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Offene Wunden? Vergessene deutsche Verbrechen in Polen

Zwischen Wejherowo und der beliebten Touristenregion rund um den Żarnowiec-See im Norden Polens liegt der dunkle Wald von Piaśnica, selbst im polnischen Hochsommer ein schattiger und kühler Ort und eine willkommene Abwechslung zur Hitze an der Ostseeküste. Der Wald kann andererseits aber auch unheimlich und beängstigend wirken, vor allem wenn man hinter dem Dorf Wielka Piaśnica ein Mahnmal in Form einer zwölf Meter hohen Granitstele erreicht. Sie markiert einen Ort, der, wie die Inschrift auf der Stele besagt, „mit dem Blut der Polen befleckt ist, die für die Freiheit ihres Heimatlandes gestorben sind.“

Für viele Menschen in Deutschland scheint das Bild des deutschen Vernichtungskrieges im Osten Europas sowie des Holocausts das einer langen Reihe von Konzentrations- und Vernichtungslagern zu sein, von Auschwitz-Birkenau, von Belzec, Maidanek, Theresienstadt. Aber schon lange bevor sich die Vernichtungsmaschinerie mit Deportationen und Massentötungen nach der Wannsee-Konferenz 1942 in Bewegung setzte, war die Realität für die Bewohner der von der Wehrmacht besetzten Gebiete oft eine andere: die einer ständigen Bedrohung durch Verhaftungen, Geiselnahme und Zwangsarbeit, die einer ständigen Gefahr, dass die eigene Familie willkürlichen Repressionen ausgesetzt war, das eigene Haus verbrannt wurde oder man sich am Rande eines Massengrabes wiederfand, die Männer der Einsatzgruppen hinter einem. Diese Repressionen und gezielten Morde waren nicht das Ergebnis des Überfalls auf die Sowjetunion im Jahr 1941, sondern der gnadenlosen Politik der Nationalsozialisten, welche vom ersten Tag des Zweiten Weltkriegs besonders in Polen umgesetzt wurde.

Der russische Überfall auf die Ukraine zeigt wieder einmal, wie viele blinde Flecken es in der deutschen Wahrnehmung des Zweiten Weltkrieges und der Maschinerie des Holocausts gibt. Wie Franziska Davies und Katja Makhotina in Offene Wunden Osteuropas, ihrem gerade erschienenen essentiellen Werk zu Erinnerungskultur in Deutschland und Osteuropa, schreiben:

„Die Erinnerung an den Zweiten Weltkrieg hängt also zusammen mit unserer Gegenwart und mit unserer Zukunft. Auch wenn den Deutschen jüngst eine erinnerungskulturelle Fixierung auf den Holocaust vorgeworfen wurde, so hat dieses Buch zu zeigen versucht, dass es tatsächlich nach wie vor Leerstellen gibt, gerade was das Ineinandergreifen von Holocaust und Vernichtungskrieg im östlichen Europa angeht. Auf der einen Seite steht der Erinnerungsort ‚Anne Frank‘, auf der anderen Seite ‚Stalingrad und die Niederlage Berlins‘. Dabei gehört beides untrennbar zusammen.“

Dazu gehören auch die Verbrechen der Wehrmacht, SS und Einsatzgruppen in Polen. Kurz nach dem deutschen Überfall auf Polen traten Einheiten der NS-Sicherheitspolizei und der Gestapo, die hier erstmals so bezeichneten „Einsatzgruppen“ mit dem Auftrag in Aktion, bewaffneten Widerstand hinter der Front zu unterdrücken. Die Neutralisierung eines imaginären polnischen Widerstandes von „Heckenschützen“, den es 1939 nicht gab, war Teil der Pläne für den deutschen Überfall, die Planung der Einsatzgruppen aber auch gleichzeitig Deckmantel für ein ideologisches Programm mit dem Codenamen „Unternehmen Tannenberg“.  Diese von Hitler angeordnete und von Reinhard Heydrich, Chef des Reichssicherheitshauptamts, umgesetzte Aktion hatte die Ermordung der polnischen Führungs- und Bildungsschicht zum Ziel, um eine Neuordnung des eroberten Gebiets nach politischen und ethnischen Gesichtspunkten vorzubereiten. Im Voraus hatte Heydrich zusammen mit Vertretern der volksdeutschen Minderheit in Polen, denen Führungspositionen nach dem Einmarsch versprochen waren, das sogenannte „Sonderfahndungsbuch Polen“ angelegt, in dem über 60.000 polnische Politiker, Intellektuelle, Lehrer, Pfarrer, Offiziere und andere aufgelistet waren, die alle „liquidiert“ werden sollten. Solche Listen wurden später auch für andere besetzte Gebiete aufgestellt.

