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Russlands Krieg gegen die Ukraine in sicherheitspolitischer Perspektive

In öffentlichen Debatten in Westeuropa über die Hilfe für die Ukraine werden Gefühle der Solidarität mit den Ukrainern häufig Sorgen um die Sicherheit des Westens gegenübergestellt. Dieser oberflächliche Dualismus ignoriert nationale Kerninteressen der EU- und NATO-Mitgliedstaaten an einem vollständigen Rückzug Russlands aus der Ukraine.

Die westliche Unterstützung für die Landesverteidigung der Ukraine gegen die russische Aggression in den letzten Monaten war zwar relevant, aber unzureichend. Sowohl die militärische Hilfe für die Ukraine als auch die Sanktionen gegen Russland bleiben in ihrer Dimension und Wirkung beschränkt. Infolgedessen geht Moskaus Terrorkrieg in der Ukraine unvermindert weiter. Die russische Wirtschaft hat zwar zunehmende Probleme, aber sie funktioniert bislang. Der russische Staatsapparat und die politische Elite zeigen sich wenig beeindruckt.

Der Sirenengesang des Pseudo-Realismus

Einer der Gründe dafür, dass es dem Westen nicht gelungen ist, mehr Unterstützung für die Ukraine zu mobilisieren, ist eine Fehleinschätzung der geostrategischen Bedeutung des russisch-ukrainischen Krieges in der westeuropäischen Öffentlichkeit. Bisher wird der Krieg von vielen Beobachtern eher als eine ost- denn gesamteuropäische Sicherheitsherausforderung wahrgenommen. Die Sympathie mit den Ukrainern und Ablehnung des russischen Angriffs sind freilich nicht nur in Ostmitteleuropa groß. Auch die westliche Öffentlichkeit hat ein überraschend hohes Interesse und Mitgefühl für die Ukraine entwickelt.

Für die meisten Westeuropäer gilt jedoch: Was in der Ukraine geschieht, bleibt in der Ukraine. Der Krieg mag sich in dieser oder jener Hinsicht zwar auch auf Menschen im Westen auswirken. Inflationseffekte sind für viele spürbar; Angst vor weiteren Wohlstandsverlusten greift um sich. Doch führt eine solche prinzipielle Anerkennung transeuropäischer Rückwirkungen von Moskaus Aggression bis dato nicht zu effektiverer Hilfe für die Ukraine und resoluteren Sanktionen gegen Russland.

Vielmehr behindert der diskursive Rahmen „Empathie vs. Sicherheit“ europäische und nationale Debatten über Wege zur Eindämmung russischer Aggressivität. Ein scheinbar emotionaler Drang nach internationaler Solidarität wird vermeintlich rationaler Berücksichtigung eigener nationaler Interessen gegenübergestellt. Scheinrealistische Argumente über eine „kluge“ westliche Strategie schwächen anscheinend idealistische Forderungen nach mehr Fürsorge für die Ukraine. Der Kern vieler westlicher Überlegungen zum Krieg ist nach wie vor: „Natürlich unterstützen wir die Ukrainer in ihrem Kampf für Freiheit und Unabhängigkeit. Aber letztlich ist alle Politik lokal. Wir haben zwar Mitgefühl mit dem Leid der Ukraine, aber es ist am Ende nicht unser Leid.“

Das Ziehen solcher Trennlinien zwischen der ukrainischen Landesverteidigung und Sicherheit des Westens präsentiert sich als realistisch und vorsichtig. Tatsächlich offenbart dieser Ansatz jedoch eher eine eskapistische als pragmatische Weltsicht. Die strategische Naivität des westlichen Pseudorealismus untergräbt nicht nur die normativen Grundlagen, auf denen der innenpolitische Konsens und die internationale Zusammenarbeit westlicher Staaten beruhen. Sie stellt die geografische Realität und geopolitische Rolle der Ukraine für Europa und die Welt irreführend dar. Das Schicksal des ukrainischen Staates und seiner Bürger hat weitreichende Auswirkungen für den europäischen Kontinent und das internationale Staatensystem.

