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Was macht einen mächtigen Staat aus? Einige Lehren für Polen

Es gilt die allgemeine Annahme, militärische und wirtschaftliche Stärke seien in erster Linie dafür entscheidend, welchen Rang ein Land international genießt. Aber verhält es sich wirklich so? Und wenn nicht, welche Faktoren geben tatsächlich den Ausschlag?

1.

Es ist leicht zu bestimmen, welche Zwecke ein Land mit seiner Außenpolitik verfolgt. Der wichtigste ist, als Staat fortzubestehen, denn nur ein Land, das seinen eigenen Fortbestand zu sichern versteht, kann auch seine übrigen Zwecke weiterverfolgen: Mit anderen Ländern zu konkurrieren und zu kooperieren, für das Wohlergehen seiner Bürger zu sorgen, schließlich starke und handlungsfähige Institutionen aufzubauen.

Die von der russischen Invasion der Ukraine nur noch bestärkte Annahme in Polen ist jedoch, das Überdauern eines Staates hänge vor allem von seinem militärischen Potential ab.

Diese Meinung wird gemeinhin allerorts von Beobachtern der internationalen Politik geteilt. Ein Blick auf die größten Staaten reicht, um diese Intuition zu bestätigen. Die Vereinigten Staaten dominieren, weil sie über die größte Armee und Wirtschaft verfügen, doch hegen sie immer stärkere Befürchtungen in Hinblick auf China, eben weil dieses unablässig wirtschaftlich expandiert und infolgedessen auch bestimmte militärische und technologische Erfolge vorweisen kann. Daher scheint unschwer zu belegen, es sei die Stärke von Dollar und Yuan sowie im Falle der USA von Hunderten von überseeischen Militärbasen, worauf sich die Vorherrschaft der beiden weltweit mächtigsten Staaten stützt.

2.

Das ist jedoch eine allzu schematische und damit wenig zielführende Auffassung von der Wirklichkeit. Schließlich haben Wirtschaftswachstum und Militärmacht bestimmte Grundlagen, die in den Besonderheiten der einzelnen Länder und Gesellschaften zu finden sind.

Dieser Aufgabe hat sich unlängst Professor Michael J. Mazarr von der RAND Corporation mit seinem Historikerteam gewidmet. Ihre in der Zeitschrift „Foreign Affairs“ veröffentlichten Befunde liefern keine grundstürzend neuen Erkenntnisse, doch bieten sie eine Lehrstunde zur internationalen Politik mit dem Hinweis, dass sich die Sicherheit eines Landes auf zahlreiche, oft auf den ersten Blick nicht wahrnehmbare soziokulturelle Faktoren stützt. Kampfpanzer und Wirtschaftsstatistiken leiten sich von bestimmten Eigenschaften der jeweiligen Gesellschaft her, sie bilden aber nicht die Grundlage für die Stärke des Staates.

Bei der Vorstellung der Ergebnisse der fünfzehnmonatigen Untersuchungen seiner Arbeitsgruppe legt Mazarr dar, bestimmte Eigenarten der Gesellschaften seien von zentraler Bedeutung für den Ausgang von Auseinandersetzungen zwischen den Weltmächten: nationale Charakteristika, aus denen sich Produktivität, Innovativität, sozialer Zusammenhalt und nationale Vitalität ableiten, nicht dagegen militärische und wirtschaftliche Macht.

Das bedeutet nun freilich nicht, diese beiden Faktoren seien unwichtig. Ganz im Gegenteil erlauben sie es stärkeren Staaten, Kriege zu gewinnen und ihre Interessen auf Kosten kleinerer und schwächerer Staaten durchzusetzen. Mazarr hält fest, Wirtschaftswachstum sei zwar eine Grundlage nationaler Macht, sei aber seinerseits aus tieferreichenden Faktoren abzuleiten. Dasselbe gelte für Innovativität, Fortschritte bei der Waffentechnik, der Produktivität und viele weitere, allgemein angewandte Maßstäbe zur Messung nationaler Macht.

