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Die Deutschen in Russisch-Amerika

Die Geschichte Russisch-Amerikas und der russischen Kolonisierung des nordamerikanischen Kontinents ist faszinierend. Die russländischen Siedlungen in Alaska vom Ende des 18. bis in die zweite Hälfte des 19. Jahrhunderts und die im frühen 19. Jahrhundert gemachten Anstrengungen, auch in Kalifornien und auf Hawaii Niederlassungen einzurichten, ließen Russland von einem rein kontinentalen Imperium zu einer überseeischen Kolonialmacht im Kreise der europäischen Kolonialstaaten werden. Diese Kolonisation hat ihre Spuren noch im gegenwärtigen Russland hinterlassen, vor allem aber in den einstmals Russisch-Amerika bildenden Gebieten. Noch heute kann der Besucher in Nordkalifornien, auf der zum Hawaii-Archipel gehörenden Insel Kaua’i und vor allem im Südosten von Alaska materielle und immaterielle Spuren dieser Kolonisierung vorfinden.

Besonders interessant ist die russische Siedlung in Nordamerika unter ethnisch-kulturellen Gesichtspunkten. Dann nämlich wird klar, dass die russländische Besiedlung nicht eine ausschließlich russische war. Das Zarenreich war ein multiethnischer und multinationaler Staat. Daran sollte man sich stets erinnern, ob es nun um diesen Ausschnitt aus der russländischen Geschichte geht oder einen anderen. Einige Nationen besaßen ihre eigenen, wenn auch wirklicher Autonomie entbehrenden Verwaltungsinstitutionen, so zum Beispiel das Königreich Polen nach 1815 oder das Großfürstentum Finnland nach 1809. Doch die meisten Nationalitäten und ethnischen Gruppen in Russland besaßen kein solches Privileg.

Die Baltendeutschen nahmen im Zarenreich eine besondere Stellung ein. Seit Jahrhunderten in der historischen Region Livland, dem heutigen Lettland und Estland ansässig, stammten sie von den Brüdern des Schwertritterordens und von städtischen Siedlern ab. Daher bewohnten sie großteils die bevölkerungsreichsten livländischen Städte, Riga und Reval (das heutige Tallinn). Darunter waren Besitzer großer Ländereien, deren Geschlechter dem russländischen Adel angehörten. Die Baltendeutschen besetzten wichtige Positionen im Verwaltungsapparat sowie im Offizierskorps von Armee und Flotte. Ihre Bedeutung wuchs zur Regierungszeit Peters I. und seiner Öffnung Russlands für ausländische Einflüsse. Dieser Zar garantierte ihnen auch das Recht zum Gebrauch der deutschen Sprache, der Ausübung der lutherischen Religion und eine Reihe weiterer Privilegien. Nach dem Stand der Forschung stammte nicht weniger als ein Achtel aller hohen Staatsbeamten aus Livland, und ihre starke Präsenz in der kaiserlichen Flotte sorgte dafür, dass sie beim Aufbau der russländischen Kolonien in Amerika ebenfalls eine spürbare Rolle spielten.

Das Jahr 1818 schloss eine Epoche in der Geschichte Russisch-Amerikas ab. Der erste Generaldirektor der Russisch-Amerikanischen Kompagnie und Kolonialgouverneur Aleksandr Baranow beendete seine fast zwanzigjährige Amtszeit. Er war der erste und letzte Direktor, der aus der Zivilverwaltung gewechselt war. Von allen Direktoren war seine Amtszeit die längste. Alle anschließenden Gouverneure waren ehemalige Seeoffiziere. Ludwig von Hagemeister leitete mit seiner Amtszeit eine neue Epoche ein. Er stammte aus einer deutschen Gutsbesitzerfamilie und war im Gouvernement Livland geboren und aufgewachsen. Im Alter von fünfzehn Jahren ging er 1795 zur russländischen Flotte. Elf Jahre darauf gelangte er erstmals nach Russisch-Amerika, und zwar in die Stadt Nowoarchangelsk, die kurz darauf zur Hauptstadt der im Aufbau befindlichen Kolonie wurde. In den nächsten Jahren besuchte er auch das Königreich Hawaii und Kalifornien, wo er Unterhandlungen mit dem indigenen Stamm der Kashaya Pomo führte und die rechtlichen Grundlagen für die russländische Ansiedlung im Norden des späteren US-Staates legte. Von 1812 bis 1831 besaßen die Russen in Nordkalifornien Fort Ross als Niederlassung. Das von Hagemeister 1817 verfasste Abkommen ist als Hagemeister-Traktat bekannt und stellt ein seltenes Beispiel für die friedliche Koexistenz zwischen indigenen Einwohnern und europäischen Kolonisten dar. Hagemeister erreichte den hohen Dienstgrad eines Kapitäns ersten Ranges und übernahm 1818 die Funktion des Generaldirektors der Russisch-Amerikanischen Kompagnie. Doch bereits nach kaum einjähriger Amtszeit kehrte er nach Russland zurück. Als größte Leistung dieser Zeit gilt der Versuch, die russische Herrschaft bis in das Landesinnere von Alaska auszudehnen. Bis dahin hatten die Russen Siedlungen auf den Inseln und längs der Pazifikküste angelegt. Auch wenn die von Hagemeister veranlassten Expeditionen keine wesentlichen Grenzverschiebungen bewirkten, erlaubten sie, den Kontinent besser zu kartieren und ermöglichten die Erforschung von Fauna und Flora. Nachdem Hagemeister sein Amt niedergelegt hatte, wurde Russisch-Amerika bis zum Ende seines Bestehens im Jahr 1867 von zwölf weiteren Generaldirektoren verwaltet, darunter zwei Deutschen.