Die weltweite Ordnung wird mit jedem Monat stärker bedroht, mit dem Russland seine Untergrabung ukrainischer Staatlichkeit fortsetzt. Auch national besorgte „Realisten“ erkennen an, dass dies eine bedauerliche Entwertung des Völkerrechts im Allgemeinen und der europäischen Sicherheitsordnung im Besonderen bedeutet. Dennoch werden solche negativen Auswirkungen oft als erträgliche Kollateralschäden einer teilweisen Beschwichtigung Russlands angesehen. Eine überregionale Eskalation der russisch-westlichen Spannungen, so die scheinpragmatische Kalkulation, wäre weitaus schlimmer.

Das Schreckgespenst eines Atomkriegs ist ein gängiges Totschlagargument in öffentlichen Debatten zur europäischen Ostpolitik. Um eine Apokalypse zu vermeiden, so die typische Argumentation, ist letzten Endes jeder Preis gerechtfertigt. Der Schaden, den ein russischer Erfolg in der Ukraine dem internationalen System zufügen würde, sei zwar bedauerlich. Dennoch ist er der Alternative einer fortgesetzten militärischen Konfrontation und dem Risiko einer nuklearen Eskalation vorzuziehen – so die Logik westlicher Scheinrealisten. Dabei kommt den Befriedungsanwälten zupass, dass eine andere Nation als die eigene die notwendigen Opfer erbringen muss, um den Kreml zu besänftigen. Die Ukrainer werden mit begrenzter westlicher Unterstützung auskommen müssen und weiterhin die Hauptlast der Kriegsfolgen zu tragen haben.

Jedoch ist dieser vorgeblich an nationalen Sicherheitsinteressen orientierte und realistische Ansatz nicht nur zynisch, sondern auch in sich inkonsistent. So widerspricht es konsequentem Realismus, zu behaupten, dass der Aufbau von Gegenallianzen und bewaffneter Abschreckung gegenüber Russland nicht funktioniert. Unabhängig davon, welche militärische Unterstützung die Ukraine erhalten kann und welche westlichen Sanktionen gegen Russland verhängt werden, so die scheinrealistische Annahme der Befriedungsanwälte, sei Moskau stets zu weiterer Eskalation fähig. Die Russen seien bereit, selbst hochgradig selbstzerstörerische Schäden für ihre Wirtschaft, Armee und Gesellschaft in Kauf zu nehmen, ja letztlich die Integrität ihres eigenen Staates zu riskieren. Doch wenn sich die Russen tatsächlich derart „unrealistisch“ verhalten: Wozu ist dann Realismus noch gut?

Zudem ist in vielen scheinrealistischen Überlegungen nicht nur unklar, welche Kosten Kyjiw zur Befriedung Moskaus auferlegt werden können und welche nicht. Es mangelt auch an Aufmerksamkeit für die hohen sekundären Risiken und Kosten der russischen Untergrabung ukrainischer Souveränität für andere Länder als die Ukraine und Russland. Diese Unwägbarkeiten bleiben in den öffentlichen Debatten über den Krieg entweder unerwähnt oder werden nur am Rande diskutiert. So sie zur Sprache kommen, werden sie manchmal als vernachlässigbar abgetan.

Die Untergrabung des Atomwaffensperrvertrags

Der Krieg Russlands gegen die Ukraine und die bisher zurückhaltenden Gegenmaßnahmen des Westens werfen eine Reihe sicherheitspolitischer Grundsatzfragen für ganz Europa, ja die gesamte Menschheit auf. Vor allem verletzt der russische Angriff und die nur zögerliche oder gar ausbleibende Reaktion der Mitglieder des UN-Sicherheitsrats und der UNO-Generalversammlung die Logik des internationalen Regimes zur Verhinderung der Verbreitung von Nuklearwaffen. Der Krieg hat vor achteinhalb Jahren begonnen und verläuft maßgeblich so wie er verläuft, weil Russland über viele Massenvernichtungswaffen verfügt, die Ukraine aber keinerlei derartige Abschreckungsinstrumente hat.

