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Die Zukunft der Weltordnung

Ist trotz der in der Gegenwart in Erscheinung tretenden Interessenkonflikte der Großmächte eine Welt vorstellbar, die berechenbarer und friedlicher ist?

1. Jedes Recht ist so stark wie die Bereitschaft der ihm unterstellten Individuen oder Staaten, es zu achten. In der internationalen Politik wird diese alte Wahrheit immer deutlicher. Viele Staaten stellen neuerdings die liberale Ordnung in Frage, die die Vereinigten Staaten nach 1945 entwarfen und seit dem Ende des Kalten Krieges ausweiteten. Die Versuche der USA, weiterhin der globale Hegemon zu bleiben, sind nicht nach dem Geschmack von China und Russland, also der Nr. 2 und 3 in der Hierarchie der Mächte, sondern missfallen ebenso vielen Regionalmächten wie dem Iran, der Türkei und selbst Saudi-Arabien. Noch weniger gefällt diesen Ländern, auf welche Art die US-Amerikaner ihre Vorrangstellung zu erhalten versuchen, genauer, wie Washington die Welt als Konfliktfeld von Demokratien und Autokratien präsentiert und letzteren offen den Kampf ansagt. Selbst noch die loyalsten Bündnispartner der USA im demokratischen Westen Europas sehen dieses weltpolitische Konzept eher skeptisch.

Die Reihe der Vorwürfe, welche die Großmächte einander machen, ist ziemlich lang und wird mit jedem Monat nur noch länger. Das Ganze hat sich dermaßen zugespitzt, dass heute irgendeine nennenswerte Zusammenarbeit Washingtons mit Moskau oder Peking kaum noch vorstellbar ist. Das Verhältnis ist mehr oder weniger auf Kontakt von Fall zu Fall beschränkt, auf Telefonate, um eine akute Krise einzudämmen und wenigstens noch einen Gesprächskanal offenzuhalten. Selbst bei Fragen, bei denen gemeinsames Handeln dringend geboten wäre, kann keine Einigung erzielt werden; genannt seien nur die Bekämpfung der Folgen des Klimawandels und der Pandemie.

Zusätzlich belasten der Krieg in der Ukraine und die allzeit dräuende Frage einer möglichen chinesischen Invasion Taiwans die Beziehungen zwischen den Mächten. Die Vorschriften der Charta der Vereinten Nationen, die einen Angriffskrieg verbieten und eine friedliche Konfliktlösung vorschreiben, gelten längst als leere Worthülsen. Doch egal ob Großmacht oder kleinerer Staat mit Aspirationen zur Regionalmacht, fast jedes Land wacht eifersüchtig über seine Souveränität. Die Regierungen nehmen ungern zur Kenntnis, dass Souveränität nicht völlige Handlungsfreiheit bar aller Beschränkungen bedeutet. Sie wollen ihren Bürgern einreden, die gültigen Regeln der internationalen Ordnung würden sich ihnen nur in den Weg stellen und verhindern, ihr nationales Potential voll auszuschöpfen. Daher rühren zunehmender Protektionismus, Handels‑ und Grenzkonflikte.

Dieses „souveränistische“ Narrativ stützt sich auf alle Arten von Vereinfachungen und ein oft zynisches Freiheitsverständnis. Doch wichtig ist, dass es in vielen Ländern die Politik bestimmt. China erstrebt eine nationale Renaissance, Russland will seinen Einfluss in Europa wieder geltend machen, Indien will eine hinduistische Wiedergeburt, Japan eine Änderung seiner pazifistischen Verfassung, die USA hingegen wollen „wieder groß“ sein. Und so weiter. Alle diese Narrative und Interessen sind nur schwer miteinander zu vereinbaren, umso weniger, als nichtmals Einigkeit darüber besteht, dass dies auch erstrebenswert wäre. Heute ist eigentlich kaum mehr vorstellbar, dass die großen Staaten sich nochmals auf die nach 1945 etablierten Prinzipien verständigen würden. Umso schwieriger ist die Vorstellung, sie könnten in der Lage sein, nochmals gemeinsame Verhaltensgrundsätze zu entwickeln, die allgemein akzeptiert und von niemandem in Frage gestellt würden.

2. Aus Irritation über diesen Stand der Dinge haben zwei Wissenschaftler von der Harvard University, der Ökonom Dani Rodrik und der Politologe Stephen Walt, jüngst den Versuch unternommen, eine solche neue, friedlichere Welt zu konzipieren. Rodrik ist ein vielgelesener Autor, der besonders für seine Arbeiten zu den infolge der Globalisierung in den Nationalstaaten aufkommenden Spannungen bekannt ist. Rodrik und Walt veröffentlichten nunmehr ein gemeinsames Positionspapier in der US-Zeitschrift „Foreign Affairs“.

