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Eine neue Ära in China

Der 20. Kongress der Kommunistischen Partei Chinas (KPCh) ist vorbei. Es bestand die Erwartung, er werde einen Umbruch herbeiführen. Tatsächlich ist das in mancherlei Hinsicht auch eingetreten. Als bemerkenswerterweise der vormalige KP-Chef Hu Jintao, der von 2002 bis 2012 im Amt gewesen war, zwangsweise aus dem Saal geführt wurde, brachte das die Epoche Deng Xiaopings gleichsam mit einem performativen Akt zum Abschluss.

Deng leitete in einem rückständigen, armen, auf sich gestellten und von der Welt isolierten Land Reformen ein, das noch dazu orthodox marxistisch bzw. maoistisch war. Selbst ein Opfer der ideologisch-autokratischen Herrschaft Mao Zedongs (1949–1976), verwarf er, einmal an die Macht gelangt, alle Ideologien, stützte seine Regierung auf harten Realismus und Pragmatismus, aber auch auf Vorsicht und allmähliche Veränderung. Er sorgte zudem dafür, dass China und die KPCh eine kollektive Leitung bekamen, weil er aus eigener Erfahrung wusste, dass ein durch nichts gezügeltes Individuum Verwerfungen, ja Katastrophen herbeiführen konnte, so wie der „große Sprung“ und die „Kulturrevolution“ gegen Ende der Herrschaft Maos.

Die Rückkehr des Kaisers

Diese Axiome waren bindend für die anschließenden Regierungen, bis im November 2012 die sogenannte fünfte Führergeneration unter der Leitung von Xi Jinping antrat. Im Verlaufe des letzten Jahrzehnts und seiner beiden fünfjährigen Amtszeiten veränderte Xi China in großem Stil, und der 20. Parteikongress setzte hierauf das sprichwörtliche i-Tüpfelchen. Xi demontierte erfolgreich und endgültig den „kollektiven Kaiser“, wie ihn bis dato das Ständige Komitee des Politbüros des Zentralkomitees der KPCh bildete.

Nicht allein, dass er sich selbst eine weitere fünfjährige Amtszeit sicherte, er überschritt bei der Gelegenheit auch noch die gültigen Altersbeschränkungen (Xi ist 69, bisher konnte jemand nur bis zum Alter von 68 Jahren in die Führungsspitze gewählt werden). Wichtig ist, dass er in die wichtigsten Leitungsgremien von Partei und Staat, nämlich das siebenköpfige Ständige Komitee und das 24-köpfige Politbüro, ausschließlich eigene Anhänger und Kofferträger gebracht hat.

Buchstäblich bis zum letzten Augenblick wurden Personaländerungen vorgenommen, denen sich höchstwahrscheinlich Hu Jintao widersetzen wollte. Tatsache ist, dass die letzten Anhänger der pragmatischen Linie Deng Xiaopings, Ministerpräsident Li Keqiang und das Mitglied des Ständigen Komitees Wang Yang (der noch bis vor dem Kongress oder sogar noch währenddessen als nächster Ministerpräsident gehandelt wurde) dem 205-köpfigen Zentralkomitee nicht mehr angehören werden. Auch der vielversprechende liberale, der etwas jüngeren Generation angehörende Hu Chunhua (geb. 1963) wurde zu den Leitungsgremien nicht zugelassen.

Somit hat die 96 Millionen Mitglieder zählende KPCh eine völlig neue Führung, denn im Zentralkomitee wurden zwei Drittel der Mitglieder ausgetauscht. Alle sind, oder scheinen es zumindest zu sein, Anhänger von Xi Jinpings Vision und Theorie, Partei und Staat bis zum einhundertjährigen Jubiläum der Volksrepublik China, das heißt bis zum 1. Oktober 2049, den Aufstieg zur blühenden Großmacht zu versprechen.

Womit das seit Jahrhunderten bekannte Syndrom von Kaiser und Einpersonenherrschaft nach China zurückgekehrt wäre.

Sturmböen und Unwetter

Auch die harte Diktatur ist wieder da, denn Xi selbst betonte in seinem Programmreferat auf dem Kongress, China laufe Gefahr, von „Sturmböen und Unwettern“ heimgesucht zu werden. Anders gesagt, es müsse sich im Innern wie nach außen neuen, ernsten Herausforderungen stellen.

Innenpolitisch geht es dabei vor allem um strukturelle Probleme, die von Natur aus langwierig sind, etwa die schon spürbare Alterung und Schrumpfung der Gesellschaft als Folge der Einkindpolitik der Jahre 1979 bis 2015; der deregulierte und aufgeblähte Immobilienmarkt, gekennzeichnet durch den notorischen Fall des Unternehmens Evergrande und seiner auf 300 Milliarden US-Dollar geschätzten Schulden; die merkliche Jugendarbeitslosigkeit, die bei bis zu zwanzig Prozent liegt; oder auch die übermäßige Staatsverschuldung, um nur die brennendsten Probleme zu nennen.