Schlimmer noch: Moskau genießt nicht nur diesen nuklearen Vorteil. Russland ist es durch ein bei den Vereinten Nationen registriertes multilaterales Abkommen auch ausdrücklich gestattet, sein großes Kernwaffenarsenal zu besitzen. Der Atomwaffensperrvertrag von 1968 erlaubt fünf Ländern der Welt, darunter Russland als Rechtsnachfolger der UdSSR, den Bau und Besitz von Nuklearsprengköpfen. Allen anderen der insgesamt 191 Unterzeichnerstaaten des Nichtverbreitungsvertrags (NVV), darunter auch der Ukraine, ist es ausdrücklich verboten, Atomwaffen zu entwickeln und zu erwerben.

Der russisch-ukrainische Krieg ist umso absurder, als die Ukraine einst über ein großes Kernwaffenarsenal verfügte, das sie von der UdSSR geerbt hatte. Kyjiw beschloss jedoch Anfang der 1990er Jahre gemeinsam mit Minsk und Almaty, nicht nur die meisten seiner Atombomben, -munition und -raketen, sondern alle sowjetischen Kernsprengköpfe und das gesamte waffenfähige Nuklearmaterial, das es besaß, aufzugeben. Die Ukraine, Belarus und Kasachstan unterzeichneten den Atomwaffensperrvertrag als so genannte Nichtkernwaffenstaaten.

Im Gegenzug erhielten die drei Länder 1994 von den drei Depositarstaaten des NVV, den Vereinigten Staaten, Großbritannien und Russland, jeweils ein spezielles Dokument. Diese so genannten Budapester Memoranden enthielten Sicherheitszusagen von Washington, London und Moskau. Die drei Großmächte versprachen, die Souveränität und Grenzen der drei kurzzeitigen Kernwaffenstaaten zu respektieren und keinen politischen, wirtschaftlichen und militärischen Druck auf sie auszuüben, so sie ihre sowjetischen Nuklearwaffen abgeben. Die beiden anderen offiziellen Atomwaffenstaaten des NVV, Frankreich und China, gaben separate Regierungserklärungen ab, in denen sie ankündigten, dass sie ebenfalls die Unabhängigkeit und Integrität der Ukraine, Belarus’ und Kasachstans respektieren, so diese atomwaffenfrei werden.

Spätestens seit 2014 verletzt Russland dieses weltpolitisch wichtige Dokument, das einst von Moskaus UN-Botschafter Sergej Lawrow 1994 unterzeichnet und bei den Vereinten Nationen hinterlegt worden war, in eklatanter Weise. Russland bestraft heute die freiwillige nukleare Abrüstung der Ukraine mit einem Regen von Zehntausenden von Granaten, Bomben und Raketen, die nicht nur militärische, sondern auch zivile Häuser und Infrastrukturen zerstören und jeden Tag Ukrainer töten, verstümmeln und traumatisieren. Darüber hinaus übt die russische Armee eine Terrorherrschaft in den von ihr okkupierten ukrainischen Gebieten aus. Moskaus demonstrative Untergrabung der Logik des Nichtverbreitungsregimes sollte nicht nur die Ukrainer, sondern auch andere Nationen beunruhigen.

Die zögerliche Hilfe für die Ukraine und verspätete Sanktionierung Russlands durch angeblich friedliebende Staaten wie Deutschland, Österreich oder die Niederlande widerspricht der pazifistischen Motivation, die hinter solchem Verhalten steht. Die in Westeuropa verbreitete Zurückhaltung bei der Unterstützung Kyjiws verstärkt die destruktiven Auswirkungen der russischen Ukraineoffensive auf die Glaubwürdigkeit des internationalen Sicherheitssystems. Die widersprüchlichen Signale, die nicht nur von Russland, sondern auch von anderen offiziellen Atomwaffenstaaten, vor allem von China, ausgehen, sowie die Ambivalenz von Dutzenden nicht-nuklearer NVV-Unterzeichnerstaaten bergen Risiken für die Akzeptanz des Nichtverbreitungsregimes.

