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Das Dilemma der polnischen Linken

Es gibt Verhaltensweisen auf der polnischen Linken, die der Regierungspartei PiS Vorschub leisten: Cancel Culture, Radikalismus, verbale Gewalt. PiS nutzt die Schwäche der Zivilgesellschaft, um Bedrohungsszenarien zu entwerfen, und die Linke ist paradoxerweise Wasser auf die Mühlen der PiS-Partei. Wieso ist das so, und wie ließe sich diesem Teufelskreis entkommen?

Ein großer Teil der jungen Polen ist radikal. Entweder sagen sie lautstark und ungeschminkt, was ihnen im Lande nicht gefällt, oder aber ihnen ist alles egal. Das wird mir immer klarer, seit ich an der Nikolaus-Kopernikus-Universität in Thorn Journalismus unterrichte. Unabhängige Medien? Gibt es in Polen nicht, sagen die Studierenden. Entweder PiS-Propaganda oder Clickbaits, Hirnwäsche oder Jagd nach dem schnellen Geld. Sie klinken sich aus all dem aus. Also gehen viele nicht zur Wahl, schauen kein Fernsehen, lesen keine Zeitung und hören kein Radio. Sie lesen im Internet auf Empfehlung von Freunden oder einer der wenigen Autoritäten, die sie anerkennen. Und sie machen sich keine Illusionen, es könnte sich in diesem Land einmal etwas ändern. Es stört sie noch etwas, abgesehen vom Hang zu Clickbait und Propaganda im Internet. Und das viel mehr als die Jagd nach dem Geld, der sie sich zusehends verweigern. Sie haben die Nase voll davon, auf krude Weise gecancelt zu werden. Entweder seid ihr für uns oder gegen uns, das ist die Revolutionsparole, der sie sich vielleicht sogar anschließen würden, wenn Polen dadurch einen mentalen Zivilisationssprung machen würde; aber sie finden das so abstoßend, dass sie lieber gar nichts tun als zu handeln. Sie üben keine Nachsicht mit der Linken, sie sehen diese, als sei sie die einzige Alternative für alle anderen korrupten, berüchtigten und leere Versprechungen machenden Parteipolitiker, die sich nach einem Wahlsieg nie an ihre Versprechen halten.

Die Empfindlichkeit gegen Fehler der Linken reicht oft ans Absurde

Die älteren Polen richten sich hierbei gewöhnlich nach dem Spruch: Wenn der Ochse in den Palast geht, macht ihn das nicht zum König, er macht nur den Palast zum Stall: Wir sprechen in der Öffentlichkeit nicht über unsere Bettgeschichten, wir fluchen nur zu Hause, denn vor Leuten ist das eine Schande. Aber andererseits wollen sie Politiker, die kein Blatt vor den Mund nehmen, charismatisch sind und sich an die Wahrheit halten. Ein falscher Schritt eines Politikers von der Linken, und der Hass, der sich über ihn auch von der eigenen Seite ergießt, steht dem nicht nach, was die Hasser von der Rechten exklusiv der gegnerischen Seite vorbehalten. So stecken wir in der Sackgasse fest. Es ändert sich kaum etwas, und die Rechte profitiert davon. Als Marta Lempart, linke Aktivistin vom „Frauenstreik“, sich erlaubte, vor der russischen Botschaft zu skandieren, „Russen, verpisst euch!“, spaltete das das eigene Lager. Denn schließlich sind nicht alle Russen für Putin, und aufrechte russische Aktivisten standen bei der Demonstration gleich neben Lempart. Junge Leute mit sozialdemokratischen Sympathien besitzen Sensibilität für Nuancen. Sie wollen keine radikalen Ausbrüche, die die Zivilgesellschaft schwächen. Sie haben genug davon, wegen einer abweichenden Meinung beleidigt oder ausgeschlossen zu werden. Sie verabscheuen das doppelte Spiel, im privaten Kreis etwas ganz anderes zu sagen als in der Öffentlichkeit. Das hatten wir schon mal, sagen die jungen Leute. Sie fordern, eine Gesellschaft nach neuen Prinzipien zu gestalten, und zwar nach dem obersten Prinzip, Politiker für Lügen zu bestrafen. Am besten durch komplette und lebenslange Verbannung aus allen Ämtern. Andernfalls werden wir uns in Polen weiter im Kreise drehen. Ganz egal, ob die Linke, die Rechte oder die Liberalen an der Macht sind, Politiker jeder Partei werden nur auf eigene Interessen schauen. Nur dass die Rechte, so meinen die Jungen, so stiehlt wie alle, aber wenigstens ein bisschen davon den Leuten abgibt, wenn auch der Kirche am meisten. Und so kann die Rechte, die mit ihren Lügen ungeschoren davonkommt, die sie in ihrer Propaganda ungehindert verbreitet, noch lange an der Regierung bleiben.

