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Kein Budapest in Warschau

Als im Herbst 2015 in Warschau die Koalition unter Führung der illiberalen Partei „Recht und Gerechtigkeit“ (PiS) an die Macht kam, war ihr erklärtes ideologisches und programmatisches Idol der ungarische Ministerpräsident Viktor Orbán, der es schon seit Frühjahr 2010 geschafft hatte, sein Land mit harter Hand zu regieren.

Noch im Frühjahr 2015 hatte PiS-Vorsitzender Jarosław Kaczyński auf einer Wahlkampfveranstaltung ausgerufen: „Es wird der Tag kommen, da werden wir Budapest in Warschau haben.“ Und gleich am Beginn der PiS-Regierung, Anfang 2016, sprach er in der Pension „Grünes Schäfchen“ im kurz vor der slowakischen Grenze gelegenen Niedzica sechs Stunden lang mit seinem ungarischen Gesinnungsgenossen.

Das Karmeliterbündnis

Seither sind die bilateralen Beziehungen noch sehr viel enger geworden, inzwischen ist gar von einer „Achse Budapest-Warschau“ die Rede. Man ist sich umso nähergekommen, als die Europäische Union gegen beide illiberale Regierungen Verfahren nach Artikel 7.1 des Europäischen Vertrags wegen Nichteinhaltung rechtsstaatlicher Prinzipien eingeleitet hat; gegen Ungarn auf Grundlage einer Abstimmung im Europäischen Parlament, gegen Polen auf Antrag der Europäischen Kommission.

So ist beiden Regierungen ein gemeinsamer Feind erwachsen, der für Ungarn nicht allein das Gesicht Brüssels mit seinen unzähligen Eurokraten trägt, sondern zusätzlich das des aus Budapest stammenden Advokaten der offenen Gesellschaft, mithin des Teufels in Menschengestalt George Soros. Dessen Central European University zog aus Budapest fort, noch bevor es gelang, irgendwie das gestörte Verhältnis zu Brüssel in Ordnung zu bringen.

Was die EU anbelangt, ist Viktor Orbán auf eine Idee gekommen, die ich das „Karmeliterbündnis“ nennen möchte. Denn der ungarische Ministerpräsident hat seinen Amtssitz aus dem Parlamentsgebäude in das zu beträchtlichen Kosten wieder aufgebaute frühere Karmeliterkloster auf dem Schlossberg verlegt, und dann fing er an, Politiker der extremen Rechten einzuladen, so etwa Matteo Salvini, Marine Le Pen, Steve Bannon, dessen Chef Donald Trump eigentlich auch hätte kommen sollen, und gleich viele Male den polnischen Ministerpräsidenten Mateusz Morawiecki. Diese antiliberale Internationale kam im Herbst 2021 einmal in Warschau zusammen, Anfang Februar 2022 nochmals in Madrid, was bereits erhebliche Beachtung in den Medien fand.

Die Treffen sind seither nicht fortgesetzt worden, denn am 24. Februar begann der russische Angriffskrieg gegen die Ukraine, der umgehend deutlich machte, dass die „Achse Budapest-Warschau“ doch recht schwach war, weil sie sofort in die Brüche ging. Orbán sprach sich für Putin aus und versteift sich bis heute in dieser Position, während Warschau sich schließlich doch noch den US-Demokraten angeschlossen hat, obwohl es lang und hartnäckig für Trump Stellung bezogen hatte. Der Krieg veranlasste US-Präsident Joe Biden und Vizepräsidentin Kamala Harris rasch zu Warschaubesuchen, und der US-Außen‑ wie auch der Verteidigungsminister sind inzwischen des Öfteren in Polen gewesen. Unterdessen führt Budapest eine große Medienschlacht gegen den neuen US-Botschafter David Pressman, der am 8. August diesen Jahres seine Akkreditierung beantragte und fast im selben Augenblick damit begann, einiges aus der Agenda der ungarischen Regierung in Frage zu stellen, ob nun in Sachen Ukrainekrieg, Rechtsstaatlichkeit oder die LGBTQ-Community, die Budapest zum Objekt einer hartnäckigen Diskriminierungspolitik gemacht hat.