Sie laden dazu ein, sich eine Welt vorzustellen, in der selbst in scharfe Rivalität verwickelte Staaten in der Lage sein würden, miteinander zu kooperieren. Eine Welt mit verbindlichen Regeln für das, was erlaubt und was inakzeptabel ist. Vor allem eine Welt, in dem die großen Mächte fähig sind, bei der Bekämpfung von Klimawandel, globalen Pandemien und Proliferation von Massenvernichtungswaffen zusammenzuarbeiten. Als politische Realisten zweifeln Rodrik und Walt nicht daran, dass die Länder weiter miteinander rivalisieren, ihr Leitinstinkt wechselseitiges Misstrauen bleiben und sie stets ihr Eigeninteresse an die erste Stelle setzen würden.

Die von ihnen vorgeschlagenen Prinzipien laufen daher lediglich auf eine Verständigung auf einer ganz basalen Ebene hinaus. Es geht um einen gemeinsamen Bezugsrahmen, der ihrer Auffassung nach den miteinander rivalisierenden Staaten und selbst miteinander verfeindeten Ländern die Möglichkeit geben würde, eine Verständigung oder einen Kompromiss anzustreben. Natürlich konzedieren sie, Staaten würden selbst dabei oft keine Einigkeit erzielen, wie dieser Bezugsrahmen aussehen solle, doch bereits die Bereitschaft, einen solchen Rahmen zu entwickeln, würde es ermöglichen, die zwischenstaatliche Kommunikation zu verbessern, Missverständnisse aufzuklären und die Länder zu veranlassen, anderen keinen Schaden zuzufügen, selbst wenn dies im eigenen Interesse geboten erschiene. Ihrer Auffassung nach wäre es für alle Staaten vorteilhaft, einen solchen Rahmen festzusetzen, denn wo sich die Möglichkeit zu Kooperation und Kompromiss ergebe, würden sich messbare politische und wirtschaftliche Vorteile einstellen.

3. Wie sollte ein solcher Rahmen aussehen? Erstens sieht Walts und Rodriks Entwurf vor, alle Weltmächte müssten sich darauf verständigen, ihre internationalen Aktivitäten in vier Kategorien einzuteilen: Die erste für verbotene Maßnahmen, die zweite für bilaterale Beziehungen, die dritte für unilaterale Maßnahmen, die vierte für solche Maßnahmen, die gemeinsames Handeln erfordern. Die Grundvoraussetzung ist, dass die Staaten sich anfangs nicht einmal darauf verständigen müssen, welche Maßnahmen in welche Kategorie fallen. Walt und Rodrik argumentieren jedoch, dass die Anerkennung eines solchen Rahmens im Laufe der Zeit helfen würde, die Beziehungen zwischen den Großmächten auszugleichen und diesen erlaubte, ihre eigenen Interessen besser zu verstehen.

Letztlich würden sich verbotene Handlungen in der ersten Kategorie befinden. Dazu zählen beispielsweise Verursachung eines Kriegs, Anwendung von Folter oder Angriffe auf Schiffe oder Flugzeuge eines anderen Landes. Solche Handlungen sind ohnehin bereits verboten, so sollte es zumindest in der Theorie leichtfallen, sich auf ihr Verbot zu verständigen. In der Theorie, denn das Beispiel der russischen Invasion der Ukraine zeigt, wie schwer die Theorie manchmal mit der Praxis zu vereinbaren ist.

Die zweite Kategorie würde Handlungen umfassen, die Staaten gegenüber anderen Ländern ausführen. Es geht darum, dass in solchen bilateralen Verhältnissen Staaten sich wechselseitig aller Aktivitäten enthalten, mit denen sie einander schaden könnten. Beispiele dafür sind Handels‑ oder Abrüstungsabkommen. Naturgemäß setzen solche Vereinbarungen stets voraus, dass beide Seiten bestimmte Konzessionen machen und sich auf einen Kompromiss einlassen. Keine der beiden Seiten erreicht alles, was sie sich erwünschen würde, gewinnt aber gleichwohl mehr als ohne jede Vereinbarung. Nach Auffassung von Walt und Rodrik gewährt das Prinzip der Wechselseitigkeit eine gewisse Stabilität und Vorhersehbarkeit in den Beziehungen zwischen den Mächten.

In der dritten Kategorie befänden sich unilaterale Maßnahmen, die Staaten treffen, wenn sie nicht nach den in der zweiten Kategorie beschriebenen Prinzipien übereinkommen können. Dies sind zu eigenem Nutzen getroffene Maßnahmen, die allerdings die in der ersten Kategorie definierten Grenzen nicht überschreiten. Wenn diese Aktivitäten auf Kosten eines anderen Staates ablaufen, hätte dieser das Recht, darauf zu reagieren. Diese Reaktion müsste nur angemessen ausfallen und dürfte nicht zu einer weiteren Eskalation führen. Schließlich fänden sich in der vierten Kategorie Fragen, die gemeinsames Handeln erfordern. Die Bekämpfung der Folgen der Klimaerwärmung oder globaler Pandemien sind dafür naheliegende Beispiele. Dazu gehört aber auch eine große Anzahl von Vereinbarungen und Prinzipien, die die zwischenstaatliche Kooperation in fast allen internationalen Bereichen regeln: von Handel, Transport und Kommunikation bis zu den diplomatischen Spielregeln.