Ferdinand von Wrangel stammte aus einem der wichtigsten und um Russland besonders verdienten deutschbaltischen Geschlechter. Ein weiterer Sprössling der Familie war Peter von Wrangel, einer der „weißen“ Generäle während des Bürgerkriegs nach der bolschewistischen Revolution von 1917. Ferdinand von Wrangel war eine ausgesprochen schillernde Figur: Reisender und Entdecker, Naturforscher und Offizier der Kriegsmarine. Seit seiner Jugend hatte er an überseeischen Expeditionen teilgenommen, deren Höhepunkt eine Weltumseglung in den Jahren 1817 bis 1819 war. Anschließend übernahm er die Führung der Kolyma-Expedition, bei der er einige Entdeckungen in den Wohngebieten der Jakuten machte. Diese ersten Kontakte mit der indigenen Bevölkerung hatten Einfluss auf sein späteres Verhältnis zu der ansässigen Bevölkerung von Russisch-Amerika. Er leitete die Kolonie 1830–1835 und wird in Teilen der Forschung als fähigster Generaldirektor angesehen. Er war ein Organisator voller Energie und Tatendrang und hinterließ mit seinem Tagebuch eine erstklassige Quelle zum Alltag in der Alaskakolonie. Er führte ein Verzeichnis der Siedler und stellte Forschungen zur indigenen Bevölkerung an. Seine guten Beziehungen zu den Stämmen von Alaska, in Verbindung mit einer vernunftgeleiteten Politik gegenüber dem Hauptkonkurrenten, der britischen Hudson Bay Company, haben ihm diese positive Bewertung in der Geschichtsschreibung verschafft. Ferdinand von Wrangel beendete seine Laufbahn im Range eines Admirals der zarischen Flotte, und nach ihm ist eine Insel und eine Stadt in Alaska benannt.

Der letzte deutsche Gouverneur von Russisch-Amerika war eine ausgesprochen geheimnisumwitterte Gestalt. Nikolaj Rosenberg übte sein Amt von 1850 bis 1853 aus. Normalerweise dauerte die Amtszeit damals fünf Jahre. Wieso wurde Rosenberg vorzeitig abberufen? Darüber findet sich in den Quellen wenig. Überhaupt ist über ihn wenig bekannt. Es wird angenommen, dass er sein Amt verlor, weil er die einheimischen Tlingit gegen sich aufgebracht hatte. Er stammte aus einer Petersburger Familie, über die gleichfalls wenig bekannt ist. Das unterschied ihn von seinen Vorgängern, die aus prominenten russländischen Familien kamen. Daher besteht die Annahme, Rosenbergs Familie sei jüdisch gewesen. Doch das stößt in der Forschung auf Kritik, weil Juden im zarischen Russland kaum Zugang zu Laufbahnen in Heer und Flotte hatten. Rosenberg aber erreichte den Dienstgrad eines Kapitäns ersten Ranges. Wie auch immer es mit seiner Herkunft beschaffen war, als Gouverneur der Kolonie blieb er vor allem wegen seiner vorzeitigen Abberufung im Gedächtnis.

