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Kriegsgrund „Gender“

Putins ideologisches Denken zeigt sich in seinen Reden. Für seine absurden kulturalistischen Notwehrthesen hat er Verbündete im Westen, etwa Viktor Orbán. Dessen Kampfaufruf gegen die „Gender-Ideologie“ und „globalistische Führer“ entspricht der russischen Propaganda.

Ungeachtet der eindeutigen Faktenlage geben die Kriegsgründe Wladimir Putins weiterhin Anlass zur Kontroverse. Eine russophile Fraktion hält an der Mär fest, dem Diktator gehe es um – wie es oft heißt – „berechtigte Sicherheitsinteressen“. Er wolle die Ukraine als neutralen Puffer zwischen sich und der NATO erhalten. Dazu hätte aber der Status vor dem 24. Februar mit einer völkerrechtswidrig annektierten Krim und ebenfalls gewaltsam besetzten Gebieten in der Ostukraine völlig ausgereicht. Ein „eingefrorener“ Konflikt lässt dem Okkupator alle Möglichkeiten des Zündelns und Scheinverhandelns, speziell wenn es sich um eine Atommacht handelt.

Der als Krieg zur Vernichtung der ukrainischen Nation und zur Einverleibung des ukrainischen Territoriums gestartete Feldzug folgt also offensichtlich imperialistischen Motiven. Die überwiegende Mehrheit der deutschen Bevölkerung sieht das genauso. Die Vertreter der absurden These von den „berechtigten Sicherheitsinteressen Russlands“, welche man berücksichtigen müsse, brüllen laut und veranstalten Demonstrationen. Sie sind jedoch nicht mehrheitsfähig. Das zeigt nicht zuletzt die Lage ihrer parlamentarischen Vertreter. Die rechtsradikale AfD stagnierte bei Landtagswahlen und in Umfragen lange auf niedrigem Niveau. Erst die sich abzeichnende Energiekrise führte zu Zuwächsen bei der Wahl in Niedersachsen, wo etwa jeder Zehnte die Option des fundamentalen Protests wählte. Die Linkspartei ist zumindest in Westdeutschland bedeutungslos. Es macht sich insgesamt bezahlt, dass der Ampel-Regierung mit der Union eine starke demokratische Opposition gegenübersteht.

Auch auf Basis der richtigen Perzeption, dass das russische Regime in imperialer Absicht handelt, können jedoch falsche Schlüsse gezogen werden. Beschränkt man den Blick auf eine rein militärisch-raumorientierte Sichtweise, dann geht es Putin um Landgewinn im Westen, um die Übernahme wichtiger Industriezentren, also schlicht um die Ausweitung des politischen Herrschaftsraums und des ökonomischen Abschöpfungsgebiets. Mithin hätte man es mit einem zwar massenhaft mordenden, aber rational gewinnmaximierenden Akteur zu tun – mit einem skrupellosen Gangster, einem eifernden Nationalisten klassischer Prägung und einer kleptokratischen Politkaste. Doch das erklärt Putins Verhalten nur zum Teil.

Die skizzierte Sichtweise unterschätzt den umfassenderen ideologischen Aspekt in Putins Kriegskalkül, tut ihn zu schnell als nicht-verinnerlichte Propaganda ab. Die Ideologie des Wladimir Putin und seines Herrschaftssystems ist nämlich nicht nur instrumenteller Bestandteil der Kriegsrhetorik. Sie hat einen eigenen Stellenwert und besitzt keinen rein regionalhegemonialen, sondern einen universellen Anspruch. Nur der Bedeutungsgewinn und die schleichende Verselbstständigung der Ideologie machen den neuen russischen Totalitarismus in Gänze verständlich. Was einmal primär als Instrument zur Machtsicherung herangezogen wurde, um niedere Instinkte des Publikums zu bedienen, ist nun eine treibende Kraft des politischen Handelns. Die Ideologie des neuen russischen Totalitarismus bleibt dabei nicht auf den Traum von einem neuen Großrussland, also den klassischen imperialen Nationalismus beschränkt. Vielmehr geht es auch um kulturelle Hegemonie, die exportiert werden soll. Es geht um die Zerstörung der liberalen Demokratie und ihrer auf die Autonomie der Einzelperson bezogenen Ideale, so wie sie sich etwa in den emanzipatorischen Ansprüchen der LGBT+-Community manifestieren.