Meilensteine und Erpressung

Infolge des Ukrainekrieges haben wir es anstatt mit einer Achse also mit zwei Regierungen auf beiden Seiten der Barrikade zu tun. Noch hält die gemeinsame Front gegen das von Amts wegen ungewollte und ungeliebte Brüssel, obwohl nach Meinungsumfragen sich große Mehrheiten in beiden Ländern für die Weiterentwicklung der europäischen Integration aussprechen.

Zumindest bislang, denn inzwischen sind in diesem Bereich merkliche Veränderungen eingetreten. Die Kontroversen über die Rechtsstaatlichkeit haben die EU-Spitze dazu veranlasst, den Mechanismus „Geld für Rechtsstaatlichkeit“ in Gang zu setzen. So sind aus dem EU-Wiederaufbaufonds nach der Corona-Pandemie bislang keine Mittel in die beiden Länder geflossen. Noch dazu hat Budapest als einzige Regierung in der EU bislang kein bestätigtes eigenes Landesaufbauprogramm, wodurch es Gefahr läuft, bis Ende des Jahres siebzig Prozent der Gesamtsumme von 5,8 Milliarden Euro zu verlieren. Darüber hinaus besteht ein reales Risiko, noch eine weitere beträchtliche Summe einzubüßen, nämlich 7,5 Milliarden Euro aus dem Kohäsionsfonds. Zugleich hat Ungarn mit einer ausgesprochen hohen Inflation von mehr als zwanzig Prozent und mit schweren Problemen in Gesellschaft – seit einer Woche streiken Lehrer und Schüler – und Wirtschaft zu tun, die großteils aus den früheren hohen sozialpolitischen Ausgaben stammen. Budapest ist mithin auf das Geld angewiesen, ganz so wie selbstverständlich auch Warschau.

Einmal mehr hat sich nunmehr Viktor Orbán, der sein Land wegen der Pandemie und des Kriegs gleich hinter der Landesgrenze im Alleingang und mittels Dekrete regiert, als äußerst flexibler Politiker bewiesen. Auf einer Sondersitzung der EU-Regierungen vom 18. November versicherte Orbáns Vertreterin, Justizministerin Judit Varga, Budapest habe die insgesamt 17 Bedingungen allesamt erfüllt, die Ungarn als „Meilensteine“, nämlich als Voraussetzungen für den Mitteltransfer gestellt worden waren. Unter anderem habe es einen besonderen Ethikrat berufen, der sich mit der in Ungarn landläufigen Korruption befassen soll.

Unterdessen zeigt sich Orbán, ganz er selbst, mal von seiner beschwichtigenden, dann wieder von seiner kämpferischen Seite. Während er noch Brüssel von seiner Vertrauenswürdigkeit zu überzeugen sucht, erhebt er sein Veto gegen die EU-Mittel für die kriegsgebeutelte Ukraine, die auf insgesamt 28 Milliarden Euro geschätzt werden. Er lehnt die Europäisierung der Schulden strikt ab und schlägt bilaterale Vereinbarungen mit Kiew vor, wobei er den Ukrainern Beträge in Höhe von 60 bis 70 Milliarden Forint (150 bis 170 Millionen Euro) verspricht. Sein Veto ist so lautstark, dass nicht nur die Medien, sondern selbst EU-Haushaltskommissar Johannes Hahn feststellt: „Das ist reine politische Erpressung.“