Der Anteil von Deutschen beim Aufbau der Überseekolonie beschränkte sich natürlich nicht auf die drei Generaldirektoren. Es gab auch Deutsche unter den Seeleuten und Navigatoren, Kauf‑ und Zimmerleuten und allen anderen Berufen. Unter den seefahrenden Kaufleuten besonders interessant war Christopher Benzeman, der aus einer Danziger Schiffsbauerfamilie stammte. Damit war er von Geburt also kein Untertan des Zaren, sondern Preuße. Zu Anfang heuerte er auf einem US-amerikanischen Handelsschiff an und gelangte so 1807 nach Russisch-Amerika. Dort wechselte er als Steuermann zur Russisch-Amerikanischen Kompagnie. Er blieb viele Jahre deren Angestellter und wurde 1824 offiziell russischer Untertan. Zuvor war er zur Orthodoxie konvertiert, hatte zweimal indigene Frauen geheiratet, was in der Kolonie sehr üblich war, hatte einen Sohn, dessen Taufpate Aleksandr Baranow war, und hatte unter ungeklärten Umständen ein Bein verloren. Der Danziger Benzeman ging als legendärer einbeiniger Entdecker und Navigator in die Geschichte ein.

Deutsche waren auch unter den Aktionären der Kompagnie stark vertreten, ebenso wie unter den in der Kolonie niedergelassenen Ärzten. Einer der führenden Erforscher von Russisch-Amerika, der in St. Petersburg lehrende Historiker Andrej Grinjow, gibt an, von fünfzehn nach 1810 in Alaska tätigen Ärzten seien acht Deutsche gewesen. Der berühmteste davon war Georg Anton Schäffer. Ähnlich wie Benzeman stammte er nicht aus Russland und tratz als Arzt und Seefahrer in den Dienst der Kompagnie. Er wurde berühmt durch seinen Versuch, auf Hawaii eine neue russische Kolonie zu errichten. 1816/17 verbündete er sich mit Kaumali’im, König der Insel Kaua’i, und versuchte, diesen dazu zu bewegen, sein Königreich dem Kaiser von Russland als Lehen zu überschreiben, als Gegenleistung für die Unterstützung gegen seinen Lokalrivalen Kamehameha. Doch sah Kaumuali’i das Bündnis mit den Russen nur als ein taktisches und akzeptierte diese nicht als seine Oberherren. Auch durchschaute er bald, dass Schäffer auf eigene Faust handelte. Deshalb endete der russische Versuch, Hawaii zu kolonisieren, in einem Fiasko, und Schäffer musste das Archipel überstürzt verlassen. Er hinterließ ein bis heute vorhandenes Denkmal, nämlich die Ruinen eines für die Siedler errichteten Forts.

Die Deutschen drückten der Geschichte Russisch-Amerikas ihren Stempel auf. Auf sie gehen deutschklingende Toponyme zurück, die vor allem im Südosten von Alaska zu finden sind. Gemeinsam mit den Finnen hinterließen sie auch ihre konfessionellen Spuren. Denn die erste lutherische Kirche in Alaska wurde von dem finnischen Generaldirektor Arvid Adolf Etholén 1843 errichtet. Die Kirche diente als Gotteshaus der finnischen und deutschen Kolonisten. Konfession und Sprache bildeten das, was die Deutschen in Russisch-Amerika und im Zarenreich insgesamt miteinander verband. Allerdings bildete die Dynastie der Romanows hierbei eine gewisse Ausnahme, deren Angehörige vielfach deutscher Abstammung waren. Sie mussten jedoch zur Orthodoxie übertreten. Denn diese war neben Autokratie und Volkstümlichkeit eine Säule der Staatsideologie des zarischen Russland.

 

Aus dem Polnischen von Andreas R. Hofmann

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Kacper Dziekan

Kacper Dziekan

Historiker und Osteuropaexperte. Im Europäischen Solidarność-Zentrum in Danzig arbeitet er an Bildungs-, Kultur-, Sozial-, Geschichts- und Bürgerprojekten, insbesondere mit Bezug postsowjetischen Ländern und Mittel- und Osteuropa.

Ein Gedanke zu „Die Deutschen in Russisch-Amerika“

  1. Sehr interessant zu lesen. Vor allem, weil man zu dieser Thematik ansonsten so gut wie nichts erfährt. Es sei denn, man setzt sich dazu extra tagelang in eine wissenschafiche Bibliothek.
    Aber gerade solche scheinbar nebensächlich daherkommenden Entwicklungs-Stränge können eine Rolle beim historischen Werdegang spielen.

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