Einer der Orte, an dem diese Mordpläne in die Tat umgesetzt wurden, war der Wald von Piaśnica. Einer der Hauptverantwortlichen hierfür war Danzigs NSDAP-Gauleiter Albert Forster, Chef der Zivilverwaltung und später Reichsstatthalter. Forster, Mitglied der NSDAP seit 1923, war ein fanatischer Vertreter der Vernichtung von Polen und bestrebt, Hitler seinen Gau als erster Gauleiter nicht nur „judenfrei“, sondern auch „polenfrei“ melden zu können. Und so ermordeten die Einsatzgruppen, aber auch Polizisten und Mitglieder des sogenannten „Volksdeutschen Selbstschutzes“ zwischen Oktober 1939 und Frühjahr 1940 im Wald von Piaśnica tausende Menschen. Die Frauen und Männer, deren Namen sich auf Heydrichs Liste befanden, wurden verhaftet, zunächst in das Gefängnis von Wejherowo verfrachtet und dann mit geschlossenen Lastwagen in den Wald von Piaśnica transportiert, wo sie an vorbereiteten Gruben erschossen wurden. Neben den Opfern von „Unternehmen Tannenberg“ wurden hier auch Kaschuben aus der Region, psychisch Kranke und internierte deutsche Antifaschisten, Polen, Tschechen und Juden ermordet. Die genaue Anzahl der Opfer ist unbekannt, da die Nationalsozialisten 1944 die Beweise für die Massaker zu vernichten versuchten. Häftlinge des Konzentrationslagers Stutthof wurden im August 1944 in den Wald gebracht und gezwungen, die Massengräber auszugraben, die Leichen zu entfernen und sie in speziell vorbereiteten Waldkrematorien zu verbrennen. Nach sechs Wochen dieser Arbeit wurden die Häftlinge von den sie beaufsichtigenden SS-Truppen ermordet und ihre Leichen ebenfalls verbrannt. Über die Jahrzehnte nach Ende des Krieges wurde der Gedenkkomplex in Piaśnica erweitert. Heute erinnert neben der 1955 errichteten Stele an der Straße nach Wejherowo eine Gedenkstätte mit einer Mausoleumskapelle und verschiedenen Gedenksteine an die Opfer.

Aber auch wie später im Vernichtungskrieg gegen die Sowjetunion waren Soldaten der Wehrmacht seit Beginn des Krieges an Massakern an der polnischen Zivilbevölkerung beteiligt, wie eine Steintafel vor der neugotischen Kathedrale von Częstochowa im Süden Polens belegt. Die Inschrift lautet:

„Am 3. und 4. September 1939 trieben die Deutschen tausende von Polen und Juden an der Kathedrale und Kirche von St. Sigismund zusammen, vor dem Rathaus und anderen Orten der Stadt töteten sie etwa 300 wehrlose Menschen. Lasst uns für die Opfer und die Täter beten.“

Anfang September wütete die Wehrmacht in der durch die Ikone der Schwarzen Madonna im Kloster Jasna Góra weltbekannte Stadt. Częstochowa wurde am 3. September 1939 kampflos von der deutschen Wehrmacht besetzt, die dort stationierten Einheiten der polnischen Armee hatten zusammen mit vielen arbeitsfähigen männlichen Zivilsten die Stadt geräumt. Das 42. Infanterieregiment „Bayreuth“ der 10. Armee der Wehrmacht rückte am Nachmittag in die Stadt ein, die Zivilbevölkerung der Stadt verhielt sich friedlich, und Durchsuchungen von Häusern und Geschäften ergaben keine versteckten Waffen.

Am nächsten Tag jedoch kam es an zwei Orten zu Schießereien in der Stadt, die wahrscheinlich auf unerfahrene Soldaten der Wehrmacht zurück zu führen sind, die, von der deutschen Propaganda über „Heckenschützen“ verunsichert und aufgehetzt, auf Fenster und Häuser schossen. Acht deutsche Soldaten kamen dabei ums Leben und 14 wurden verwundet. Als „Vergeltung“ gegen die „Heckenschützen“ kam es dann am Nachmittag des 4. September zu gezielten Pogromen gegen die polnische und jüdische Bevölkerung der Stadt.

Soldaten des 42. Infanterieregiments zerrten tausende Bewohner, inklusive Frauen und Kinder, aus ihren Häusern und trieben sie zu den Sammelplätzen auf dem Markplatz der Stadt und dem Platz vor der Kathedrale, wo sie gezwungen wurden, stundenlang mit dem Gesicht nach unten zu liegen oder mit erhobenen Händen zu stehen. Die Männer wurden von den Frauen getrennt und durchsucht. Jeder Mann, bei dem ein „verdächtiger“ Gegenstand wie ein Rasier- oder Taschenmesser gefunden wurde, wurde an Ort und Stelle erschossen. Auf eine andere Gruppe Männer eröffneten deutsche Soldaten das Feuer mit Maschinengewehren. Auf der Rückseite des Rathauses erschoss die Wehrmacht 48 Menschen direkt an einem Luftschutzgraben und verscharrte sie hier hastig. Insgesamt erschoss die Wehrmacht an diesem Tag zwischen 300 und 400 Menschen, die genaue Zahl ist unbekannt. Tausende weitere Einwohner Częstochowas waren gezwungen, an den Sammelplätzen und in Kirchen zu verharren und hier auch ihre Notdurft zu verrichten, bis sie am nächsten Tag freigelassen wurden. An diesen in Częstochowa auch als „Blutiger Montag“ bekannten Tag erinnert heute neben der Tafel an der Kathedrale auch eine von den Schülern der Grundschule Nr. 6 gestiftete Tafel:

„Schulhof als Gedenkstätte: Der tragische Tod vieler Polen, die durch die Hand der deutschen Besatzer in den ersten Septembertagen 1939 umkamen. Zum Gedenken an die Opfer des Faschismus!“

Die Auseinandersetzung mit den deutschen Verbrechen, die in Polen ihren Anfang nahmen, ist zweifellos schmerzhaft, aber für die Verständigung mit der polnischen Zivilgesellschaft und das Verständnis europäischer Geschichte gerade im Hinblick auf den russischen Überfall absolut notwendig. Auch, um das Selbstverständnis der Polen zu verstehen, und die überzogenen Forderungen der PiS-Regierung nach Reparationen. Wie Historiker Peter Oliver Loew, der Leiter des deutschen Poleninstituts, kürzlich in einem Interview sagte:

„Deutschland steht in einer Schuld, und zwar dem ganzen Land gegenüber. Die Bundesregierung sollte unabhängig davon, was Polen jetzt verlangt, der polnischen Gesellschaft einen Vorschlag machen. […] Deutschland muss sich also grundsätzlich überlegen, wie es mit diesen Forderungen umgeht. Zwar werden weder Polen noch Griechenland vor irgendeinem Gericht der Welt Reparationsforderungen durchsetzen können. Aber die Bundesregierung muss proaktiv tätig werden, das Leid anderer Gesellschaften anzuerkennen, und viel investieren, Aufmerksamkeit – und Geld. Denn wir haben es hier mit einer gesamten Gesellschaft zu tun, die immer noch an den Wunden des Zweiten Weltkriegs leckt.“

Die Erinnerungsarbeit als „abgeschlossen“ anzusehen, wäre fatal. In Zeiten der zunehmenden Bedrohung von Deutschland, unserer östlichen EU-Partnern und von Ländern wie Moldawien und der Ukraine ist es essentiell, dass wir mehr über die Wahrnehmung deutscher Verbrechen vor Ort verstehen. Und dazu gehören auch das Verständnis und die Bereitschaft dazu, dass die Dokumentation, Erforschung und Vermittlung der oft schmerzlichen und komplexen Details der deutschen Verbrechen niemals aufhören dürfen.

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Marcel Krueger

Marcel Krueger

Marcel Krueger ist Schriftsteller und Übersetzer. 2019 hat er als offizieller Stadtschreiber von Allenstein/Olsztyn im Rahmen eines Stipendiums des Deutschen Kulturforums östliches Europa über das Leben in Ermland-Masuren berichtet. Auf Deutsch erschien von ihm zuletzt „Von Ostpreußen in den Gulag“ (2019).

2 Gedanken zu „Offene Wunden? Vergessene deutsche Verbrechen in Polen“

  1. Ich lebe als Deutscher in Wejherowo und bin recht häufig im Wald von Piaśnica. Es bereitet mir immer ein Unbehagen, wenn ich mich mit der Erinnerung an diese Gräuel konfrontiert sehe. Dennoch gehe ich ganz bewusst zu den offiziellen Gedenkveranstaltungen, um meine Solidarität mit dem polnischen Volk zu zeigen.
    Ich finde es wichtig, dass man sich aktiv mit der Vergangenheit auseinandersetzt, um gewappnet zu sein. Gewappnet gegen die Relativierer, gegen die Leugner und ewig gestrigen. Und zwar gegen die auf beiden Seiten. Konfrontation ist nicht hilfreich sondern nur der Dialog. Und mit bizzaren Geldforderungen vertiefe ich die Gräben nur, statt über den Gräbern die Hände zu reichen.
    Dialog ist das, was uns einander näher bringt.

  2. Diese besagten Ereignisse in Polen weiter aufzuarbeiten, ist m. E. dringend notwendig. Vielfach wird nur auf den Holocaust Bezug genommen. So furchtbar dieser ist, ist es aber zu kurz gegriffen, wenn die anderen abscheulichen Taten des deutschen Staates während des 2. Weltkrieges gegenüber jeglichen Widerständlern und insbesondere auch ausländischen Menschen, darunter Polen, mehr oder weniger unter den Tisch gekehrt werden. – Zielstellung sollte in jedem Falle sein, dass solche Ereignisse nie wieder passieren mögen. Wobei es kein Geheimnis ist, dass KRIEG jeweils eine eigene Dynamik entwickelt.

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