Dazu kommen noch die aktuellen Probleme von keineswegs geringerer Dimension und enormer Sprengkraft. Xi Jinping machte auf dem Kongress klar, er werde an seiner Null-Covid-Strategie festhalten, obwohl es doch offenkundig geworden ist, dass ihre Beibehaltung ungeheure ökonomische und soziale Kosten verursacht. Der geplante Zuwachs des Bruttoinlandprodukts (BPI) von 5,5 Prozent wird in diesem Jahr mit Sicherheit nicht erreicht, höchstens die Hälfte davon, sofern alles gut läuft. Darüber hinaus könnte es seit mehr als dreißig Jahren erstmals passieren, dass das Wirtschaftswachstum unter dem der USA liegt, das für Peking der wichtigste Referenzpunkt ist.

Diese von außen betrachtet sture Haltung des neuen Kaisers von China wird verständlicher, wenn wir uns Pekings Propaganda anschauen. Etwa seit Mitte 2020 wird nämlich den Chinesen eingetrichtert, in der Pandemie seien Millionen Menschen gestorben, davon allein in den USA über eine Million, während es in China gerade einmal einige Tausend Opfer gegeben habe.

Das hat lange Zeit funktioniert, versagte aber in dem Moment, da sich erwies, dass die beiden chinesischen Impfstoffe gegen die neue Omicron-Variante des Covid-Virus nichts ausrichten und als man begann, erneut harte Lockdowns zu verhängen. Diese brachten die Öffentlichkeit zum Sieden, und in Shanghai musste sogar der Parteisekretär, der 63-jährige Li Qiang, aus dem Amt entfernt werden, weil sich der Zorn der Menschen auf ihn konzentrierte.

Das hinderte allerdings Xi Jinping nicht daran, diesen langjährigen Genossen zum zweiten Mann in der Hierarchie zu erklären, vorgesehen für das Amt des Ministerpräsidenten; die förmliche Wahl wird im nächsten März bei der Jahressitzung des Volkskongresses vorgenommen. Damit wurde klar demonstriert, ebenso wie im Falle Hu Jintaos, dass der Herrscher nicht schwankt und Stimmungen in der Bevölkerung für ihn keine Bedeutung haben. Es naht die Zeit von Sturm und Drang; also muss sich das Volk um den Führer sammeln, denn dieser ist Schiff und Steuer.

Ideologie und Praxis

Die Spannungen in China nehmen zu, Angst geht um, doch im Allgemeinen vertrauen die Menschen immer noch auf Xi und seine Pläne und Visionen. Diese sind allerdings überaus ehrgeizig und vor allem neuerdings in eine ideologische Gewandung gekleidet.

Der Form nach heißt die soziopolitische Struktur der Volksrepublik China (VRCh) „Sozialismus von spezifisch chinesischer Art“. Der 20. Kongress erhob nunmehr die „Gedanken Xi Jinpings zum Sozialismus spezifisch chinesischer Art in der neuen Ära“ zusätzlich zum Kanon. Von dieser „neuen Ära“ (xin shidai) ist jetzt in den chinesischen Medien ständig die Rede, so wie die „große Renaissance der chinesischen Nation“ auf dem Kongress stark herausgestellt wurde. Worum geht es dabei wirklich?

Xi Jinping regiert seit zehn Jahren, seine „ausgewählten Werke“ zählen bereits vier Bände (einige davon sind auch ins Polnische übersetzt). Sie lassen erkennen, dass die „Ideen Xi Jinpings“ (Xi Jinping sixiang) explizite Grundlagen des ideologischen Systems dieses Politikers und nunmehrigen Führers Chinas darstellen. Sie stützen sich auf mehrere Säulen: den Leninismus, verstanden als harte Disziplin von Partei und Gesellschaft; den Konfuzianismus, da dieser paternalistisch und hierarchisch, also einer autokratischen, zentralisierten Herrschaftsform dienlich ist; den Marxismus, verstanden vor allem als ökonomische Lehre, die den Marktgesetzen nicht vorbehaltlos vertraut, die großen staatlichen Konglomerate stützt und Parteizellen in den Privatsektor einschleust; schließlich einen immer stärker betonten Nationalismus, nämlich einen geschickt propagierten Glauben, dass die Chinesen bereits die Armut überwunden hätten und wieder eine Großmacht seien.

Wie dies praktisch aussieht, zeigte der jetzt abtretende, in der Außenpolitik eine wichtige Rolle spielende Politiker Yang Jiechi beim letztjährigen Staatstreffen in Anchorage in Alaska, als er vor laufenden Kameras die US-Delegation, bestehend aus dem Staatssekretär und dem Sicherheitsberater des Präsidenten, belehrte, sie, die Amerikaner, befänden sich bereits nicht mehr in der Position, um die Chinesen zu belehren. Das gefiel natürlich in der VRCh sehr.