Die Fortsetzung des Handels mit Russland und nur halbherzige oder gar fehlende Unterstützung für die Ukraine suggerieren den schwächeren Ländern der Welt, dass im Ernstfall die Macht des Stärkeren gilt. Die Schlussfolgerung etlicher Nationen ohne nuklearen Schutzschirm daraus kann lauten: „Wir können uns weder auf das Völkerrecht und die internationale Gemeinschaft im Allgemeinen noch auf die Logik des NVV und seiner Gründer im Besonderen verlassen. Deshalb brauchen wir selbst die Bombe.“

Die Atomfrage spielt derzeit als Warnung vor einem Dritten Weltkrieg eine große Rolle in europäischen Debatten über das westliche Engagement für die Ukraine. Doch ist eine nukleare Eskalation zwischen der NATO und Russland weder das einzige noch das relevanteste Risiko, das von Moskaus Aggression gegen die Ukraine ausgeht. Die allgegenwärtige Furcht, dass nukleare Abschreckung gegenüber Putins Russland nicht mehr funktioniert, verhindert eine tatsächlich realpolitische Debatte zur Zukunft des Nichtverbreitungsregimes. Das grundsätzliche Problem der Sicherung der Welt gegen die Weiterverbreitung von Atomwaffen hat seit 2014 vor dem Hintergrund von Russlands bewaffneter Invasion ukrainischen Staatsterritoriums in den letzten acht Jahren zu wenig Aufmerksamkeit erfahren.

Stattdessen warnen viele Beobachter immer vor einem apokalyptischen Schlagabtausch der heutigen Atommächte. Der Logik des nuklearen Eskalationsnarrativs folgend hätte dieser allerdings schon mehrfach während des Kalten Krieges stattfinden müssen. Damals verfügten die USA und UdSSR über weit mehr Kernwaffen als heute und waren wiederholt in Stellvertreterkriege gegeneinander involviert. Doch kam es nie zur Apokalypse. Die beidseitige Abschreckung funktionierte. Eine künftige Verbreitung von Massenvernichtungswaffen als immer wahrscheinlichere Folge einer fortlaufenden russischen Okkupation von Teilen der Ukraine bleibt hingegen in der Mediendebatte meist unbeachtet.

Die Macht des Atomwaffensperrvertrags wird in dem Maße schwinden, wie Russland weiterhin demonstriert, dass ein Staat, der mit dem Einsatz von Kernwaffen droht, sein Territorium erweitern und Nachbarland terrorisieren darf. Man sollte meinen, dass die destabilisierenden Effekte von Russlands Krieg gegen die Ukraine auf den NVV vielen Politikern und Journalisten rund um die Welt Sorgen bereitet. Doch ist diese schwerwiegende globale Auswirkung von Moskaus aggressivem Verhalten in den meisten Medienberichten über den Krieg kein Thema.

Die Kernkraftwerke der Ukraine

Eine dahingegen nunmehr offensichtliche unmittelbare nukleare Bedrohung im Zusammenhang mit dem russischen Militärschlag ist die bedrohte Sicherheit der vier großen ukrainischen Atomkraftwerke. Bereits in den ersten Tagen des Krieges, Ende Februar 2022, besetzten russische Soldaten, die von Belarus aus einmarschierten, das Gebiet des stillgelegten Kernkraftwerks Tschernobyl in der Nordukraine. Die Propaganda des Kremls brüstete sich mit der Einnahme des ehemaligen KKW. Die russische Armee stationierte einen Teil ihrer Truppen auf dem 1986 kontaminierten Gebiet des Kraftwerks. Kurz darauf meldete die Internationale Atomenergiebehörde (IAEA) den Verlust des Zugangs zu Informationen über gefährliches radioaktives Material, das in einer speziellen Anlage auf dem Gelände des ehemaligen KKW gelagert ist. Die ukrainische Regierung monierte Unregelmäßigkeiten im Kühlsystem für dieses Material. Erst der Abzug der russischen Truppen aus Tschernobyl löste das Problem.