Der Historiker Timothy Snyder hat den ideologischen Aspekt von Putins Handeln in seinem Buch „Der Weg in die Unfreiheit“ (2018) herausgearbeitet. Dabei zeigt Snyder, welche Bedeutung die Ideen des russischen Faschismus-Bewunderers Iwan Iljin (1883-1954) im Denken Putins einnehmen. Auch die Rolle von Alexander Dugins imperialem Eurasien-Konzept, für das die Vernichtung der Ukraine zentral ist, wird von Snyder behandelt. Es ist jedoch verfehlt, sich bei der Analyse alleine auf Putins offensichtliche Ausrichtung am Modell des raumgreifenden Führerstaats zu beschränken. Deshalb beschreibt Snyder in seinem Buch auch die Kampagnen, die das Putin-Regime gegen Homosexuelle fuhr, sowie die Propaganda gegen den angeblich dekadenten Westen. Iljins vielleicht einflussreichstes Werk trägt den Titel „Über den gewaltsamen Widerstand gegen das Böse“ (1925). Die Definition dieses „Bösen“ findet sich bei Iljin, Dugin – und auch bei Putin. Der poltert nämlich nicht nur gegen angebliche Nazis in der Ukraine und die vermeintliche Bedrohung durch die NATO, er wendet sich auch gegen eine angeblich zerstörerische Denkweise des Westens. Die Reden der russischen Regimevertreter sind beim Wort zu nehmen, wie der Einmarsch gezeigt hat.

Deniz Yücel hat in einem klugen Aufsatz in der Zeitung „Die Welt“ schon kurz nach Kriegsbeginn darauf hingewiesen, dass Putin seinen Krieg „auch aus Schwulenhass“ und Abneigung gegen „queere Lebensstile und gegen die LGBT-Bewegung “ führe, dass es sich um „eine Art bewaffnete Identitätspolitik“ handle. Immerhin, darauf verweist Yücel, fand sich die folgende Passage in Putins Kriegsansprache am 24. Februar: „Und im Grunde haben diese Versuche des Westens, uns für seine eigenen Interessen einzuspannen, nie aufgehört: Er versucht, unsere traditionellen Werte zu zerstören und uns seine Pseudowerte aufzudrängen, die uns, unser Volk, von innen zerfressen sollen, all diese Ideen, die er bei sich bereits aggressiv durchsetzt und die auf direktem Weg zu Verfall und Entartung führen, denn sie widersprechen der Natur des Menschen. Dazu wird es nicht kommen, das hat noch niemand je geschafft. Auch jetzt wird es nicht gelingen.“

Putin wendet sich also gegen westliche „Pseudowerte“, die sein antipluralistisch gedachtes „Volk … zerfressen“, da sie der „Natur des Menschen“ widersprechen. Was der Diktator unter „Pseudowerten“ versteht und welche Bedeutung der im Sinne Iljins und Dugins geführte Kampf dagegen als Kriegsmotiv einnimmt, zeigen seine aktuellen Reden, die in der Zeitschrift „Osteuropa“ nachzulesen sind. Putin postuliert den Krieg als eine Notwehrhandlung, nicht nur gegen die NATO, sondern auch gegen die liberalen Werte des Westens, so wie sie beispielsweise in den Rechten sexueller Minderheiten zum Ausdruck kommen. Am 24. Februar führt er aus: „Genau darum geht es. Um eine reale Gefahr nicht nur für unsere Interessen, sondern für die schiere Existenz unseres Staates, für seine Souveränität. Genau das ist die rote Linie, von der ich mehrfach gesprochen habe. Sie haben sie überschritten.“ Dazu bedurfte es laut Putin aber keiner militärischen Attacke, es genügte die Verbreitung von Ideen, die mit seinem archaischen Ordnungsverständnis kollidieren. Dazu heißt es in der Rede vom 24. Februar: „[D]ie Existenz ganzer Staaten und Völker, ihr Erfolg und ihre Lebensfähigkeit speisen sich immer aus dem mächtigen Wurzelsystem ihrer eigenen Kultur und ihrer Werte, aus den Erfahrungen und Traditionen ihrer Vorfahren.“ Am 16. März begründet er den Krieg offensiv mit der Verhinderung eines „Genozids“ an „unseren Leuten im Donbass“, die angeblich nur „ihre elementaren Menschenrechte eingefordert haben: nach den Sitten und Gebräuchen ihrer Vorfahren zu leben, ihre Muttersprache zu sprechen, ihre Kinder so zu erziehen, wie sie es möchten.“ Schon am 24. Februar sprach Putin vom „Genozid an Millionen Menschen, die dort leben und deren einzige Hoffnung Russland ist“. Am 07. Juli wendet sich Putin gegen „das Modell des totalitären Liberalismus, einschließlich der berüchtigten Cancel Culture“, welches die „herrschenden Klassen der westlichen Länder“ seines Erachtens der ganzen Welt mittels diktatorischer Methoden auferlegten. Doch, so Putin, „die Versuche des kollektiven Westens, der Welt seine neue Weltordnung aufzuzwingen, sind zum Scheitern verurteilt. Ich möchte in diesem Zusammenhang anmerken und unterstreichen, dass wir viele Verbündete haben, auch in den USA und in Europa, und erst recht auf den anderen Kontinenten und in anderen Ländern. Und es werden mehr und mehr werden, daran kann es überhaupt keinen Zweifel geben.“