Ist jedoch die Forderung der Jungen, Politiker für ihre Lügen zu bestrafen, in Polen überhaupt umsetzbar? Wem wäre daran gelegen, sich daran zu halten? Solange PiS regiert, wird das bestimmt nicht passieren. Wir sehen schließlich, welche Schwierigkeiten es bereitet, im Sejm Untersuchungsausschüsse zu berufen, die der PiS-Partei nicht gefällig sind. Wer könnte so etwas durchsetzen? Die linken Aktivisten, die sagen, was sie wollen und kein Pardon geben, bezahlen oft einen hohen Preis für ihre Courage. Sie haben psychisch schwer unter den Anfeindungen zu leiden. Das stigmatisiert gleich doppelt. Denn in Polen ist eine psychische Erkrankung immer noch Grund für Scham, und gegen die Anfeindungen im Internet gibt es kein Rezept, denn die Hasskommentatoren kennen keine Scham. Sind wir also dazu verdonnert, weiter unter einer von der Propaganda im Staatsfernsehen gestützten PiS-Regierung auszuharren, während die Opposition hilflos ist und sich häufig genug selbst ein Bein stellt?

Appell an die niedersten Instinkte

Professor Dariusz Dąbrowski, Historiker an der Kasimir der Große-Universität in Bromberg, fürchtet, es gebe keinen Ausweg aus diesem Teufelskreis. Erstens sei die PiS-Partei in der Manipulation der Gesellschaft sehr geschickt. Dies sei übrigens nicht besonders schwierig in Anbetracht der Tatsache, dass PiS systematisch an die niedersten Instinkte und Phobien appelliere, die in der polnischen Gesellschaft verbreitet seien; diese Leute nennt Dąbrowski die PiS-„Bekenner“.

Zweitens kenne PiS keine Skrupel beim Manipulieren der Gesellschaft. Daher bediene sie sich eines systematischen Populismus, während Jarosław Kaczyński gegenüber den „niederen Schichten“ unverhohlene Missachtung bezeuge, wie sie beispielsweise deutlich wurde, als er sich, selbst ein Mann von elitärer Herkunft (wenn auch freilich aus der volkspolnischen Elite) spöttisch mit Donald Tusk verglich, der „im Hinterhof“ aufgewachsen sei.

Dazu Dąbrowski: „Noch dazu akzeptieren Teile der polnischen Gesellschaft solche Einstellungen. Das ist ein Nachhall der Leibeigenschaft und der Einwirkung russischer Denkweisen und Propaganda auf die sozialen Verhältnisse nach dem Muster „guter Zar/Führer“ versus „schlechte Beamte“, die Überzeugung, es gebe nur ein Modell des sozialen Aufstiegs, und zwar das des bedingungslosen Gehorsams gegenüber den Höhergestellten und der genauso bedingungslosen Ausnutzung der Niederrangigen.“