Spätestens diese dubiosen Vorgänge hätte die internationale Gemeinschaft – oder zumindest die europäischen Medien und Politiker – in Alarmstimmung versetzten müssen. Einige grundlegende wirtschaftsgeografische Überlegungen hätten die europäische Fachwelt und Diplomatie bereits in den acht Jahren zuvor, wenn nicht noch früher, auf dieses Sicherheitsrisiko in der Nähe der EU aufmerksam machen können. Spätestens seit 2014, nach Moskaus Annexion der Krim und dem Beginn des vom Kreml initiierten Pseudobürgerkriegs im Donbass, waren die nuklearen Risiken einer tieferen russischen Invasion in das Kernland der Ukraine offensichtlich. Jeder Beobachter mit elementaren Kenntnissen osteuropäischer Industriegeografie konnte seither verstehen, was bei der Verteidigung der Ukraine gegen die russische Invasion auf dem Spiel steht.

Anstatt dieses Thema schon vor Jahren in den Vordergrund zu rücken, blieb die Sicherheit der ukrainischen KKWs vor möglichen Kriegseinwirkungen bis vor kurzem unter dem Radar der meisten journalistischen, fachlichen und staatlichen Berichte über den Krieg. Und das, obwohl bald nach der Einnahme von Tschernobyl ab Februar 2022 auch das größte Atomkraftwerk Europas, das KKW Saporischschja mit seinen sechs Blöcken nahe der südukrainischen Stadt Enerhodar (wörtlich: „Energiespender“), immer näher an das Kriegsgebiet rückte. Das riesige KKW wurde zu einem Schauplatz russisch-ukrainischer Kämpfe. Ein nächtlicher Schusswechsel zwischen russischen und ukrainischen Truppen auf dem Gelände einer der größten Nuklearanlagen der Welt wurde auf Kamera festgehalten und im Frühjahr 2022 im Internet veröffentlicht.

Seit der Besetzung von Enerhodar durch Russland steht das KKW Saporischschja unter doppelter Verwaltung durch Offiziere des russischen Militärs auf der einen Seite und Nuklearingeneuren des ukrainischen Staatsunternehmens „Enerhoatom“ auf der anderen Seite. Diese Leitungs- und Verantwortungskonkurrenz zweier Staaten, die sich im Krieg befinden, ist für Europas größtes KKW eine unmögliche Situation. In den letzten Wochen hat es zudem den Anschein, dass der Kreml versucht, die Frage der Sicherheit des Kernmaterials im Kraftwerk als Druckmittel gegenüber dem Westen und der Ukraine einzusetzen. Einige merkwürdige Vorfälle im Kraftwerk könnten vom Kreml inszeniert worden sein, um die Nervosität im Westen im Allgemeinen zu steigern sowie die Zusammenarbeit zwischen der EU und Ukraine im Energiebereich im Besonderen zu untergraben. Mit großer Verspätung hielt die Sicherheit der ukrainischen Kernkraftwerke im Sommer 2022 Einzug in die Kriegsberichterstattung der westlichen Massenmedien.

Die Risiken sind vielfältig und stehen nicht nur im Zusammenhang mit dem KKW „Saporischschja“ bei Enerhodar. Ein weiteres Atomkraftwerk in der Südukraine, das KKW „Juschnoukrainsk“, wurde in den letzten Monaten wiederholt von russischen Raketen überflogen, die von der Schwarzmeerflotte beziehungsweise der Krim abgefeuert wurden und nach Norden in Richtung Kyjiw unterwegs waren. Zwei weitere Kernkraftwerke in der Westukraine wurden bisher noch nicht von russischen Granaten oder Sprengköpfen bedroht. Dies könnte jedoch in der Zukunft geschehen, wenn ein möglicher russischer Angriff auf die Westukraine über Belarus auch diese AKWs in die Kampfzone bringt.

Vor dem Hintergrund der Erfahrungen, die Europa mit den Folgen der Tschernobyl-Katastrophe von 1986 gemacht hat, sollte die Sicherheit der ukrainischen KKWs ein wichtigeres Thema als bislang in der Medienberichterstattung, Politik und Fachwelt werden. Sie sollte auch – stärker als bisher – in die diplomatische Kommunikation innerhalb des Westens und mit Russland einfließen. Für westliche Politiker, Diplomaten und Experten ist es wichtig, bei der offiziellen und inoffiziellen Behandlung des Themas so deutlich wie möglich zu machen, dass die Besorgnis um die ukrainischen KKWs ausschließlich mit illegalen Aktionen Russlands in der Ukraine zusammenhängt.