Worum handelt es sich bei diesen tieferreichenden Faktoren? Nach Auffassung von Mazarr sei historisch empirisch belegt, dass sich international besonders erfolgreiche Länder durch sieben Grundeigenschaften auszeichnen: „durch Enthusiasmus und Ehrgeiz als motivierenden Faktoren, durch Bereitstellung von Chancen für die Bürger, durch Pflege einer geschlossenen nationalen Identität, durch aktive staatliche Institutionen, durch Handlungsfähigkeit sozialer Institutionen, durch Orientierung auf Bildung und Adaption an die bestehende Realität, aber auch Vielfalt und Pluralismus.“

Jeder einzelne dieser Faktoren bietet jedoch für sich genommen keine Erfolgsgarantie. Vielmehr müssen sie gemeinsam mit einer gewissen Geschlossenheit in Erscheinung treten und ständig aufeinander einwirken. Ist etwa zu erwarten, Institutionen könnten flexibel und handlungsfähig sein, wenn ein Land kein permanentes autodidaktisches Lernen propagiert? Kann ein Staat seinen Bürgern gleiche Chancen bieten, wenn keine Vielfalt und Pluralismus bestehen oder sie begrenzt werden? Auf beide Fragen antwortet Mazarr mit einem entschiedenen Nein.

Andererseits vermögen erfolgreiche Staaten eine gute Balance zwischen diesen Faktoren zu finden, wie der US-Politologe betont. Eine zu ausgeprägte Diversität kann den staatlichen Zusammenhalt schwächen, überbordende nationale Ambitionen können ungesunde nationalistische Reaktionen oder gefährliche hegemoniale Bestrebungen heraufbeschwören. „Nicht Ungestüm, sondern ausgewogene Verhältnisse waren die beste Sicherheitsgarantie für Österreich,“ schrieb einst Henry Kissinger über die Habsburgermonarchie zur Zeit Metternichs. Offenbar besitzt dieses Prinzip durchaus universelle Gültigkeit.

3.

Aus den Ergebnissen von Mazarrs Arbeitsgruppe lassen sich noch weitere nützliche Lehren ziehen, beginnend mit dem Appell zur beständigen Fortentwicklung des Staats über den an die Regierungen gerichteten Rat, die eigenen Bürger wertzuschätzen und ihnen Chancengleichheit zu bieten bis zu der Warnung, Erfolg sei nur möglich, wenn ein gesundes Gleichgewicht zwischen den Interessen von Allgemeinheit und Individuum gewahrt bleibe. Mazarr stellt sich einen Staat vor, der seine eigene Geschichte und ihre Kontinuität achtet. Es ist ein weltoffener Staat, der sich in der Welt zu verankern sucht und der aus ihr Anregungen und Ideen schöpft. Das spielt im Übrigen mit einer sehr einfachen Maxime zusammen, die einst Marc Trachtenberg, ein Klassiker des politischen Realismus formulierte: „Gute Beziehungen mit anderen Staaten sind eine Grundlage der Stärke, schlechte Beziehungen eine Grundlage der Schwäche. Daher ist es sinnvoll, möglichst viele Freunde und möglichst wenige Feinde zu haben.“

4.

Was bedeutet das alles für Polen? Mazarr ist ganz auf die Großmächte und ihren Aufstieg und Niedergang fokussiert. Doch wenn er die Faktoren für Entwicklung oder Regression von Staaten aufzeigt, spricht er eigentlich von jedem beliebigen Land der Welt.

Kleinere Länder wie Polen unterliegen nämlich denselben Regeln wie die Großmächte. Sie haben eigene Interessen und Grenzen ihrer Handlungsmöglichkeiten. Sie bemühen sich, ihr Potential zu vergrößern. Sie gehen Bündnisse ein und streben an, mit dem Potential ihrer Rivalen gleichzuziehen. Sie erfüllen eine wichtige Rolle im internationalen Ökosystem und können darin erfolgreich sein.

Doch hat sich in Polen die Vorstellung verfestigt, die eigene Sicherheit fuße auf der fortschreitenden Erweiterung der militärischen Kapazitäten und dem quantitativen Ausbau der Armee. Diese höchst merkwürdige sicherheitspolitische Denkweise rührt daher, dass innenpolitische Sachverhalte gewöhnlich nicht als integraler Bestandteil der Außenpolitik wahrgenommen werden.