Als Historiker sucht er naturgemäß in der Vergangenheit nach Analogien. Seiner Ansicht nach kommen auf uns Zeiten zu ähnlich denen im Römischen Imperium vom Wechsel vom vierten auf das fünfte Jahrhundert unserer Zeitrechnung. Das in unserer Zeit bestehende korporative System führe dazu, immer größere Mittel in den Händen einer winzigen Elite zu konzentrieren und die sozialen Unterschiede zu vertiefen. Der überwältigende Teil der Gesellschaft werde zur Stellung der spätrömischen Coloni herabgedrückt [d.h. der rechtlosen, Zins leistenden Ackerpächter der Spätantike; A.d.Ü.]. Das seien die Angehörigen des Prekariats in den jüngeren Generationen. Zwar gebe es in Polen genügend Arbeit, doch die völlige Abhängigkeit von der Gnade der Patrizier in den Korporationen ist nicht mehr zu übersehen. Dazu kämen ungemein dynamische Veränderungen in Technologie und Gesellschaft. Diese würden die Atomisierung der Gesellschaft weiter vorantreiben und Massenbewegungen behindern, die nicht in der virtuellen, sondern in der realen Welt aktiv sind.

„Ich fürchte, linke Ideologien kommen mit diesen Veränderungen nicht mehr mit,“ so Dąbrowski. Seiner Meinung nach ist die polnische Linke schwach und gespalten. Denn wie ist es mit der Linken in Polen bestellt? Zum einen stammt sie noch aus volkspolnischer Zeit, verkörpert durch jemanden wie Leszek Miller, einen vormaligen Apparatschik, damals Erster Sekretär des Wojewodschaftskomitees der Polnischen Vereinigten Arbeiterpartei (PZPR) in Skierniewice. PiS hat offenbar eine Wählerbasis, die auch Miller gewinnen könnte, sein Problem ist nur, dass es in Polen immer noch Tabu ist, einstmals für das volkspolnische System eingetreten zu sein; diese Denkweise wurde erfolgreich von der Propaganda der Regierungen im Gefolge der Solidarność gemeinsam mit der katholischen Kirche verankert, der es ganz recht ist, vergessen zu machen, wie stark sie damals vom Sicherheitsdienst infiltriert war, während sie sich gleichzeitig auf Absprachen mit der PZPR einließ. Die Option Miller sei also keine Alternative zu PiS.

„Andererseits gibt es die Linke, die zu meinem großen Bedauern nur auf der Couch hockt und aus eigener Sicht brennende soziale Fragen aufgreift wie LGBTQ-Rechte, die Flüchtlinge an der polnisch-belarusischen Grenze und Frauenrechte, darunter das Recht auf Abtreibung. Das alles sind berechtigte Forderungen,“ meint Dąbrowski. „Ich bin ganz und gar dafür. Gleichwohl sprechen sie im Allgemeinen nicht die Teile der Wählerschaft an, die der Regierungspartei abspenstig gemacht werden könnten. Unlängst las ich einen Feuilletonbeitrag einer bekannten Aktivistin, die in der Zeitschrift ,Krytyka Polityczna‘ (Politische Kritik) schreibt, zur Lage auf dem Wohnungsmarkt. Natürlich eine wichtige Sache, der Wohnungsmarkt ist völlig außer Kontrolle, die Lage von Wohnungssuchenden dramatisch, besonders in den größeren Städten. Doch die Autorin geht an das Problem in einer Weise heran, die an Marie Antoinette denken lässt, wenn sie dem gemeinen Volk rät, doch Kuchen zu essen, wenn es kein Brot habe. Ihre Sichtweise war wieder einmal die der beschränkten Eliten, in diesem Fall der in den Großstädten lebenden freiberuflichen Intellektuellen.“

Unterdessen gibt es in Polen einen deutlichen Niedergang der Gewerkschaften, weil diese von den Arbeitgebern abhängen oder Parteifilialen sind. Wer soll sich also für die neue Arbeiterklasse einsetzen, zu der die Mitarbeiter der Staatsbetriebe und die Lohnarbeiter gehören, die in Privatunternehmen aller Art beschäftigt sind?