Moskau möchte in seiner medialen und politischen Kampagne gegen die Ukraine eine Art „Tschernobyl-Karte“ spielen. Russlands Propagandisten versuchen, die unterinformierte westliche Öffentlichkeit davon zu überzeugen, dass die Ukraine wie schon 1986, eine Quelle von Unsicherheit für Europa ist. Diesen irreführenden Darstellungen muss entschlossen entgegengewirkt werden.

Was die afrikanische und asiatische Wahrnehmung der jüngsten Getreidekrise betrifft, so war der Kreml mit einer ähnlichen Desinformationskampagne erfolgreich. Moskau ist es gelungen, nicht nur einfache Bürger, sondern auch die Eliten etlicher Staaten Afrikas und Asiens davon zu überzeugen, dass nicht Russland für die im Sommer 2022 Nahrungsmittelkrise verantwortlich war. Stattdessen seien die Ukraine und der Westen für die jüngste Verknappung von Getreide und anderen Nahrungsmitteln auf den Weltmärkten verantwortlich.

In diesem Zusammenhang kann daran erinnert werden, dass die 1986er Nuklearkatastrophe von Tschernobyl nicht auf ein Versagen der damaligen ukrainischen Führung zurückzuführen war. Wie es etwa Professor Serhy Plokhii von der Harvard-Universität in seinem bahnbrechenden Buch „Tschernobyl“ beschreibt, wurde der damalige Vorsitzende des Ministerrats der Ukrainischen Sozialistischen Sowjetrepublik durch einen nächtlichen Anruf des Vorsitzenden des Ministerrats der Union der Sozialistischen Sowjetrepubliken über den Vorfall in Tschernobyl informiert. Und das, obwohl sich der ukrainische Ministerpräsident zum Zeitpunkt des Unfalls 1986 in Kyjiw, also nur etwa 100 Kilometer von Tschernobyl entfernt, aufhielt. Der sowjetische Ministerpräsident, der seinen ukrainischen Untergebenen in der ukrainischen Hauptstadt darüber informierte, was nicht weit von seinem Standort entfernt geschah, rief ihn aus Moskau an, das etwa 700 Kilometer von Tschernobyl entfernt liegt.

Der Grund für diesen seltsamen Kommunikationsweg war, dass die KKWs der UdSSR strategische Objekte waren. Sie unterstanden daher nicht der lokalen Verwaltung der Pseudo-Republiken in der Sowjetunion. Stattdessen unterlagen der Bau und Betrieb aller sowjetischen AKWs der direkten Kontrolle des Zentrums der UdSSR in der russischen Hauptstadt. Dieser bizarre Umstand war eine der sowjetischen Anomalien, die 1986 zu dem Zwischenfall in Tschernobyl geführt hatten.

Schlussfolgerungen

Darüber hinaus birgt der russische Angriff auf die Ukraine weitere gesamteuropäische und teilweise globale Risiken. Internationale Handelsketten für Lebensmittel, Energie sowie andere Ressourcen und Güter werden unterbrochen. Neben dem Atomwaffensperrvertrag werden andere internationale Vereinbarungen und Organisationen ausgehöhlt. Die Integrität nicht nur verschiedener regionaler Sicherheitsregime, wie der OSZE, wird in Frage gestellt. Auch die Vereinten Nationen und ihre verschiedenen Organe sowie Unterorganisationen geraten angesichts des brutalen Angriffs Russlands auf die Ukraine unter Druck. Insbesondere der Sicherheitsrat und das Vetorecht seiner ständigen Mitglieder, zu denen auch Russland gehört, erscheinen immer kritikwürdiger. Teile des UN-Systems und anderer internationaler Organisationen werden von einem ihrer offiziellen Garanten unverblümt für expansionistische Zwecke instrumentalisiert.