4. Nach Auffassung von Walt und Rodrik könnte ein so aufgebauter Bezugsrahmen etwas mehr Harmonie in den zwischenstaatlichen Beziehungen gewähren. Das gilt aber nur unter bestimmten Bedingungen.

Vor allem kann ein solches Konzept nur in einer weniger auf den Westen zentrierten Welt gelingen. Da sich der Schwerpunkt nach Asien verlagert, müsse eine zukünftige Weltordnung die nichtwestlichen Mächte berücksichtigen und eine größere Vielfalt von landeseigenen Institutionen und Praktiken tolerieren. Westliche politische Vorlieben würden in geringerem Maße dominieren, während das Bestreben zur wirtschaftlichen Angleichung, das die Ära der Hyperglobalisierung bestimmt habe, nachlassen müsse. Jedes Land müsse größere Freiheit in der Regulierung von Wirtschaft, Gesellschaft und politischem System besitzen. Wenn dagegen, so ihre Annahme, eine der Großmächte wirtschaftliche und geopolitische Dominanz zu ihrem vorrangigen Ziel mache, seien die Aussichten auf eine erträglichere und friedfertigere Welt noch schlechter.

In dem von Walt und Rodrik entworfenen Konzept müssen die Mächte verstehen, dass die Welt von heute vielfältiger ist als noch vor gut zehn Jahren. Staaten wie China und Indien haben nicht nur an Stärke und Mitsprache gewonnen, sondern wollen auch so behandelt werden, wie sie zu verdienen meinen, sie wollen also mit dem bisherigen Welthegemon an einem Tisch sitzen. Sie meinen, ihre Forderungen seien begründet, weil sich in den letzten Jahren ihr Abstand zu den Vereinigten Staaten verringert habe. Um die Staaten stabiler und berechenbarer zu machen, müsse diese neue Kräftekonstellation, die die asiatischen Länder bevorteilt, sich in den internationalen Normen und Institutionen widerspiegeln.

Walts und Rodriks Vorschläge sind natürlich rein akademischer Natur und stellen eher eine intellektuelle Übung dar als eine realpolitische Alternative.

Was für uns jedoch dennoch daran interessant sein sollte, ist die Tatsache, dass so in Teilen der amerikanischen Führungsschicht gedacht wird. Nämlich in denjenigen Teilen, die weltoffen sind und doch zugleich viele Probleme erkennen, wie sich das eigene Land in vielen Weltgegenden engagiert. Gegenwärtig ist das keine in den USA dominierende Anschauung, doch hat sie Einfluss auf die öffentliche Debatte, wie es durch die Publikation dieser Thesen in „Foreign Affairs“ belegt ist. Sie verdient daher unserer Aufmerksamkeit. Zum zweiten und wichtigeren lehren solche intellektuellen Übungen eine bestimmte Art, über Welt und Politik nachzudenken. Nachzudenken in Kategorien des gemeinsamen Wohls und nicht nur eines eng verstandenen nationalen Eigeninteresses. Zu der Erkenntnis zu gelangen, dass die Welt vielfältig ist, komplex und nicht ganz und gar verständlich, nicht schwarz-weiß und eindimensional. Vor allem aber zu lehren, dass Außenpolitik nicht darauf hinauslaufen muss, doktrinär die Unausweichlichkeit der Rivalität zwischen Großmächten zu vertreten.

Aus dem Polnischen von Andreas R. Hofmann

Łukasz Gadzała

Łukasz Gadzała

Łukasz Gadzała, Redakteur beim polnischen onlineportal onet.pl, Absolvent der Warschauer Universität und der University of Birmingham. Seine Interessengebiete sind die Politik der Großmächte und die Theorie der internationalen Beziehungen.

Ein Gedanke zu „Die Zukunft der Weltordnung“

  1. Aus meiner Sicht, die Beziehungen zu Polen hat und sich mit Politik über die Grenzen hinaus befasst, ein bemerkenswerter Beitrag mit der Zielsetzung einer Verständigung der Staaten, der Groß- und Kleinmächte, von Bündnissen oder ohne Bündnisse. Es zieht zwar gegenwärtig danach aus, wie treffsicher beschrieben, dass alle um ihr eigenes Prestige ringen. Doch wenn man keine Überlegungen anstellt, wie es besser gehen könnte, dann wäre es schlecht um diese Welt bestellt mit all seinen Menschen, der Natur, dem Klima und weiteren lebenswichtigen Dingen. Schlussendlich müsste das auch den Führungskräften klar sein bzw. klar werden.
    Insofern eine gut durchdachte und vorwärts weisende Gedankenführung des Autors !!!

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