Die Agenda Putins ist ebenso global wie der imaginierte Feind in Form global agierender liberaler Eliten. Der von ihm als Notwehrhandlung gegen den Liberalismus und Individualrechte beschriebene Krieg kann somit jederzeit auf andere Territorien ausgeweitet werden, was propagandistisch natürlich schon der Fall ist. Aus der Rede am 07. Juli geht hervor, dass der Umsturz im westlichen Europa als Ziel russischer Politik angesehen wird, denn, so Putin, „selbst in den Ländern, die bislang noch Satelliten der USA sind, wächst das Verständnis, dass die blinde Unterwerfung ihrer herrschenden Eliten unter den Souverän in aller Regel nicht ihren nationalen Interessen entspricht, sondern diesen meist diametral zuwiderläuft. Diese Stimmungen werden in der Gesellschaft immer stärker werden, darüber wird irgendwann niemand mehr hinwegsehen können.“ Die Menschen hätten es satt, einem „Verbotsdiskurs“ zu folgen, „auf den Knien zu liegen und sich zu erniedrigen vor diesen Leuten, die sich für etwas Besseres halten“. Der Patriarch der russisch-orthodoxen Kirche (Kyrill I.) rechtfertigte den Krieg mit denselben Argumenten wie Putin. Im März hob er in einer Predigt hervor, dass sündhafte „Schwulen-Paraden“ als Loyalitätstest gegenüber der feindlichen Macht fungierten.

Russlands imperialer Nationalismus geht mit einer fundamentalistischen Negation liberaler Individualrechte sexueller Minderheiten und mit einem archaischen Verständnis sozialer Ordnung einher. Die Gegenwart in liberalen Demokratien wird von Putin (07.07.) als „totalitäre[r] Liberalismus“ begriffen, von dem auch Menschen im Westen befreit werden sollten, da sie „ein solches Leben und eine solche Zukunft nicht wollen“ und „in Wirklichkeit nicht nach formaler, dekorativer Souveränität streben, sondern nach substanzieller, echter“. Putin beansprucht also Deutungshoheit nicht nur über den Donbass, sondern auch über jene Gesellschaften, die er dem „kollektiven Westen“ zuordnet.

Was passiert, wenn sich derartige ideologische Ziele verselbstständigen, die Kontrahenten des Aggressors aber von der Bedürfnisbefriedigung durch territoriale Zugeständnisse ausgehen, zeigt ein Tagebucheintrag von Joseph Goebbels. Zum Münchner Abkommen notiert er am 28. September 1938: [W]ir nehmen feierlich das sudetendeutsche Gebiet, die große Lösung bleibt noch offen, und wir rüsten weiter für künftige Fälle. Das ist der große Sieg, den der Führer jetzt erringen kann.“ Der Kampf ging bekanntlich weiter, bis zum Ende, denn „künftige Fälle“ wird es zwangsläufig geben.

In der jetzigen Situation, die mit den 1930er Jahren des letzten Jahrhunderts vergleichbar ist, ist es besonders prekär, dass Putin ideologische Verbündete im Westen hat. Viktor Orbáns Rede auf der rechtsradikalen CPAC-Konferenz in Dallas am 04. August 2022 erinnert nicht zufällig an die dargestellten Aussagen des russischen Machthabers. Laut offiziellem Manuskript polemisiert Orbán gegen George Soros, die „Gender-Ideologie“ und die „globalistischen Führer“, die alle „zur Hölle fahren“ könnten. Die Rede enthält unmissverständliche Handlungsaufrufe bis hin zu einer Notwehr- und Kampfrhetorik: „Weniger Drag-Queens, mehr Chuck Norris. … Also lasst uns den Kampf aufnehmen. … ‚Es gibt keinen Feind, den Christus nicht schon besiegt hätte‘ [Johannes Paul II.]. Lasst uns also rausgehen und loslegen!“ Von Polen aus wird dieser Kampf für die Erneuerung einer fundamentalistisch-antiliberalen Ordnung und gegen gleiche Rechte etwa durch die Organisation Ordo Iuris geführt.

Die rechtsradikalen Kräfte in Europa sehen in Putin gerne, wenn überhaupt, einen raumorientiert-rationalen Imperialisten oder Kolonialisten. Dann fallen die Parallelen nicht so auf. Putin betreibt aber zudem einen aktiven und unbedingten Kulturkrieg, dessen ideologisches Fundament auch unsere Demokratien unterwandert. Die Rhetorik des ungarischen FIDESZ, des französischen Rassemblement National, der polnischen PIS, der deutschen AfD, der österreichischen FPÖ, der spanischen Vox oder der italienischen Fratelli d’Italia ist sehr ähnlich.

Markus Linden

Markus Linden

außerplanmäßiger Professor für Politikwissenschaft an der Universität Trier, zu seinen Forschungsschwerpunkten zählen u.a. Theorie und Empirie der Demokratie, Parteien- und Parteiensysteme, die Neue Rechte und Rechtspopulismus.

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