Im Allgemeinen gefallen den Chinesen auch die Forderungen und Pläne Xi Jinpings, wie er sie bisher vorgestellt hat. Sie lassen sich zu den „zwei Jahrhundertzielen“ zusammenfassen (KPCh 2021 und VRCh 2049). Das erste wurde bereits erreicht, was Xi Jinping feierlich vom Tiananmen-Tor aus verkündete, genau von der Stelle, an der Mao Zedong bei der Ausrufung der VRCh stand. China sei zu einer „Gesellschaft moderaten Wohlstands“ geworden, es habe zudem extreme Armut überwunden. Das zweite Ziel dagegen ist etwas ganz anderes, nämlich der Wiederauftritt der chinesischen Zivilisation im Weltmaßstab, als Supermacht und Zentrum der Zivilisation; nur eben von „sozialistischer Art“, was immer das auch heißen soll.

Xi Jinping ist im Juni 1953 geboren, wird also wahrscheinlich nicht bis 2049 regieren. Umso mehr gilt es, auf ein anderes Datum zu achten, von dem er immer wieder spricht – das Jahr 2035. Bereits auf dem vorherigen 19. Kongress der KPCh im Herbst 2017 nannte er dieses Jahr als Zeitpunkt, zu dem die „innovative Gesellschaft“ erreicht sein solle, mithin eine Gesellschaft, die unabhängig ist und der westlichen Welt nicht nur als Wirtschafts‑ und Handelsmacht die Stirn bietet, was bereits jetzt der Fall ist, sondern auch auf den Feldern von Technik und Raumfahrt.

Später wurde dasselbe Jahr 2035 als Datum genannt, an dem die Reform der Chinesischen Volksbefreiungsarmee abgeschlossen sein soll. Wesentlich ist dabei, dass es nicht so sehr um die Modernisierung der Landstreitkräfte geht als vielmehr um die Flotte sowie den Aufbau von Spezialeinheiten für den Cyberspace. Nicht weniger wichtig: Während der Pandemie, als die Spannungen weltweit stiegen, und noch vor dem russischen Angriff auf die Ukraine, der sie noch weiterwachsen ließ, verkürzte Xi diese Zeitspanne auf das Jahr 2027. Die nächsten fünf Jahre sollen also die entscheidenden sein.

Im Mittelpunkt der Weltbühne

Im vergangenen Jahr, als bereits das „erste Jahrhundertziel“ erreicht war, wurde für das Jahr 2035 noch ein weiteres Ziel ausgewiesen, nämlich dass China bis zu diesem Zeitpunkt nicht nur eine „Gesellschaft moderaten Wohlstands“ sein solle, sondern eine „Gesellschaft des Wohlstands“ (gongtong fuyu). Davon nahm die Staatsführung jedoch in diesem Frühjahr, als Shanghai einem harten Lockdown unterworfen war, stillschweigend wieder Abschied. Doch nicht für immer, denn jetzt wurden auf dem 20. Kongress in die Statuten der KPCh zwei Konzeptionen aufgenommen, eben die „Gesellschaft des Wohlstands“ sowie eine neue Strategie zur Entwicklung des Staats, wie sie von Xi bevorzugt wird, nämlich die sogenannte doppelte Zirkulation oder der doppelte Umlauf. Diese erklärt, am wichtigsten für die weitere Entwicklung des Staates seien gedeihender Binnenmarkt und starke Mittelklasse, also was dem eigenen Land angehört, während die Weltmärkte lediglich „nützlich“ oder „ergänzend“ seien. Somit wendet sich China, das sich während der Pandemie stark abschloss und zudem in den letzten Jahren ein gegenüber dem westlichen bzw. US-amerikanischen Internet alternatives Internet aufgebaut hat, einmal mehr nach innen, sich selbst zu. Unterdessen hat es Xi Jinping mit Blick auf sein Alter eilig. Er will seine ehrgeizigen Ziele erreichen und sich damit bis 2027, spätestens aber 2035 einen Namen in den chinesischen Annalen machen.

Wird ihm das gelingen? Wird seine Strategie Erfolg haben? Das können wir natürlich nicht wissen. Wir wissen aber, dass das erstarkende China gemeinsam mit seinem charismatischen Führer einen „gebührenden Platz im Mittelpunkt der Weltbühne“ einnehmen will, wie die sich ständig auf Xi beziehende chinesische Propaganda unablässig verkündet.

So müssen wir uns klarmachen, dass China tatsächlich in eine neue Ära eingetreten ist. Wir wissen nur noch nicht, was diese mit sich bringen wird, den Chinesen selbst wie ebenso, mit Blick auf Rang und Gewicht des Landes, der ganzen Welt.

 

Aus dem Polnischen von Andreas R. Hofmann

 

 

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Bogdan Góralczyk

Bogdan Góralczyk

Professor Bogdan Góralczyk ist Politologe, Sinologe, ehemaliger polnischer Botschafter und ehemaliger Direktor des Europäischen Zentrums an der Universität Warschau.

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