Nach seiner Gewohnheit verhandelt Orbán entschlossen und hart. Im Vergleich dazu ist Warschau weniger flexibel und entschlossen. Und das aus dem einfachen Grunde, dass die polnische Regierung gespalten ist. Die von PiS geführte Koalition schwankt, und der PiS-Vorsitzende Jarosław Kaczyński, der bisher alle Karten in der Hand hatte, hat erkennbar die Kontrolle über die einander bekämpfenden Faktionen verloren, vor allem über den offenen Konflikt zwischen Ministerpräsident Mateusz Morawiecki und Justizminister Zbigniew Ziobro. Wenn diese internen Streitigkeiten es womöglich noch dazu bringen, dass die Ungarn, nachdem es sich der EU gebeugt hat (wovon Orbán ohnehin später einen Rückzieher machen wird…) die EU-Mittel bekommen, zumindest die aus dem Kohäsionsfonds. Vorerst sind allerdings nach Abstimmung im Europäischen Parlament (416 Stimmen gegen und nur 124 für Ungarn) die 7,5 Milliarden Euro aus diesem Pool in weite Ferne gerückt. Wenn dagegen Warschau die „Meilensteine“ zur Rechtsstaatlichkeit nicht erreicht, wird es höchstwahrscheinlich wieder mal das Nachsehen haben.

Eine neue Polarisierung

Trotz allem offenbart diese Lage mit aller Deutlichkeit, wie sehr sich die beiden illiberalen Regime in Budapest und Warschau voneinander unterscheiden. Das Regime in Budapest ist politisch konsolidiert; wie auch die Parlamentswahlen im Frühjahr 2022 gezeigt haben, verfügt es über so viele Instrumente der Macht, des Geldes, der Institutionen und Regularien, dass es in demokratischen Wahlen praktisch nicht zu stürzen ist.

Orbán regiert in Ungarn als Einmannherrscher und mit Dekreten, während Kaczyński nie die qualifizierte verfassungsändernde Mehrheit gewonnen hat, von der er stets träumte. Anstatt der Exekutive alle übrigen Institutionen einschließlich der Gerichte und des Verfassungsgerichts zu unterwerfen, wie es in Ungarn Realität ist, stellt er lediglich Attrappen auf, und deren Legitimität ist ganz zu Recht mehr als fraglich.

Dem polnischen Politikwissenschaftler Jarosław Flis können wir bei seiner Feststellung nur zustimmen: „[…] anstatt wie angekündigt Budapest in Warschau aufzubauen, hat Jarosław Kaczyński in Polen ein Kartenhaus errichtet.“ Während Orbán immer wieder mit fliegenden Fahnen die verfassungsändernde Mehrheit gewinnt, absolviert Kaczyński jetzt Versammlungen überall im Lande, auf denen er verkündet, die Wahlen von 2023 seien die wichtigsten seit 1989, also seit dem Fall des Staatssozialismus.

Dem können wir nur beipflichten, denn der Einsatz ist hoch, schließlich geht es geradewegs um einen Zusammenprall der Kulturen. Vor unseren Augen spielen sich nämlich Vorgänge ab, über deren Bedeutung wir uns vielleicht noch nicht ganz im Klaren und die auch noch nicht wissenschaftlich erforscht sind. Wir haben es mit einer neuen Polarisierung zu tun, die sich nicht entlang der altbekannten Achse von links nach rechts beschreiben lässt.

An die Stelle der traditionellen Zweipoligkeit sind völlig andere Trennlinien getreten. Diese verlaufen großteils auf einer vertikalen Achse von oben nach unten (Hauptstadt versus Provinz, Gebildete versus weniger Gebildete, reich versus arm), aber es gibt auch eine axiologische und eine ideologische Polarisierung: Föderalisten gegen Nationale; Marktliberale gegen Etatisten; Anhänger der offenen Gesellschaft gegen Nationalisten; zur Aufnahme von Flüchtlingen bereite Demokraten gegen Xenophobe, die alles ablehnen, was sie als „fremd“ wahrnehmen.