„Die Linke hat kein ehrliches Programm, dass sich an die weit verstandene Arbeiterklasse richtet“, meint Dąbrowski. „Es sollte bestimmte Eckpunkte enthalten, wie zum Beispiel: entschlossener Einsatz für Arbeitnehmerrechte, Anhebung der Löhne in den Staatsbetrieben, Einhaltung von Arbeitnehmerrechten durch Privatunternehmer. Dabei darf sie die sozialen Forderungen (Frauenrechte, LGBTQ+ etc.) natürlich nicht ignorieren. Diese dürfen jedoch die ökonomischen Forderungen nicht ganz und gar überdecken. Das klingt vielleicht etwas banal, ist aber der richtige Weg. Wie die Linke jetzt tickt, hat sie keine Chance, die Dominanz von PiS in denjenigen Milieus zu brechen, die sie theoretisch für sich gewinnen könnte. Es bleibt nur, auf eine heterogene Bewegung von unten zu setzen, die von der immer schlechteren Stimmung profitiert, denn die Wirtschaftskrise verschärft sich.“

Vielleicht wird so, von unten, einen neue Linke aufkommen? Oder die bestehende Linke macht sich klar, dass links zu sein bedeutet, ein Sensorium für verschiedene Empfindlichkeiten zu haben. Ganz bestimmt jedoch nicht, zwanghaft Atheismus zu propagieren und die „polnische Mentalität“ zu kastrieren.

„Die Regierungspartei hat das jahrelang perfektioniert, alle übrigen konnten nur zuschauen, wie PiS Wähler damit gewinnt, die Linke oder die Bürgerplattform als ,niederes Volk‘ hinzustellen, bei Themen wie Partnerschaften und LGBTQ-Rechten, Religion und Kirche, sogar Europäische Union,“ meint Hubert Stys, Sicherheitsexperte an der Bankenhochschule Thorn. „Die Linke befindet sich in einer schwierigen Lage, weil PiS einen Teil ihrer Forderungen zumindest in Deklarationen übernommen hat. Umgekehrt sind ihre Reformforderungen den konservativen Wählern von PiS derart fremd, dass sie die Wählerschaft damit nur verschreckt und zur Wahl für den Gegner mobilisiert. Ihre Forderungen in Sachen Abtreibung, künstliche Befruchtung oder Religion abzuschwächen, macht andererseits die eigenen Stammwähler abspenstig. Es ist nicht einfach, die goldene Mitte zu finden. Die aus dem Bund der Demokratischen Linken (SLD) kommenden Betonköpfe wollen ihrerseits nicht die älteren Wähler verlieren und sehen den Radikalismus der jungen Parteiaktiven kritisch. Die Linke muss sich jedoch dazu durchringen, ihre Forderungen klar zu formulieren, denn sonst werden ihr die jungen Wähler definitiv abhandenkommen und zu Hołownia (der neuen Mitte-Bewegung) oder zur Bürgerkoalition übergehen. Sie muss auch über die Fähigkeit verfügen, um PiS bei den sozialen Zusagen auszustechen, was zum Beispiel möglich ist bei bezahlbarem Wohnraum oder der Bildungspolitik, ganz zu schweigen von langfristigen Agenden wie Umweltschutz und funktionsfähigem Staat. Doch zugegebenermaßen braucht die Opposition insgesamt nicht mehr viel. Die Übernahme der Regierung im nächsten Jahr ist jedoch zum Greifen nah, es reicht, nur nicht ins Stolpern zu geraten und größere Fehler im Wahlkampf zu vermeiden.“

 

Aus dem Polnischen von Andreas R. Hofmann

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Karina Obara

Karina Obara

Karina Obara ist Journalistin, Schriftstellerin, Dichterin, Essayistin und Malerin. Sie studierte Politikwissenschaften an der Nikolaus-Kopernikus-Universität in Toruń und europäische Journalistik am College of Europe in Warschau.

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