Grundlegende Zweifel an der Nützlichkeit der derzeitigen Weltordnung wachsen nicht nur unter den Bürgern der umkämpften Ukraine. Auch andere Menschen, die sich um die Grenzen, Souveränität und Integrität ihrer Vaterländer sorgen oder/und sich von Russland beziehungsweise anderen revanchistischen Ländern bedroht fühlen, entwickeln Zweifel an der gegenwärtigen internationalen Ordnung. Aktivisten, Politiker, Experten und Journalisten nicht nur in der Ukraine haben begonnen, über die Eignung des UN-Systems zur Wahrung von Stabilität, Gerechtigkeit und Frieden zu diskutieren.

Russland fährt fort, die Europäische Sicherheitsordnung im Besonderen und das internationale Sicherheitssystem im Allgemeinen zu demontieren. Dabei nutzt der Kreml die formellen und materiellen Privilegien Russlands, wie Moskaus Sonderrechte im Rahmen der UN und des NVV oder auch seine Kontrolle über Atomwaffen und Handelswege. Gleichzeitig hält die rhetorische und militärische Aggressivität des offiziellen Russlands gegenüber der Ukraine unvermindert an. Immer mehr Gräueltaten der russischen Armee in der Ukraine lösen nicht nur moralische Empörung aus. Der zunehmend völkermörderischere Charakter des russischen Angriffs auf die Ukraine hat weitreichende und langfristige Folgen. Das terroristische Vorgehen des Kremls untergräbt Geist und Buchstaben dutzender internationaler Verträge und Organisationen, an denen Moskau beteiligt ist und die es teilweise mitbegründet hat.

Die immer deutlicher werdende transnationale und teils globale Destruktivität des russischen Verhaltens sollte nicht nur Osteuropäer innehalten lassen. Westliche Diskussionen entlang einer Gegenüberstellung empathiegetriebener Solidarität für die Ukraine und scheinbar rational argumentierter nationaler Interessen waren schon immer unpassend. Heute sind sie schlicht irreführend.

Westliche und nichtwestliche Politiker, Diplomaten und Experten sollten die Schwerpunkte und den Ton ihrer Kommentare zu Russlands Angriff ändern. Dies betrifft sowohl die Einschätzungen des russischen Verhaltens in den nationalen Debatten ihrer eigenen Länder als auch den Umgang mit ihren russischen Gesprächspartnern. Sie müssen stärker als bisher betonen, dass Moskaus Fehlverhalten nicht nur für die Ukraine, sondern auch für ihre eigenen Länder, Europa und die Welt eine Bedrohung ist.

Nationale Öffentlichkeiten rund um die Welt sollte von ihren Diplomaten, Journalisten und Politikexperten darauf aufmerksam gemacht werden, dass das Abenteuer des Kremls in der Ukraine Auswirkungen hat, die über die Tragödien in Mariupol, Butscha oder Isjum hinausgehen. Westliche und andere Länder sollten ihre Positionen und Rhetorik gegenüber Moskau umformulieren. Es sollte sowohl der westlichen als auch der russischen Öffentlichkeit stärker bewusst werden, dass nur ein vollständiger Rückzug Moskaus aus der Ukraine eine zufriedenstellende Lösung der Krise und eine akzeptable Begrenzung ihrer zerstörerischen internationalen Auswirkungen sein kann. Als Ergebnis eines solchen diskursiven Wandels in den Partnerländern der Ukraine können neue Signale, politische Maßnahmen und Verträge von einer breiteren und entschlosseneren Koalition williger Staaten ausgehen. Dies wiederum kann bedeuten, dass der Kreml ausreichenden Druck verspürt, um sein Verhalten in der Ukraine zu ändern und sich in künftigen Verhandlungen mit Kyjiw konstruktiv zu verhalten.

 

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Andreas Umland

Andreas Umland

Dr. Andreas Umland studierte Politik und Geschichte in Berlin, Oxford, Stanford und Cambridge. Seit 2010 ist er Dozent für Politologie an der Kyjiwer Mohyla-Akademie (NaUKMA) und seit 2021 Analyst am Stockholmer Zentrum für Osteuropastudien (SCEEUS) des Schwedischen Instituts für Internationale Beziehungen (UI).

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