Diese Polarisierung ist in der gesamten EU unübersehbar, aber besonders deutlich tritt sie in Mittel‑ und Osteuropa in Erscheinung, selbstverständlich auch in Ungarn und Polen. Sie scheint sich auf eine einzige übergeordnete Alternative zuzuspitzen: Entweder Demokratie oder Nation. Dazu tritt noch eine weitere merkliche Veränderung: Anstelle des alten Leitslogans „The economy, stupid“ dominiert jetzt „die Sicherheit, Dummkopf“. Diese hat viele Dimensionen: Zum einen geht es um die Angst vor dem Krieg in der Nachbarschaft, die Orbán für seinen jüngsten Wahlsieg instrumentalisiert hat, zum andern um die Angst vor dem Migranten, dem (islamistischen) Terroristen, dem Verlust von Arbeit, Heizstoffen, Energiequellen usw. An die Seite des klassischen Verständnisses von Sicherheit ist die Energie‑, Klima‑ und Rohstoffsicherheit getreten, und auch Technologie‑ und Informationssicherheit spielen eine immer größere Rolle.

Diese neuen Herausforderungen und Trennlinien sorgen dafür, dass selbst dem Anschein nach programmatisch sich so nahestehende Regime wie die in Polen und Ungarn auch in Zukunft nicht miteinander übereinstimmen werden. Denn während sie das nationale und das nationalistische Lied anstimmen, haben sie sich der eigenen Geschichte und den Realitäten ihrer längs der neuen Trennlinien gespaltenen Gesellschaften zu stellen.

In Ungarn gibt es neben der traditionellen, geradezu kulturellen Spaltung in ein liberales Budapest und eine traditionsverhaftete Provinz, anders gesagt neben der Spaltung zwischen der urbanen und der Landbevölkerung, völlig neue Lager: die Anhänger der regierenden Fidesz-Partei, die liberale Opposition in der Hauptstadt, die allgegenwärtige Masse der politisch Apathischen („die anderen stahlen, diese stehlen – nichts ändert sich,“ sagt der Mann auf der Straße), oder das Lager der umfangreichen magyarischen Diaspora, die Viktor Orbán anempfiehlt, sich zum „Vater der Nation“ zu stilisieren, nicht des Staates. Denn ersterer Begriff ist umfassender: Die Nation ist dort, wo Magyaren leben, nicht innerhalb der von fremden Mächten gezogenen Landesgrenzen.

Polen ist definitionsgemäß anders, denn neben Warschau gibt es weitere urbane und akademische Zentren wie Krakau, Posen, Breslau, Danzig, selbst noch Thorn und Lublin. Der Gegensatz zwischen Zentrum und Provinz gestaltet sich in Polen völlig anders als in dem vom übermächtigen Budapest dominierten Ungarn. Dazu ist noch die jüngere Geschichte in Rechnung zu stellen: in Polen die Irredenta, denn zuerst gab es die Teilungen, dann die von außen aufgezwungenen faschistischen und kommunistischen Regime; dagegen gab es in Ungarn stets die großen Führer: Franz Joseph, Admiral und „Reichsverweser“ Miklós Horthy, János Kádár. Ohne sich dazu offen zu bekennen, bezieht sich Viktor Orbán auf genau diese Führergestalten, denen er in seinem autokratischen Gebaren gleichzukommen sucht.

Mit welchem Erfolg? Orbán regiert mit harter Hand und Dekreten, Kaczyński nach dem Motto „teile und herrsche“, doch scheint im polnischen Fall nunmehr ein anderes Prinzip zu greifen: Der Kampf aller gegen alle, angefangen bei der Regierung. In Ungarn steht es weiter bestens um das illiberale System, auch wenn es mit schweren Wirtschaftsproblemen zu tun hat, während das polnische in seinen Grundfesten erschüttert ist und der aktuellen, leider in sich gespaltenen Opposition zu einer wirklichen Chance verhilft. Die Zukunft wird erweisen, ob die Opposition im Herbst 2023 an die Regierung kommt. Es besteht die Chance, aber sie will auch genutzt werden. Wie auch immer – ein Budapest in Warschau wird es nicht geben.

 

Aus dem Polnischen von Andreas R. Hofmann

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Bogdan Góralczyk

Bogdan Góralczyk

Professor Bogdan Góralczyk ist Politologe, Sinologe, ehemaliger polnischer Botschafter und ehemaliger Direktor des Europäischen Zentrums an der Universität Warschau.

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