Dabei ist die Innen‑ für die Außenpolitik geradezu grundlegend. Denn die Politik im Landesinnern bedingt doch viele der polnischen Möglichkeiten und Einschränkungen auf dem Gebiet der Außenpolitik. Mittels handlungsfähiger und starker Institutionen, der Förderung von Innovativität und Pluralismus, der Einhegung sozialer Polarisierung und der Schaffung gleicher Chancen für die Bürger kann der Staat günstige Bedingungen für soziale, wirtschaftliche und technologische Entwicklung gewährleisten. Und all das kann sich anschließend in glänzenden Wirtschaftsbilanzen, überdurchschnittlichen ingenieurtechnischen Leistungen und leistungsstarker Rüstungsindustrie niederschlagen.

In diesem Geiste weist Mazarr den Vereinigten Staaten den Weg, die, um ihre Konkurrenzfähigkeit zurückzugewinnen und die Oberhand in der Auseinandersetzung mit China und Russland zu behalten, sehr viel mehr werden tun müssen, als mehr Geld in Rüstung und militärisches Hightech zu stecken als die Rivalen. Anders gesagt, selbst eine Großmacht muss ihre Sicherheit in viel umfassenderen Kategorien denken als in rein militärischen. Ganz zu schweigen von einem kleineren Land wie Polen.

5.

Ironischerweise schrieben Mazarr und sein Team ihre Untersuchung im Auftrag des Pentagon, dessen ganzer Zweck darin besteht, den USA die militärische Überlegenheit über den Rest der Welt zu sichern.

Kämen Mazarrs Thesen der polnischen Regierung zu Ohren, wäre allerdings kaum zu erwarten, dass sie dort positive oder wenigstens wohlwollende Aufnahme fänden. Zur Zeit erfüllt Polen leider kein einziges der genannten Kriterien eines erfolgreichen Staates: Warschau denkt gar nicht daran, aus der Erfahrung anderer Länder Nutzen zu ziehen, sorgt sich nicht um die Qualität der Institutionen, legt keinerlei Wert auf eine Diplomatie, welche die Kunst des Kompromisses pflegt, und ihrer Außenpolitik fehlen Maß und Gefühl für Proportionen. Vor allem aber tut sie schon seit langem sehr viel, um die Fäden zum Zerreißen zu bringen, die Polen noch gerade so eben mit der westlichen Welt verbinden.

Mazarr identifiziert die wichtigste Ursache für diesen Kollaps: „Nationen erlangen in der Konkurrenz ein immenses Übergewicht, wenn sie aktive Eliten haben, die in Kategorien des Allgemeinwohls denken.“

Wie ist dem aktuellen Stand der Dinge abzuhelfen? Wie zu überwinden, was unüberwindlich scheint? Die Antwort auf diese Fragen wird viel entscheidender für die Zukunft der Sicherheit Polens sein als die Anzahl von Soldaten oder Kampfpanzern.

 

Aus dem Polnischen von Andreas R. Hofmann

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Łukasz Gadzała

Łukasz Gadzała

Łukasz Gadzała, Redakteur beim polnischen onlineportal onet.pl, Absolvent der Warschauer Universität und der University of Birmingham. Seine Interessengebiete sind die Politik der Großmächte und die Theorie der internationalen Beziehungen.

Ein Gedanke zu „Was macht einen mächtigen Staat aus? Einige Lehren für Polen“

  1. Den Beitrag von Lukasz Gadzala finde ich bemerkenswert, weil hier mal ganz andere Gesichtspunkte eingebracht werden, die für einen Staat eine Rolle spielen, nämlich nicht nur eine Hochrüstung. Die jeweils regierenden Parteien schlagen jedoch nicht selten einen anderen Weg ein.
    Gerade deswegen ist aber das Zusammenspiel von anderen gesellschaftlichen Kräften von Bedeutung, um den Staat mit zu gestalten.
    Gleichwohl ist es erforderlich, innenpolitische Fragen und Probleme nicht losgelöst von der Außenpolitik zu betrachten bzw. umgekehrt.
    Dass da aber die Interessen mitunter auseinander gehen können, liegt auf der Hand. Das muss es aber nicht, wenn eine Abstimmung erfolgt.

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