechen und Pflicht, das Verhältnis des Menschen zur Natur, des Sohnes zum Vater, des Schülers zum Lehrer, oder schließlich, wie er sich das Jenseits vorstellt. Und das Wissen über all dies ist leicht zugänglich: Es ist nicht in Geheimarchiven verborgen, sondern in Literatur und Kunst. Was bewegt einen Chinesen? Was amüsiert ihn, was erschreckt ihn? Wenn wir das nicht in Erfahrung bringen wollen, ist Wissen darüber unnütz, was nur das Äußere dessen ist, was sich in der chinesischen Seele abspielt. Denn dieses Wissen wird ganz gewiss verkehrt sein.

Die Chinesen vertiefen sich seit langem in die westlichen Literatur‑ und Philosophiekanons. Sie wissen, um uns kennenzulernen, müssen sie sich damit vertraut machen, was uns durch die Jahrtausende geformt hat: Homer, Thukydides, Cicero und Ovid. Dante, Shakespeare, Goethe und Proust. Selbst ein Europäer, der nicht Platon und Aristoteles gelesen hat, denkt unbewusst und getreu in ihren Worten, Sentenzen und Bildern. In China weiß man das. Dagegen hat ein gebildeter Europäer wahrscheinlich Probleme, auch nur fünf Klassiker der chinesischen Literatur zu nennen. Was lässt das wohl erwarten?

In seinen „Wypisy z ksiąg użytecznych“ (Exzerpte aus nützlichen Büchern) schrieb Czesław Miłosz über die chinesischen Dichter: „Was können wir alle, die wir von einer völlig anderen Zivilisation gebildet wurden, bei diesen Meistern finden, was zieht uns besonders an? Zweifellos ist allein schon die Entdeckung bedeutsam, dass wir uns ausgezeichnet verständigen können, dass aus ihrem Munde derselbe ewige Mensch spricht, dass Liebe, Vergänglichkeit, Tod damals dieselben waren. Aber es fasziniert uns auch etwas an der Art, wie sie schreiben, und beim Versuch, das zu benennen, sage ich mir: Sie hatten nicht dasselbe Verhältnis wie wir von Subjekt zu Objekt, also zum Baum, zur Blume, zum Berggipfel und allen mit dem Verstand erfahrenen Dingen oder überhaupt zur Natur.“

Die immer stärkere Präsenz Chinas in Europa ist eine Tatsache, die sich ganz sicher nicht mehr rückgängig machen lässt. Die Welt verändert sich vor unseren Augen, und zwar nicht irgendeine nur vorgestellte Welt, auf der anderen Seite des Globus, sondern unsere Welt, Krakau und Berlin, Polen und Deutschland, Europa! Der von Putin ausgelöste Krieg verlangsamt diesen Vorgang keineswegs, schlimmer: wir verlieren durch ihn den scharfen Blick. (Was nicht verwunderlich ist, steht der Feind doch vor den Toren!) Eine durch die Jahrhunderte angeeignete Welt, über die Generationen hinweg von Hand zu Hand weitergereicht, und bisher immer mit einer gewissen Vorhersehbarkeit. Die Veränderungen aber, die in den nächsten Jahrzehnten eintreten, werden gravierend und neuartig sein; ihr Ausmaß wird erst von künftigen Generationen erkannt werden. So wie die Vereinigten Staaten durch die Mischung von Europäischem mit einheimisch Amerikanischem entstanden, wird auch das künftige Europa – denn dieses endet keineswegs, sondern verändert sich – etwas sein, von dem wir heute erst die anfänglichen Symptome sehen. Zwar vollzieht sich vieles unabhängig von unserer Beteiligung: Der Wind der Geschichte weht, ganz egal wie tief wir uns verschanzen und wie laut wir fremdenfeindliche Parolen schreien. Aber wir können sicher eines: Darüber mitbestimmen, wie die Zukunft Europas aussehen wird; wie der Anteil der einzelnen Beimischungen sein wird; wieviel von dem, was wir sorgsam kultivieren, wir beibehalten und gut einsetzen, weil es etwas ist, auf das zu verzichten die Zukunft ärmer machen würde.

In der Erinnerung kehre ich zu meinem Besuch im Harvard Art Museum zurück: Dort fand ich Ost und West in einer Gestalt zusammengeschlossen in einer Vitrine, in einem nur mit dem Blick zu erreichenden und fast mit den Händen zu greifendem Raum. Und ich glaube, dass manchmal ein einziges Kunstwerk, ein einziges entsprechend abstrahiertes Artefakt, ganz wie ein einziges literarisches Werk, eine größere Wirkung haben kann, als eine Zusammenstellung vieler selbst ausgezeichneter Werke, die es unmöglich macht zu begreifen, was das Wesen eines jeden einzelnen von ihnen für sich genommen ausmacht. Vielleicht ist ein Übermaß an Information viel schlimmer als deren völliges Fehlen. Mit dem Auge das Wichtige zu erkennen, kann ein ästhetisches Erlebnis sein und eine Lektion, sogar ein Anstoß dazu, einen Gedanken zu erfassen, aus dem einmal etwas von Bedeutung hervorgehen könnte… Ich werde hier meine These nicht weiter ausführen, denn aus politischer und publizistischer Sicht ist sie möglicherweise uninteressant, doch ahne ich, dass, wenn sich der Mensch des Westens und der Mensch des Ostens einmal tatsächlich begegnen werden, dann nicht in Brüssel, Berlin, Washington oder Peking, sondern, wie Griechen und Römer, wie Heiden und Christen, zwischen Gedichtversen und Prosaabsätzen; zwischen der Farbpalette in der Hand des Malers und der Leinwand; zwischen dem Meißel des Bildhauers und dem Korpus der Skulptur. Überall dort, wo unsere Naturen sie selbst in ihrer reinsten Gestalt sind.

 

Aus dem Polnischen von Andreas R. Hofmann

Jacek Hajduk

Jacek Hajduk

Jacek Hajduk ist Schriftsteller, Übersetzer und Altphilologe, lehrt an der Krakauer Jagiellonen-Universität.

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